Der Wunschpunsch von Lumen

Dec 10, 2008 22:05


10. Dezember

Titel: Der Wunschpunsch

Teil: 1/1

Autor: Lumen

Email: lumen_donas@yahoo.de

Genre: Reale Welt

Bewertung: ab 14

Warnung: wahrscheinlich Melancholie

Inhalt: Thomas lernt einen Jungen kenne, der sein Leben umkrempelt und ein besonderes Weihnachten beschert

Kommentar: Die Geschichte ist sozusagen eine Art Vorspann, und als Insider zu verstehen. Die Auflösung worauf ich anspiele, gibt es sozusagen erst nächstes Jahr. Es ist wahrscheinlich auch nicht die Geschichte, die man erwartet, aber ich hoffe sie sagt trotzdem zu. - Fröhliche Weihnachten ^_^

Pünktlich um sieben Uhr saß Thomas hinter seinem Schreibtisch im Büro und sah sich auch gleich, zum Montagmorgen, einer schier unlösbaren Aufgabe gegenüber.

Er hob mürrisch den Blick und Heike grinste ihn schadenfroh an. Seine Kollegin spielte mit ihrem Kugelschreiber und warf einen Blick auf die Wurzel allen Übels.

„Jedes Jahr das gleiche“, brummte Thomas missmutig.

Damit entlockte er Heike abermals ein breites Grinsen. „Für meinen Lieblingskollegen tue ich das gern“, schmunzelte sie, was Thomas mit einem leisen Grunzen quittierte.

Abermals filzte er akribisch den Adventskalender nach der Nummer eins. Warum war jemand auf die blöde Idee gekommen, die Zahlen durcheinander auf dem Kalender anzuordnen. Man wusste doch, dass Männer die Butter im Kühlschrank nicht fanden. Selbst, wenn er leer war und die Butter direkt vor der Nase stand.

Warum also erfand niemand einen Adventskalender an dem die Zahlen, so wie es ja sein sollte, der Reihe nach angeordnet waren?

Zum dritten Mal suchte er verzweifelt nach dieser verdammten Eins und fand sie schließlich, in der oberen rechten Ecke.

Im Grunde stand ihm jetzt das schwierigste bevor. Er musste das Türchen nicht nur öffnen, sondern die Schokolade auch herausbekommen. Anbetracht seiner dicken Finger und nicht vorhandenen Fingernägel eine schier unlösbare Aufgabe.

Heike stützte ihr Kinn in eine Hand und amüsierte sich über dieses herrliche Schauspiel. Darauf freute sie sich jedes Jahr.

„Guten Morgen“, begrüßte Ingrid die beiden. Mit einem skeptischen Blick legte sie Thomas seine Akten auf den Schreibtisch. Mit der Ecke seines Lineals versuchte er gerade, die perforierte Linie zu durchbrechen und das Türchen schlicht aufzuhebeln.

Irritiert sah sie zu Heike, die grinsend die Schultern zuckte. „Er wird von Jahr zu Jahr erfindungsreicher“, kommentierte sie diesen Versuch und griff nach ihren Akten.

„Ich hatte gerade einen Anruf von der Polizei“, begann Ingrid und hatte nun auch Thomas' Aufmerksamkeit, der gerade freudestrahlend das Türchen unbeschädigt hatte öffnen können. „Und?“, fragte er nach. Wie er jetzt die Schokolade heraus bekam, stand immer noch in den Sternen.

„Sie haben einen etwa elfjährigen Jungen im Park aufgelesen. Anscheinend hat er dort auf einer Parkbank übernachtet. Aber er will nicht verraten wo er wohnt.“

Thomas seufzte tief. „Ich kümmere mich drum.“

Mit einem leidvollen Blick stellte er den Adventskalender an seinen Platz und erhob sich. Während er den dicken grauen Schal um seinen Hals wand, teilte ihm Ingrid noch die Nummer des Reviers mit.

Murrend stand Thomas vor seinem erneut eingeschneiten Wagen. Mit einem Handbesen kehrte er den frischen Schnee von seinem Auto und stieg ein. Die Heizung war noch immer auf Anschlag gedreht und mit hochgezogenen Schultern startete Thomas den Motor.

Langsam rollte er über die Straßen, die ein überforderter Winterdienst noch nicht freigeräumt hatte. Der Schnee knirschte unter den Reifen, während er sich im Schneckentempo in der Dämmerung durch die halbe Stadt quälte.

Als er vor dem Revier zum Stehen kam, waren zumindest das Innere des Wagens und seine Füße aufgeheizt. Denn eine freie Parklücke suchte Thomas vergebens.

Eigentlich war er froh gewesen, halbwegs gut durch den Montagmorgenverkehr mit frischem Schneefall gekommen zu sein, und eine Parkmöglichkeit gefunden zu haben, die er nicht selbst frei schaufeln musste.

Diese wunderbare Lücke, direkt vorm Eingang seines Dienstgebäudes würde nachher mit Sicherheit nicht mehr vorhanden sein.

Zwei Straßen weiter fand Thomas schließlich eine Möglichkeit seinen Wagen abzustellen. Umsichtig deckte er diesmal seine Windschutzscheibe mit der Schutzmatte ab und stieg über den kniehohen Schneewall am Rande des Fußweges. Wenigstens waren einige Hausbesitzer aufmerksam genug. Und sei es nur um sich vor einer Anzeige zu schützen, da sich jemand vor ihrem Haus den Knöchel gebrochen hatte.

Auf halbem Wege bemerkte Thomas, das seine Winterstiefel undicht waren. Denn es war nicht nur Kälte die in seine Zehen biss, sondern auch Nässe.

„Na klasse“, brummte er missmutig und klopfte sich auf der Treppe den Schnee von den Schuhen, bevor er das Revier betrat.

Wohlige Wärme empfing ihn und ein paar geschmolzene Schneeflocken stürzten sich von seinen Haarspitzen über seinen geraden Nasenrücken in die Tiefe. Thomas klopfte sich den Schnee von den Schultern, zog die Handschuhe aus und wandte sich an den älteren untersetzten Herrn in grün hinter dem Tresen.

„Guten Morgen. Brenner, mein Name. Ich bin vom Jugendamt. Jemand hat meine Kollegin angerufen, wegen des Jungen“, ratterte er sein Anliegen herunter.

„Sie sind aber schnell“, bemerkte der Mann und Thomas war sich sicher, einen sarkastischen Unterton herausgehört zu haben. Der Wachtmeister schob seine Brille zurecht und streckte den Arm aus. „Den Gang runter, letzte Tür links. Man erwartet sie schon.“

Thomas nickte dankend. Der hatte bestimmt auch einen Adventskalender erhalten, und bekam ihn mit seinen Wurstfingern aber nicht auf.

Im Gehen überflog er die einzelnen Türschilder und klopfte schließlich an besagte Tür. Ihm öffnete eine dunkelhaarige Polizistin, die ihn mit Adleraugen musterte.

„Brenner“, stellte er sich abermals vor. „Jugendamt.“ Nach einem Griff in die Innentasche seiner Jacke, hielt er ihr den Ausweis unter die Nase und schob sich einfach an ihr vorbei.

Auf einem hart aussehenden Plastikstuhl saß eine zusammengesunkene Gestalt, abwehrend die Arme verschränkt und den Schirm seiner Baseballmütze tief ins Gesicht gezogen.

Thomas streckte die Hand aus, als er vor ihm stand. „Hi, ich bin Thomas.“ Doch er bekam weder eine Antwort, noch wurde seine Geste erwiderte.

Stattdessen machte der Junge seine Abneigung noch deutlicher und wandte den Kopf zur Seite.

Thomas gab sich unbeeindruckt. Er zog sich einen Stuhl heran und ließ sich darauf nieder.

„Bescheidenes Wetter draußen“, begann er. „Nicht gerade ideal für einen winterlichen Spaziergang. Ich für meinen Teil wäre jetzt lieber zu hause und würde einen Tee trinken. Na gut, einen Grog“, gab er dann zu. „Und dazu ein paar Lebkuchen, oder auch Spekulatius.“

„Mann, was labern sie hier eigentlich für eine Scheiße!“ Sein Gegenüber hob den Kopf und sah Thomas kampflustig an.

Dieser lächelte nur und streckte abermals die Hand aus. „Ich bin Thomas“, stellte er sich erneut vor.

„Sie wiederholen sich“, murrte der Junge und zog seine Arme noch fester um sich.

„Und du bist?“, fragte er gutmütig nach, behielt sein Lächeln bei.

Als er erneut keine Antwort bekam, holte Thomas hörbar Luft. „Es gibt zwei Möglichkeiten.“ Er nahm eine Tictac Schachtel aus seiner Hosentasche und schob sich eines der kleinen Bonbons in den Mund. „Du sagst mir deinen Namen und ich lasse mich breitschlagen, dich zum Frühstück einzuladen. Oder du bleibst stur und sitzt solange hier, bis die Straßen wieder frei sind und du kommst ins Heim.“

Thomas bot ihm ein Bonbon an und wartete.

Der Junge zögerte, doch dann lockerte sich seine verspannte Haltung und er griff nach den Tictacs. „Tobi“, murmelte er ganz leise.

Thomas wandte sich an die Polizistin. „Ich nehme ihn mit. Haben sie den Papierkram schon fertig?“

„Liegt an der Anmeldung“, antwortete sie überrascht. Seit einigen Stunden versuchten sie den Jungen zum reden zu bringen, und dann kam dieser Typ mit einem zwei Kalorien Dragee.

Thomas räumte mit dem Ärmel den Schnee vom Autodach und öffnete Tobi die Tür. Schweigend stieg der Junge ein und machte sich wieder so klein, wie nur möglich.

„Ich lasse mich aber nicht mit einem billigen Mc Donalds Frühstück abspeisen“, stellte Tobi klar und entlockte Thomas ein Grinsen. „Schon klar.“

Inzwischen hatte sich tatsächlich auf den Hauptstraßen etwas getan, und der Asphalt schimmerte durch die bereits wieder frische Schneedecke hindurch.

Thomas stellte das Radio an und suchte nach einem geeigneten Sender. Als er schließlich einen ohne Störungen empfing, schnaufte Tobi neben ihm.

„Was ist?“, fragte Thomas nach einem kurzen Blick.

„Müssen wir uns diesen Popmüll anhören?“, maulte sein Beifahrer.

„Nicht unbedingt. Schau doch mal ins Handschuhfach. Vielleicht ist da etwas nach deinem Geschmack.“

Tobi entfaltete sich etwas und beugte sich neugierig nach vorn. Er wühlte sich durch mehreren Cd-Hüllen, die entweder leer oder doppelt oder gleich falsch belegt waren.

„Ordnung ist auch nicht gerade ihre Stärke, was?“

Thomas grinste wieder. „Du willst gar nicht wissen wie mein Kofferraum aussieht.“

Tobi warf ihm einen argwöhnischen Blick zu, doch widmete sich dann wieder der Suche nach annehmbarer Musik.

„Und? Wirst du fündig?“, erkundigte Thomas sich nach einer Weile.

„Na ja, Musikgeschmack ist ja auch an ihnen vorübergezogen“, teilte er seine Meinung mit, bis er inne hielt. „Das hätte ich nicht gedacht“, gab er begeistert zu und schob die uralte Platte von den Smashing Pumpkins in den Player.

„Ja, da warst du noch Quark im Schaufenster“, meinte Thomas. „Die habe ich früher im Internat häufig gehört.“

„Sie waren im Internat?“, fragte Tobi interessiert nach.

„War die schönste Zeit in meinem Leben.“ Thomas sah nachdenklich auf die Straße, als er an einer roten Ampel hielt und in den ersten Gang schaltete.

„Sieht aber nicht so aus.“ Tobi musterte Thomas recht intensiv. Der schüttelte nur den Kopf und grinste. „Ich habe nur damals, nach dem Abschluss einen guten Freund aus den Augen verloren.“

Tobi zog zweifelnd die Stirn in Falten und glaubte ihm nicht wirklich, aber er fragte nicht weiter nach. „Wo fahren wir hin?“

„Dahin, wo es die beste heiße Schokolade und leckersten Croissants der ganzen Welt gibt“, antwortete Thomas und hielt schließlich vor einer Bäckerei mit kleinem Café.

Nachdem sie Platz genommen und er Tobi wohlweislich den Platz an der Heizung freigelassen hatte, bestellte Thomas ein großes Frühstück.

Er schälte sich aus seiner Jacke und sah Tobi auffordernd an. Unter der dicken Jacke, kam ein schmächtiges Kerlchen in einem viel zu großen Pullover zum Vorschein. „Die Mütze auch“, forderte Thomas mit einem Fingerzeig. Nach einem kurzen Moment des Widerstands zog Tobi die Baseballkappe vom Kopf und wuschelte mit einer Hand durch die strohblonden Haare. Etwas trotzig blickten Thomas zwei giftgrüne Augen an.

Nachdem Tobi seinen Teller fast halb verhungert zum Teil vernichtet hatte, nahm Thomas noch einen Schluck von seinem Kaffee, bevor er dazu überging seinem Job nachzugehen.

„Willst du mir jetzt erzählen, was du im Park gesucht hast?“

Tobi sah auf und kaute bedächtig auf seinem Brötchen herum, um sich einer Antwort vorerst zu entziehen. „Hatte Streit mit meinem Vater“, meinte er dann kurz.

„Und deswegen rennst du von zu Haue weg und erfrierst lieber auf einer Parkbank?“

Tobi zuckte nur die Schulter und widmete sich weiter seinem Essen.

Thomas hatte inzwischen genug Erfahrung, sich allein am Verhalten von Tobi die Antwort selbst denken zu können. Doch ohne die Mitarbeit des Jungen, konnte er nichts tun.

„Ich bring dich noch nach Hause“, legte er fest. Tobi schluckte den letzten Bissen, als wäre er aus Stein. „Das ist nicht nötig. Ich gehe dann nach Hause, versprochen.“

Thomas legte den Kopf leicht schief. „Und du denkst wirklich, ich kaufe dir das ab. Außerdem muss ich dich nach Hause bringen, sonst droht dir noch eine Strafe wegen Schule schwänzen.“

Tobi seufzte tief und nickte schließlich ergeben. Aufgewärmt und mit vollem Magen war er besänftigt und wollte nicht mehr rebellieren. Er fügte sich in sein Schicksal. Im Moment konnte er sowieso nichts machen.

Thomas nahm eine Visitenkarte aus seiner Geldbörse, drehte sie um und schrieb eine Nummer auf die Rückseite. „Ruf mich an, wenn du reden willst“, bot er ihm schlicht an, während er ihm die Karte reichte.

Einen Moment lang zögerte der Junge, doch dann nahm er sie und verstaute sie in der Arschtasche seiner Hose.

Gedankenverloren starrte Thomas auf den Monitor und trommelte mit dem Ende seines Kugelschreibers einen unruhigen Takt auf seinen Schreibtisch. Erst die Hand auf seiner Schulter rief ihn in die Gegenwart zurück.

„Hm?“, fragend sah er auf.

Heike hatte ihre Stirn in Falten gelegt. „Alles okay? Ich rede seit fünf Minuten mit dir und bekomme keine Antwort“, beschwerte sie sich besorgt.

Thomas fuhr sich mit einer Hand durch das braune Haar. „Ja, alles in Ordnung. Ich hab nur gerade nachgedacht.“ Er wandte sich ihr mit dem Stuhl zu und demonstrierte damit seine volle Aufmerksamkeit.

Misstrauisch ließ Heike das damit auf sich beruhen. „Ich wollte wissen, ob wir zusammen Mittag essen gehen“, fragte sie abermals und bekam ein zustimmendes Nicken. „Sicher.“ Thomas versuchte sich an einem freundlichen Lächeln und drehte sich wieder um. Die offene Akte auf seinem Schreibtisch schrie nach Bearbeitung.

Er wurde dieses nagende Gefühl einfach nicht los.

Seit Tagen ließ ihn der Junge in seinen Gedanken nicht mehr in Ruhe. Als er ihn zu Hause abgesetzt hatte, war sein Vater da gewesen. Er hatte aufgelöst gewirkt und entgegen Thomas’ Vermutung war er nicht wütend gewesen, sondern hatte erleichtert seinen Jungen in die Arme geschlossen.

Tobi hingegen hatte das mehr oder minder, wie eine lästige Untersuchung über sich ergehen lassen.

Thomas wurde nicht wirklich schlau aus dieser Situation. Deswegen hatte er ein wenig nachgeforscht, und nicht sehr viel gefunden.

Der Vater war ein durchschnittlicher Arbeiter, der im Einzelhandel tätig war. Tobi war sein einziges Kind. Die Mutter war nach der Scheidung verschwunden und hatte beide zurückgelassen. Niemand wusste wo sie war und anscheinend wollte sie auch keinen Kontakt zu ihrem Sohn.

Die Nachbarn konnten nichts auffälliges über die kleine Familie sagen, und auch Tobi war eher unscheinbar.

Nichts, aber auch gar nichts deutete daraufhin, dass etwas falsch lief. Tobi stand an der Schwelle der Pubertät, wenn er sie nicht gar schon längst überschritten hatte und mutierte zu einem unberechenbaren Teenager, mit überschäumenden Temperament und aus dem Ufer laufenden Hormonen.

Im Grunde lief es auf eine normale Trotzreaktion eines Jugendlichen hinaus, der nach einem Streit abgehauen war.

Und trotzdem. Irgendetwas nagte an Thomas und ließ ihn an dieser scheinheiligen Fassade zweifeln. Er hoffte zwar, dass sich seine Befürchtungen nicht bestätigten, doch andererseits wünschte er sich, dass Tobi sich bei ihm meldete, wenn doch nicht alles so toll war, wie es nach außen schien.

Kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gedacht, klingelte sein Diensttelefon und nach dem ersten schrillen Läuten nahm er den Hörer ab.

„Brenner“, meldete er sich und sein Magen krampfte sich in einer dunklen Vorahnung zusammen.

„Ich hab gerade einen Anruf von der Diesterwegschule bekommen. Anscheinend ist die Schulschwester der Meinung, du solltest dir einen Schüler mal ansahen.“

Thomas runzelte die Brauen. „Und warum ausgerechnet ich?“

„Anscheinend ist dein Name gefallen, denn es wurde ausdrücklich nach dir verlangt.“

Thomas war schon halb aufgestanden, über den Tisch gebeugt und hauchte noch ein ‚Bin unterwegs’ in den Hörer, bevor er aufgelegte und im selben Atemzug seine Jacke überstreifte.

Tobi saß auf der Liege im Krankenzimmer und baumelte gelangweilt mit den Beinen. Die kleine Schramme über dem Auge zwickte noch ein wenig von der Desinfektion, aber mehr war bei dem Sportunfall nicht passiert.

Fußbälle waren hart und Schuhe noch härter. Auch wenn er sich schon denken konnte, dass Armin der Fuß nicht nur aus Versehen ausgerutscht war.

Thomas hastete durch die lange Gänge der Mittelschule, begleitet vom Geruch nach Weihrauch und dem Klang von lärmenden Grundschulkindern auf dem Pausenhof. Nach zweimaligem Fragen, fand er die Krankenstation und die Schwester mit dem ergrauten Haar, das zu einem Dutt hochgesteckt worden war. Sie stellte sich als Magda vor.

Thomas schüttelte ihre Hand und reckte den Hals um nach dem Schüler zu sehen, auf den er einen Blick werfen sollte.

„Er hat nur eine Platzwunde an der Stirn, vom Sportunterricht“, klärte Magda ihn auf und Thomas betrachtete sie irritiert. „Aber deswegen rufen sie doch das Jugendamt nicht an, oder?“

Magda schüttelte den Kopf und senkte ihre Stimme noch etwas. „Bei der Untersuchung sind mir einige blaue Flecken an seinem Oberkörper aufgefallen. Ältere und ziemlich frische.“

Thomas nickte langsam. „Verstehe. Und warum haben sie ausdrücklich mich verlangt?“, wollte er noch wissen.

„Ich habe von seinem Ausflug Anfang Dezember gehört, und dachte es wäre vielleicht besser, wenn er jemanden sieht, den er schon kennt.“ Thomas’ Magen krampfte sich zusammen.

Er verdammte seine Intuition. Dass er auch immer Recht haben musste.

Tobi sah überrascht aus, als er Thomas wieder erkannte. „Verfolgen sie mich?“, scherzte er auch gleich.

„Anscheinend laufen wir uns ja häufiger über den Weg.“ Thomas zog sich den Stuhl heran und ließ sich verkehrt darauf nieder. Er suchte den Blick der grünen Augen und legte seine Hände auf die Rücklehne des Stuhls.

„Damit ich etwas tun kann, brauche ich deine Hilfe“, fiel Thomas auch gleich mit der Tür ins Haus.

Tobis Gesicht verschloss sich sofort. „Ich brauch keine Hilfe. Die alte Vettel ist nur wieder hysterisch!“

„Na gut. Dann kannst du mir sicher auch sagen, woher diese Blutergüsse stammen.“ Thomas sah ihn auffordernd an.

Tobi schwieg und betrachtete seine Fußspitzen.

Ein leises Seufzen schlüpfte über Thomas’ Lippen. „Es ist nicht richtig und auf keinen Fall ist es deine Schuld. Und ich kann dir wirklich helfen Tobi. Aber dafür musst du dich mir anvertrauen!“, bat er ihn abermals eindringlich. „Du musst nicht ins Heim. Ich könnte auch versuchen, dich in einer Wohngruppe unterzubringen.“

Tobi schnaufte abfällig. „Wieso gehen sie mir so auf den Zeiger? Ich brauche ihre Hilfe nicht, okay!“

„Ich muss trotzdem mit deinem Vater sprechen“, ließ Thomas sich nicht abschütteln und das alarmierte Gesicht sprach Bände.

Wenn er schon wieder mit einem Mitarbeiter des Jugendamtes vor der Tür stand, würden die blauen Flecken das geringste Problem sein.

Thomas erhob sich und streckte Tobi die Hand hin. „Na komm. Ich denke, wir haben noch etwas Zeit bevor ich dich nach Hause bringen muss.“

Warum auch immer, aber Tobi vertraute diesem Mann. Er hatte etwas sehr sympathisches an sich und er war fast versucht ihm zu glauben. Aber er sollte diese Chance nutzen, ihm das mit dem Gespräch mit seinem Vater noch einmal auszureden.

„Was wollen wir hier?“, fragte Tobi sichtlich irritiert, als sie am Eingang des Weihnachtsmarktes standen.

Thomas rieb sich den Nasenrücken. „Na ja, es ist nach Mittag und ich hab noch nichts gegessen“, teilte er ihm mit und reckte sich noch ein wenig in die Luft. Tief sog er den Geruch nach Bratwurst und Waffeln ein. „Also ich habe Hunger!“

Thomas schob Tobi vorwärts, der ihm hinterher stolperte und merkte, das auch sein Magen begann, sich zu regen.

Trotzdem es unter der Woche war, herrschte bereits reges Treiben auf dem Markt und um die Buden herum. Thomas dachte an einen heißen Grog oder einen Glühwein.

Aber er musste fahren und war schließlich im Dienst. Blieb wohl nur der Kinderpunsch übrig.

Als er nach Tobi sah, bemerkte er das der Junge stehen geblieben war und mit leuchtenden Augen vor dem Stand mit den Quarkkrapfen angehalten hatte.

Er trat hinter ihn und filzte das Angebot. Mit einem Schokoapfel und einer Tüte frisch frittierte Quarkbällchen liefen sie weiter. Thomas brauchte erst einmal etwas herzhaftes, bevor er sich dem Zucker widmen konnte,

An einem Glühweinstand fanden sie schließlich ein überdachtes Plätzchen das mit Heizstrahlern gewärmt wurde und Thomas kaufte ihnen zwei Tassen Kinderpunsch. Hatte etwas von Glühwein, aber war ohne Alkohol und damit ungefährlich für sie beide.

Thomas wärmte sich aufseufzend die Finger an der heißen Tasse und betrachtete Tobi, der noch ein paar Zuckerkrümel an den Mundwinkeln hängen hatte.

Schmunzelnd deutete er nur mit dem Finger darauf und Tobi versuchte sich die süßen Brösel mit der Zunge zu angeln.

„Nicht mehr lange und es ist Weihnachten“, begann Thomas schließlich ein Gespräch. Tobi nippte an seinem Getränk und sah ihn dann an. „Haben sie denn schon Geschenke für ihre Kinder?“

Thomas schüttelte den Kopf. „Ich habe keine. Ich verbringe Weihnachten wie jedes Jahr allein und im Bereitschaftsdienst.“

„Keine Frau? Nicht mal ne Freundin?“, fragte Tobi entsetzt. „So hässlich sind sie doch gar nicht.“

Thomas musste lachen. „Danke für das Kompliment, aber nein. Nichts dergleichen.“

„Und warum nicht?“

„Bisher nichts passendes dabei gewesen.“ Thomas zuckte unbeteiligt die Schultern. Er musste dem kleinen Naseweiß ja nicht alles erzählen, und dass er im Grunde auch gar kein Beziehungstyp war, gleich gar nicht.

„Ist das nicht doof? So an Weihnachten, allein rumzusitzen?“

„Man gewöhnt sich daran“, antwortete Thomas schlicht und trank einen weiteren Schluck von seinem Punsch. „Und was ist mit dir? Freust du dich auf Weihnachten? Geschenke und viel zu viel zum Essen?“

Tobi sank ein wenig in sich zusammen und studierte eingehend das Bild auf seinem Becher. „Seit meine Mutter fort ist, ist es nicht mehr dasselbe“, murmelte er. „Früher hatten wir einen Tannenbaum und Lichter in den Fenstern. Heute gehen wir am ersten Weihnachtsfeiertag meine Tante besuchen und das war‘s.“

„Was würdest du dir denn wünschen?“, fragte Thomas nach einem Moment des Schweigens.

„Dass ich wieder ein richtiges zu Hause habe.“ Tobi fuhr sich mit dem Ärmel über die Nase und versteckte sich dann hinter seiner Tasse.

Thomas ließ ihn in Ruhe und blieb sitzen, bis Tobi mit dem Pfandgeld für die Glühweinbecher wieder da war. Auf dem Rückweg prallte er mit einem Mann zusammen, der ihn auffing und vor einem Sturz bewahrte.

„Nichts passiert?“, fragte er mit einem Lächeln und die schwarzen Haare hingen ihm strähnig in die Stirn.Der Schnee, der seid geraumer Zeit wieder fiel, hatte sie durchweicht.

„Alles okay“, nuschelte Tobi und zog seine Jacke wieder zurecht. „Tut mir leid“, meinte er noch und verschwand. Thomas wartete bereits auf ihn und führte ihn dann zu seinem Wagen.

„Ich bringe dich nach Hause“, teilte er Tobi mit, der gleich wieder zusammenschrumpfte.

Innerhalb der letzten halbe Stunde war es zappenduster geworden und Thomas stellte die Scheinwerfer an seinem Wagen ab.

Tobi schien nicht vorzuhaben auszusteigen. Stattdessen sank er immer tiefer in den Beifahrersitz, als wolle er damit verschmelzen.

Ein leises Seufzen entwich Thomas und er hob die Hand, um Tobi durch das weiche blonde Haar zu streichen. „Das Angebot steht immer noch“, informierte er ihn leise.

„Wenn ich… Wenn ich nicht mehr nach hause will, stecken sie mich ins Heim, oder in so eine blöde Wohngruppe.“

Thomas nickte. „Das ist gar nicht so übel wie es sich immer anhört. Ich würde alles versuchen und dir eine Wohngruppe versorgen. Oder vielleicht sogar Pflegeeltern. Ich kenne einige sehr nette Leute, die sich freuen würden dich kennen zu lernen.“

„Und dann?“, fragte Tobi leise. Er zog den Kopf ein und sah zu, wie der freigeschaufelte Gehweg erneut von dicken bauschigen Schneeflocken in Beschlag genommen wurde. „Kann ich trotzdem die Schule weitermachen?“

„Natürlich!“ Thomas schüttelte leicht den Kopf, über die Frage. „Du kannst eine Ausbildung machen, oder studieren. Dir steht alles offen Tobi.“

Ohne noch etwas zu sagen, schnallte der Junge sich ab und stieg aus. Thomas wusste nicht Recht, was er von dieser Reaktion halten sollte, doch folgte ihm eiligst. Das drückende Gefühl in seinem Magen stammte nicht von der vorherigen genossenen Bratwurst.

Als Gernot Wagner die Tür öffnete, durchlief sein Gesicht innerhalb weniger Sekunden eine Wandlung. Thomas war aufmerksam genug, die Wut hinter der aufgesetzten gleich bleibenden freundlichen Miene zu erkennen.

„Guten Abend, Herr Wagner“, grüßte er ihn lächelnd und legte Tobi beruhigend die Hand auf den Rücken und schob ihn durch die Tür. „Ich darf doch reinkommen.“ Ohne auf eine weitere Reaktion zu warten schob Thomas den Jungen hindurch ins Wohnzimmer und wandte sich wartend um.

„Herr Brenner“, meinte Gernot sichtlich beherrscht. „Was führt sie denn zu uns. Schon wieder.“ Sein Blick legte sich auf Tobi der sich spürbar verspannte.

„Ich habe mich heute mit der Schulschwester unterhalten. Wie sie sehen, hat sich Tobi heute im Sportunterricht verletzt und dabei wurde festgestellt, dass er auffällig viele Blutergüsse am Oberkörper aufweist.“ Thomas blieb ruhig und sah Gernot Wagner fest in die Augen. Er sah dort, das etwas dunkles durch die stahlgrauen Augen schwamm.

„Wenn sie damit andeuten wollen, das ich meinem Sohn etwas antue, dann sind sie schief gewickelt. Er wird sich sicher beim Sport verletzt haben, oder beim Skateboard fahren. Nicht wahr, Tobi?“ Der drohende Unterton in der Stimme veranlasste den Jungen zum sofortigen zustimmenden Nicken.

„Sie werden sicher verstehen, dass ich ihn dennoch ärztlich untersuchen lasse. Nur um sicher zu gehen, natürlich.“

„Was fällt ihnen eigentlich ein. Sie kommen in meine Wohnung und behaupten ich würde meinen Sohn schlagen!“, ereiferte sich Gernot, der in langsamer Panik seine Felle davon schwimmen sah.

„Wenn sie nichts zu verbergen haben, Herr Wagner, verstehe ich ihre überschäumende Reaktion nicht“, gab Thomas seelenruhig zurück.

„Verschwinden sie aus meiner Wohnung! Ich werde mich über sie beschweren!“, donnerte die tiefe Stimme durch die Wohnung und Tobi zuckte erschrocken zurück.

Thomas nickte zustimmend. „Tun sie das, Herr Wagner. Meine Vorgesetzten werden mit Interesse ihre Bekanntschaft machen“, versicherte er ihm, bevor er sich erneut Tobi zuwandte.

„Du musst nicht hier bleiben“, teilte er ihm abermals mit.

Doch der Junge antwortete erneut nicht, war zu unsicher und verschreckt. Thomas sträubte sich dagegen, ihn jetzt einfach hier zu lassen. Aber was sollte er tun. Ihm waren die Hände gebunden. Auch wenn er berechtigte Zweifel hatte, konnte er Gernot Wagner nicht den Sohn entführen. Er hoffte noch immer auf eine Reaktion des Jungen, die ihn endlich Handlungsfreiheit gab.

Nach einem weiteren Blick auf den Hausherrn musste Thomas gehen. Der ältere Mann hielt sich mühsam zurück nicht selbst Hand anzulegen um ihn aus der Wohnung zu schmeißen.

Mit einem letzten Blick auf Tobi verabschiedete er sich dennoch höflich.

Schwerfällig, wie mit Blei beschwert, lief Thomas die Treppe hinunter. Vor dem Hauseingang blieb er noch einmal stehen und sah zum Fenster hinauf.

Ein ungutes Gefühl bemächtigte sich seiner. Aber wie sollte er seinen Chef davon überzeugen, dass ein paar Indizien und sein Gefühl ihn dazu berechtigten den Jungen dort herauszuholen. Ihm waren schlicht die Hände gebunden. Leider war die Leitlinie: Erst eingreifen, wenn etwas passiert ist. In diesem Falle hoffte er, dass es nicht dazu führte Tobi im Krankenhaus wieder zu begegnen.

Am liebsten würde er auf Verdacht die Polizei rufen, denn er war sich sicher, das Gernot Wagner nicht nur dabei bleiben würde, seinen Sohn anzuschreien.

Gern hätte er Tobi seinen Weihnachtswunsch erfüllt.

Auf seiner Nasenspitze schmolz eine Schneeflocke und eine weitere landete auf seinen Wimpern. Er blinzelte sie weg und kramte nach dem Autoschlüssel in seiner Jackentasche.

Hinter sich erklangen hektische Schritte im Schnee, und als sich Thomas umdrehte um nach zu sehen, wurde er fast umgeworfen. Nur mühsam konnte er sich auf den Beinen halten und blickte auf den Knaben der sich an seine Taille klammerte.

„Tobi?“, fragte er ungläubig.

„Kann ich nicht bei ihnen wohnen? Muss ich in so eine blöde Wohngruppe?“, fragte er nach und seine grünen Augen schimmerten feucht.

Thomas konnte sich ein erleichtertes Seufzen nicht verkneifen, und lächelte schief. „Na ja, für heute wirst du wohl mit meiner Couch zufrieden sein müssen.“

Thomas schob murrend den Einkaufswagen durch die Gänge des Supermarktes. Er war kurz davor seine Ellenbogen einzusetzen und die Leute anzuschreien. Er manövrierte den Korb durch die gedrängte zähe Masse der Leute die in panikartigem Zustand verfallen waren, da die Supermärkte nur bis Mittag geöffnet waren und es zwei ganze Feiertage keine Möglichkeit gab einzukaufen und sich damit vor dem Hungertod zu retten.

„Warum sind wir hier?“, brummte Thomas und warf einen Blick über seine Schulter. Tobi grinste breit und packte drei Schachteln Weihrauchkerzchen in den Einkaufswagen. „Weil deine Wohnung absolut ungeeignet ist Weihnachten zu feiern“, teilte er ihm mit. „Und da du genauso unfähig bist einzukaufen, muss ich das übernehmen, damit wir überhaupt etwas zu essen haben. Und nicht nur Pizza und Tiefkühlbaguette“, belehrte Tobi ihn. „Wird sowieso Zeit, dass du endlich kochen lernst!“

Thomas brummte genervt und schob einfach tapfer den Wagen weiter, während sein Pflegesohn sich geschickt durch die Leute schlängelte um noch Eier und Butter zu holen.

Als Thomas schließlich drei volle Tüten zum Auto schleppte - eine davon enthielt nur Dekoartikel und war laut Tobi von besonderer Wichtigkeit - brachte eben dieser den Einkaufswagen zurück und fuhr dabei fast einem Mann damit in die Hacken, der seinen halben Einkauf fallen liess.

„Tschuldigung“, rief Tobi und half ihm die heruntergefallenen Sachen wieder einzusammeln. Als er ihm das Weihnachtsgesteck reichte, das recht lädiert aussah, setzte er einen geknickten Gesichtsausdruck auf. „Tut mir leid“, murmelte er zerknirscht und betrachtete das Weihnachtsgrün mit den einzelnen Mistelzweigen darin.

„Macht nichts“, erwiderte der Mann nur und Tobi kam er merkwürdig vertraut vor, als habe er ihn schon einmal gesehen. „Behalt es doch“, sagte der Mann nur zu ihm und ging mit seinen Einkaufstüten zu den Parkplätzen.

Tobi blinzelte und ihm fiel ein, woher er ihn kannte. Bereits auf dem Weihnachtsmarkt war er in ihn hineingerannt. Die schwarzen Haare die fransig in die Stirn hingen, und die braunen sanften Augen. Er sah ihm einen Moment nach, dann betrachtete er das Gesteck in seinen Händen.

Misteln waren darin. Mit einem Grinsen lief er zurück zu Thomas. Vielleicht begegnete seinem Pflegevater ja jemand darunter, den er küssen konnte...
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