7. Türchen

Dec 07, 2011 17:14

Challenge: "Die Definition von Wahnsinn ist, immer das gleiche zu tun und ein anderes Ergebnis zu erwarten." (Einstein)
Fandom: Sherlock (BBC)
Autor: Grisu
Kommentar: Prompt wurde möglicherweise leicht abgewandelt in Richtung "Wahnsinn ist, wenn man immer dasselbe spielt und trotzdem eine andere Melodie erwartet."



Wenn John von der Arbeit kommt, weiß er selten, was ihn zuhause erwartet. Ziemlich normal ist eine leere Wohnung mit leerem Kühlschrank und natürlich hat Sherlock es trotz mehrmaliger Aufforderung mal wieder versäumt, den Müll rauszubringen oder einzukaufen. Wenn John Glück hat, kommt dann irgendwann eine SMS, in der Sherlock John zu einem obskuren Ort in London beordert oder ihn auf Nachfrage darüber unterrichtet, dass er (natürlich) noch am Leben ist und vielleicht am Dienstag wieder auftauchen wird.

Die mit Abstand am wenigsten wünschenswerte Situation, die John zuhause erwarten kann, ist Sherlock, der in Schlafanzug und Morgenmantel das Sofa okkupiert und sich mit schwehlendem Hass oder dumpfer Verzweiflung über die unerträgliche Langeweile der Welt ergeht.

Wesentlich besser ist es, wenn Sherlock in Schlafanzug und Morgenmantel das Sofa okkupiert und mit den Kopfhörern, die für gewöhnlich den Elchkopf an der Wand zieren, Musik hört. Dann ist er zwar nicht ansprechbar, aber wenigstens ist er zufrieden und still und das heißt, John kann endlich mal in Ruhe seinen Tee trinken und ein paar Seiten in seinem neuen Krimi lesen, ohne fürchten zu müssen von einer Grundsatzdiskussion über die Nutzlosigkeit von Fiktion unterbrochen zu werden.

Der Rest der möglichen Szenarien besteht aus Sherlock, der zuhause ist und etwas tut. Es ist teilweise nicht ganz leicht herauszufinden, was genau er tut oder gar warum er es tut, und John hat herausgefunden, dass es oft ein Fehler ist, nachzufragen. Besonders, wenn menschliche Organe involviert sind. Nicht, das das Johns Neugierde bremsen würde, meistens fragt er dann doch und hört sich auch die weitschweifigen Erklärung an. Aber es ist ein Fehler.

Wenn John die Wohnung betritt erwartet er also vieles. Was er nicht erwartet, sind Gäste. Bis auf Mycroft, aber der ist kein Gast, sondern... nun ja. Mycroft eben.

Die Gäste im Wohnzimmer sind zwei Frauen und ein Mann, die mit Sherlock in eine lautstarke Diskussion vertieft sind. Jacken und Schals hängen über der Rückenlehne von Johns Sessel, Instrumentenkästen liegen auf dem Sofa, Notenständern stehen auf wackligen Beinen um den Kaffeetisch und der übliche Krempel auf dem Tisch ist von Notenblättern bedeckt.

"Es ist langweilig", sagt eine der beiden Frauen, hager, Mitte vierzig, ihr langes schwarzes Haar zu einem Zopf geflochten. "Ich spiele dieselben zwei Takte immer und immer wieder. Und wozu das ganze? Damit die Leute schon wieder den Pachelbel-Kanon hören können. Die wissen doch gar nicht, was gut ist. Mozart, Vivaldi, Pachelbel, immer und immer wieder. Jedes. Jahr."

"Ganz genau. Gut, sicher, aber hoffnungslos überspielt", stimmt die andere zu. Sie sieht aus wie Anfang zwanzig, mit halblangem, dunkelblondem Haar und ohne Make-up. "Und nicht mal besonders weihnachtlich. Können wir mal was modernes spielen? Ich wär schon mit allem nach der Jahrhundertwende zufrieden."

"Ich bin für Bach", sagt Sherlock.

Die jüngere Frau stöhnt. "Du bist immer für Bach, du bist wahnsinnig. Der Mann hat mehrstimmige Solostücke für Streicher geschrieben, der war ein Sadist."

"Mit der geeigneten Technik-"

Die ältere Frau verdreht die Augen. "Oh, bitte. Gib Léon wieder eine Vorlage für Witze über Fingertechnik. Wenn ich noch ein Wort höre, schrei ich."

"So billige Witze würde ich nie machen", sagt der Mann, offensichtlich Léon, mit einem Grinsen.

"Vor allem nicht vor Publikum."

Alle drehen sich zu John um, der immer noch im Eingang zum Wohnzimmer steht. "Publikum? Oh."

"John", sagt Sherlock.

Die jüngere Frau sieht auf ihre Armbanduhr. "Großartig. Jetzt eiern wir hier seit über einer Stunde rum und haben uns auf gerade mal zwei Stücke geeinigt. Liebster Léon, wenn du auch mal was anderes sagen würdest als 'Ich bin kein Amateur wie ihr, ich kann alles spielen'."

"Ich kann aber alles spielen."

"Zur Hölle mit der arroganten ersten Geige."

"Sherlock, willst du uns deinem Mitbewohner nicht vorstellen?", fragt die ältere Frau.

"Hm. John, das sind Sophia, Annie und Léon."

"Hallo. Ich wusste nicht, dass du in einem Orchester spielst", sagt John.

"Offensichtlich. Und es ist ein Streichquartett."

"Streichquartett", wiederholt John, um sich an den Gedanken zu gewöhnen. Warum nicht? "Will jemand Tee?"

"Gern", stimmt Annie mit einem Lächeln zu. "Sherlock, warum hast du uns keinen Tee angeboten?"

Sherlock zuckt die Schultern und fummelt am Schulterpolster seiner Geige rum.

"Ich helf dir", bietet Sophia an. "Ihr könnt dann den Kanon ohne mich üben, ja?"

Sie gehen vom Wohnzimmer in die Küche unter sarkastischen Sprüchen wie "Fantastisch!" und "Danke auch.", aber schon wenige Sekunden später erklingen die ersten Töne eines langsamen, getragenen Stücks.

"Das kenn ich", sagt John, als er den Wasserkocher einschaltet und ein großes Becherglas aus dem Küchenschrank kramt, das als Teekanne herhalten muss, seit die alte Teekanne zerbrochen ist.

"Was du nicht sagst", sagt Sophia in einem milde spöttischen Tonfall.

John lächelt nur, er ist immun gegen milden Spott. "Du spielst also Cello?", fragt er, um ein Gespräch in Gang zu bringen.

Sophia lacht. "Und du wohnst also mit Sherlock zusammen?"

"Ha. Vermutlich die interessantere Geschichte."

"Da bin ich sicher. Ich hab deinen Blog gelesen, die anderen bestimmt auch. Gibt mehr her als Sherlocks Webseite."

John grinst. "Wie? Nicht interessiert daran, nach welchen Kriterien man Londoner Schlamm seinem Ursprungsort zuordnen kann?"

"Nicht so sehr, nein. Sherlock ist niemand, der viel von sich erzählt."

"Wie lang kennt ihr ihn schon?"

"Léon und ich seit... fast sechs Jahren. Annie ist seit drei Jahren dabei."

"Sehr gut", kommt Léons Stimme aus dem Wohnzimmer. "Und wenn wir jetzt noch gleichzeitig anfangen und alle im selben Tempo spielen könnten, wäre es noch besser."

"Wie langweilig", sagt Sherlock.

"Ja, genau, lass uns doch mal was Postmodernes spielen", sagt Annie. "Die Auflösung der Form und so weiter und so fort. Ich bin schon lange nicht mehr mit faulen Tomaten beworfen worden."

"Es ist, als würde man mit kleinen Kindern arbeiten", beschwert sich Léon.

Es folgen ein paar sich wiederholende Töne, die John vage bekannt vorkommen, dann gibt Annie ein begeistertes Quietschen von sich und ein weiteres Instrument stimmt mit ein. Und plötzlich erkennt John "Children of the Revolution".

"Hey", ruft Sophia ins Wohnzimmer, "kein T-Rex ohne mich!"

"Sherlock kennt T-Rex?", fragt John überrascht.

Sophia hebt die Augenbrauen. "Es ist schwer, irgendetwas zu finden, was er nicht kennt. Er ist keiner von diesen Snobs, die Popmusik ablehnen." Sie wiegt den Kopf als könne sie ds nicht so stehen lassen. "Er ist einer von den Snobs, die alles ablehnen, was ihnen nicht gefällt, aber immerhin gibt er allem eine Chance."

Die Musik bricht ab, Annie kichert und singt "Léon, lieber, Léon, gräme dich nicht." zur Melodie eines nicht näher zu identifizierenden Kinderlieds.

"Also können wir den Kanon jetzt mit ins Programm aufnehmen?"

"Ja, ja", sagt Sophia.

"Noch irgendwelche Ideen?"

"Tschaikovski? Grieg?", fragt Annie.

"Trois morceaux en forme de poire", sagt Sherlock.

"Satie, Sherlock, Satie? Ohne Klavier?"

"Ich mag den Klang."

"Des Stücks oder des Titels?"

"Beides."

"Na ja, wir könnten es spielen. Jeder kriegt eine Hand."

"Und wer darf den Satz schreiben?", unterbricht Léon.

"Der, der so dumm fragt", sagt Annie. "Du würdest es tun, wenn es Sherlock glücklich macht, oder? Sherlock, würden dich drei Stücke in Form einer Birne glücklich machen?"

"Sehr glücklich", sagt Sherlock ernsthaft.

"Siehst du?"

"Du warst dagegen", sagt Léon.

"Und jetzt bin ich dafür."

"Okay, okay, aber das hilft uns jetzt alles nicht weiter, der Auftritt ist nächste Woche."

Der Tee ist fertig und Sophia hilft John dabei, Tassen ins Wohnzimmer zu tragen und ein paar Quadratzentimeter freie Fläche freizumachen, um sie darauf abzustellen.

"John, was sollten wir spielen?", fragt Sherlock.

"Ähm... keine Ahnung. Weihnachtslieder?"

Alle vier starren ihn an. Dann kichert Annie, Sherlock gibt ein schnaubendes Lachen von sich, dass er nicht ganz erfolgreich als Niesen tarnt. Léon blinzelt. Sophie schüttelt lächelnd den Kopf und nimmt ihr Cello.

Sie fangen an zu spielen, jeder ein anderes Weihnachtslied. John hört 'Stille Nacht, heilige Nacht', "Santa Baby' und 'Last Christmas'. Das vierte ist in dem ohrenbetäubenden Lärm nicht zu identifizieren.

"Es könnte ein Madley werden", sagt Sophia, ohne mit dem Spielen aufzuhören.

"Ironisch gebrochen", sagt Léon.

John steht da, halb amüsiert, halb verwirrt. "Hab ich was falsches gesagt?"

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