Titel: Tausend Kraniche
Challenge: #1 “Abends, wenn es dunkel wird…“ (aber dann ist es mir etwas entglitten)
Fandom: Original | Fortsetzung von
LichterfestSprache: Deutsch
Wörter: 1400
Widmung:
der_jemand,
aleaKommentar: Ich bin back!!! - Sorry für die vielen Kinder in letzter Zeit?
Einige der anderen Kinder beneideten sie um ihre Aussicht. Andere hingegen sagten, dass ihnen davon schlecht würde.
Tausend Kraniche
Einige der anderen Kinder beneideten sie um ihre Aussicht. Andere hingegen sagten, dass ihnen davon schlecht würde.
Die längliche Kabine ihrer Familie, deren Fläche nur wenige Quadratmeter umfasste, grenzte mit einer schmalen Seite an die gläserne Frontfläche des Rings. Da der Ring der Panacea rotierte, um so auf günstige Weise künstliche Schwerkraft zu erzeugen, zog der Weltraum auf der anderen Seite der Scheibe unaufhörlich an einem vorbei.
Anola hatte sich daran gewöhnt. Da sie die Älteste war, hatte sie sich mühelos das oberste der drei Stockbetten erkämpft. Wenn sie sich dort auf die Seite legte und ganz nach links rückte, konnte sie sich vorstellen, dass sie schwerelos im Raum dort draußen umherschwebte.
Noch viel spannender war es, wenn sie ein Sonnensystem durchquerten und außen Sonnen, Monde und Planeten an ihr vorbeizogen. Der Zug bewegte sich nur langsam vorwärts, und nach einigen Tagen kannte sie jeden Krater auf der Oberfläche eines Mondes, jeden einsamen Funksatteliten, jeden Sonnensturm.
Eine Raumstation hingegen hatte sie seit ihrem Aufbruch nicht gesehen, und sie würde auch höchstwahrscheinlich keine mehr sehen, bis sich ihre Kolonie etabliert hatte. Das konnte Jahrzehnte dauern, hatte ihr Vater gesagt, und das kam ihr vor wie eine sehr lange Zeit.
Andere Raumschiffe begegneten ihnen selten, dafür kannte sie die Schiffe ihres Geleitzuges in- und auswendig. Am liebsten mochte sie die Hipposcarus, die sah lustig aus mit ihren stummeligen Seitenflossen, und die Lampro Tornis, weil sie so schön bunt war.
Jetzt wo sie nicht mehr da waren, sah der Weltraum dunkel und einsam aus.
„Aber was ist mit unserem ganzen Proviant?“, hatte sie gefragt. „Was machen wir ohne die Lachanon mit unserem Obst und Gemüse und die Therion mit unseren Tieren?“
„Wir finden schon eine Lösung“, hatte ihr Vater gesagt, aber er hatte besorgt ausgesehen. Wenn sie Glück hatten, hatte er ihr erklärt, konnten sie sich zumindest temporär einem anderen Geleitzug anschließen. Ansonsten müssten sie sich an eine bestehende Kolonie um Unterstützung wenden und weitere Verzögerungen in Kauf nehmen, ganz zu schweigen von den Kosten.
„Aber es war die richtige Entscheidung“, hatte ihr Vater gesagt, und sie konnte sehen, dass er das wirklich glaubte.
Die Reise mit Lichtgeschwindigkeit war aufregend gewesen. Das ganze Schiff hatte gebebt und die Sterne vor dem Fenster waren zu hellen Streifen verzerrt worden.
„Pass ganz genau auf“, hatte ihre Mutter vorher gesagt, und ihr über den Kopf gestrichen. „Das hier wird wahrscheinlich das einzige Mal sein, wenn du dich nicht später für ein anderes Leben entscheidest.“
„Bist du schonmal mit Lichtgeschwindigkeit gereist?“, hatte sie gefragt, und ihre Mutter hatte gelächelt und den Kopf geschüttelt. „Also müssen wir beide ganz genau aufpassen.“
Am Ende war ihr doch ein bisschen schlecht geworden, aber in ihrer Brust saß eine Aufregung, wie sie sie nie zuvor gespürt hatte.
„Was, wenn ich das nochmal will?“, hatte sie gefragt.
„Dann hab ich dich immer noch lieb“, hatte ihre Mutter gesagt und sie auf die Stirn geküsst, aber Anola fand, sie hatte traurig dabei ausgesehen.
Jetzt gab es eine neue Aussicht vor ihrem Fenster, eine, von der sie sich nicht losreißen konnte. Wenn sie sich ganz nah dransetzte und die Hände auf die Scheibe presste, fühlte es sich an, als könnte sie kopfüber in den lodernden Schlund fallen, der sich vor ihr auftat, genau wie die beiden Schiffe, die sich vor ihr drehten wie Spielzeuge an einer Schnur.
An den Rändern war die Sicht eingefärbt durch das pulsierende Blau des Schildes, das die Panacea aufrechterhielt. Und manchmal konnte sie einen Blick auf das große Tankschiff erhaschen, das noch weiter vom Geschehen im Orbit hing wie ein Asteroid.
„Warum machen wir denn nichts?“, hatte sie ihre Eltern empört gefragt.
„Wir machen ja was, Schatz“, hatte ihr Vater gesagt, und ihr alles genau erklärt.
„Warum machen wir nicht mehr?“, hatte sie gefragt, als er fertig war.
Er hatte geseufzt, wie er das immer tat, wenn sie seine Geduld auf eine harte Probe stellte. „Alles nimmt ein gutes Ende für den, der warten kann“, hatte er zitiert.
Anola fand insgeheim, dass Erwachsene immer dann aus der Schrift zitierten, wenn ihnen selber nichts mehr einfiel.
Warten war harte Arbeit. Dabei waren die Kinder der Panacea bei weitem nicht untätig, auf einem so großen Schiff hatten auch sie ihre Pflichten. Aber auch beim Abtrocknen konnte man aus dem Fenster schauen, und immer kreiste dort die Aletheia und schaute zurück. Hin und wieder sah man das Licht ihrer Turbinen flackern, wenn einer der Feuerschweife für den Bruchteil eines Moments nachließ, bevor er mit neuer Kraft erstrahlte. Dann taumelte die Aletheia an ihren Ketten wie ein Vogel im Sturm.
Da der Pastor immer sagte, man könnte für jedes Problem eine Antwort in der Schrift finden, blätterte sie bei der nächsten Gelegenheit durch ihr abgegriffenes Heiliges Buch. Sie war nicht pfleglich damit umgegangen, einige Seiten waren verknickt und gelegentlich begegnete einem beim Umblättern ein Fleck, der verdächtig nach Marmelade aussah.
„Gebrauchsgegenstände sind dazu da, dass man sie gebraucht“, zitierte sie dann immer, wenn ihr Vater sie deswegen ermahnte. Er stimmte ihr grundlegend zu, fand aber, deswegen müsste man das Buch ja noch nicht in eine Milchpfütze legen.
Wie üblich schloss sie beim Blättern die Augen und tippte irgendwann blind mitten in eine Seite. Als sie die Augen wieder aufschlug, schaute sie die Antwort an.
„Du musst so falten. Guck mal. Erst so, und dann hier knicken, und dann legst du das so um. Nein, so um.“ Ihr kleiner Bruder klemmte sich die Zunge zwischen die Zähne und machte sich eifrig ans Werk.
„Lenk deinen Bruder nicht von der Arbeit ab“, schalt ihre Mutter, die es lieber gesehen hätte, wenn er den ausklappbaren Küchentisch abwischen würde.
„Lehren ist lernen“, sagte sie dazu nur, und duckte sich aus der Kabine, bevor man sie zur Arbeit einteilen konnte. „Wenn du fertig bist, leg sie auf mein Bett!“, rief sie im Weglaufen.
Die Panacea hatte exakt tausend Menschen an Bord, da diese Zahl als glücksbringend galt. Starb jemand auf der langen Reise, wurde für die baldige Geburt eines Kindes gebetet, um die Balance wiederherzustellen.
Jetzt kam ihr das wie ein Zeichen vor. Aber natürlich konnte sie nicht jeden einzelnen in ihren Plan einbeziehen. Wenn sie hundert erreichte, musste jeder zehn machen, das fand sie mehr als vertretbar. Waren nur fünfzig bereit, waren es schon zwanzig… andererseits hatte sie selbst bereits fünfzehn gefaltet, und mit jedem Mal wurde sie schneller. Wenn man das jetzt hochrechnete…
Im Eilschritt klapperte sie die Kabinen ihrer Freunde ab. Sie blieb kaum lang genug, um mit schnellen Worten ihren Plan zu erklären und ihnen das Vorgehen kurz zu demonstrieren. Dann lud sie einen Haufen Papier bei ihnen ab und bat sie, ihre Geschwister einzubeziehen sowie jeden, der nicht bei drei auf den Bäumen war. Denen, die maulten, erklärte sie, dass das ja wohl strenggenommen zur spirituellen Zeit hinzuzählte und sie deswegen das Abendgebet schwänzen konnten. Das zog immer.
„Das ist ja Sakrileg!“, sagte ihr bester Freund entsetzt angesichts der Seiten, die sie ihm vor die Nase knallte.
„Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt“, sagte sie, und verschwand, bevor er den Sinn dieser Aussage hinterfragen konnte.
Als sie schließlich völlig abgehetzt nach einer kompletten Ringumrundung wieder vor der eigenen Tür ankam, stand dort ihr Vater und hielt die klägliche Hülle ihres Heiligen Buches in der Hand.
Unter seinem strengen Blick wurde sie ganz klein. „Es ist das einzige Buch mit exakt tausend Seiten“, sagte sie kleinlaut. „Und ich brauchte das Papier.“
„Und wofür, magst du mir das verraten, brauchtest du tausend Seiten Papier?“, fragte er. Zum ersten Mal in ihrem Leben sah er richtig böse aus.
Sie kramte in ihrer Jackentasche. „Für das.“
Auf ihrer Handfläche saß ein etwas zerknautschter Origami-Kranich.
„Ich brauche tausend. Für einen Wunsch. Und ich habe schon“, sie schielte an ihrem Vater vorbei auf ihr Bett, „ungefähr zwanzig.“
Er sah sie lange an. Dann warf er einen Blick über die Schulter zum Fenster hinaus. Als er sie wieder anblickte, wusste sie, dass er verstand.
Er reichte ihr die Hülle ihres Buches. „Lass das den Pastor nicht sehen, der bekommt einen Herzinfarkt.“ Dann trat er zur Seite, um ihr den Weg frei zu machen.
Als sie gerade zu ihrem Bett hochkletterte, um die Kraniche zu zählen (die ihres Bruders sahen eher wie Enten aus, aber das zählte hoffentlich trotzdem), hörte sie seine Stimme von hinten: „Hast du noch ein bisschen Papier übrig?“
Sie schwang sich auf die Matratze und schenkte ihm ihr breitestes Lächeln. „Aber klar doch.“