Okay, der zweite Anlauf zu der Bandsache. Eine Rückblende, weil ich Wolf, Léon und Ida unbedingt mal als Kinder haben wollte.
Titel: Haare
Autor: Elster
Fandom: Original
Wieder alles jugendfrei, zum verzehr geeignet und stuff.
„Nimm bitte den Kaugummi raus!“ Die Stimme der Klassenlehrerin war wie immer bestimmt, aber nicht ohne Freundlichkeit.
Léon beobachtete, wie Wolf grummelnd aufstand und sich auf den Weg zum Papierkorb machte. Für einen Drittklässler war dieses Grummeln unheimlich rebellisch, fand zumindest Léon. Er warf Ida einen verstohlenen Blick zu und sie grinste ihn an. Ihre Zahnspange blitzte.
Wolf kam zurück und setzte sich wieder zwischen sie auf seinen Platz.
Dann warteten sie.
Sie waren die einzigen im Klassenraum. Nur die drei und die Lehrerin. Es war seltsam, wenn der Klassenraum so leer war, es hörte sich anders an. Léon lauschte auf das Ticken der Uhr, das Geräusch, mit dem die Lehrerin umblätterte, das Scharren von Wolfs Füßen auf dem Linoleumboden. Er konnte nicht stillsitzen.
Plötzlich kicherte Ida. „Sie werden ausrasten“, flüsterte sie, in ihrer Stimme die seltsam aggressive Begeisterung, mit der sie all die Dinge tat, die ihre Eltern ausrasten ließen.
Die Lehrerin sah kurz von den Arbeiten auf, die sie korrigierte und ihr Blick war eher besorgt als verärgert.
Wolf strahlte als wäre Idas Bemerkung ein persönliches Kompliment und wahrscheinlich war es das auch. Léon konnte Idas Eltern irgendwie verstehen. Andererseits hatte Ida auch sehr schöne kleine Ohren, die jetzt viel besser zur Geltung kamen.
Und dann kamen sie, als erste natürlich. Pünktlich auf die Minute, mit einem höflichen Klopfen an der Tür des Klassenraums und besorgten Gesichtern. Besorgten Gesichtern, die sich in entsetzte Gesichter verwandelten, als ihr Blick auf ihre Tochter fiel.
„Kind! Was- Wer war das?“ Ihre Mutter kam in großen Schritten auf sie zu, kniete sich nieder und schloss sie in eine feste Umarmung. Es war wie im Film, wenn jemand gerade einen Vulkanausbruch, einen Flugzeugabsturz oder eine Schießerei überlebt hatte. Vieles, was Idas Mutter tat, kam Léon vor wie in Filmszenen.
Nur dass Ida weit davon entfernt war, in Tränen aufgelöst in die Arme ihrer Mutter zu sinken. Sie grinste über ihre Schulter hinweg Wolf und Léon an.
„Wie konnte so was passieren?“ fragte Idas Vater die Lehrerin. Er war ein großer Mann mit dünnem Haar, einer strengen Stimme und einem schönen Anzug. Er musste direkt von der Arbeit hergekommen sein.
„Herr Vogelau.“ Die Lehrerin war aufgestanden und reichte dem aufgebrachten Mann die Hand. „Sie kamen so vom Pausenhof“, erklärte sie mit einem schiefen Lächeln, das sagte: ‚Kinder, was soll man machen?’
„Das ist ungeheuerlich!“
„Ich will wissen, wer dafür verantwortlich ist!“
Wirklich, es war wie im Film. Léon konnte fast die Musik hören.
Die Lehrerin versuchte zu schlichten, Wolf rutschte auf seinem Stuhl herum und dann öffnete sich die Tür wieder. Eine kleine Frau mit kurzen Haaren öffnete die Tür. Léon kannte Wolfs Mutter noch nicht, aber sie sah aus wie ein Mensch, den man mögen konnte. Ihr breiter Mund schien für ein Lächeln gemacht zu sein, das im Moment allerdings fehlte.
Ihr Blick huschte durchs Zimmer und blieb kurz an Wolf hängen. ‚Was hast du nun wieder angestellt?’ schien er zu fragen. Wolf zog die Augenbrauen hoch und zuckte die Schultern.
„Frau Jäger, schön, dass Sie kommen konnten.“ In der Stimme der Lehrerin schwang echte Erleichterung mit.
„Sie! Ihr Sohn hat unsere Tochter-“, Idas Mutter schnappte nach Luft.
„Verstümmelt!“, beendete ihr Mann für sie und rückte seine Krawatte zurecht.
„Ihr wurden doch nur die Haare abgeschnitten“, warf die Lehrerin ein.
„Wolfi!“ stöhnte seine Mutter.
„Nur! Dass ich nicht lache!“ Frau Vogelau hatte sich etwas vom Übermaß ihres Entsetzens erholt. „Das fällt unter Körperverletzung, nur dass Sie’s wissen! Seit dieser verwahrloste Junge in ihrer Klasse ist, ist Ida kaum wiederzuerkennen. Schrammen, zerrissene Kleidung, neulich hat sie Ungeziefer mit nach Hause gebracht.“
„Fridolin“, flüsterte Ida trotzig und Léon fragte sich beunruhigt, was wohl aus dem Frosch geworden war.
„Mein Kind ist nicht verwahrlost“, protestierte Wolfs Mutter und Léon musste ihr da Recht geben. Aber er kannte auch Idas Zuhause und dort galten schon ungekämmte Haare als erster Grad der Verwahrlosung. Ganz zu schweigen von abgeschnittenen. „Und Ihre Tochter ist neun, da ist die eine oder andere Schramme doch völlig normal.“
„Normal? Sehen Sie doch, was Ihr kleiner Psychopath mit unserem Mädchen angestellt hat!“ Sie zeigte in einer herzergreifenden Geste auf Idas Kopf, auf dem die dunkelblonden Haarbüschel kreuz und quer standen. Nichts erinnerte mehr an die glatten weichen Haare, die ihr wie Wasser bis über die Schultern gefallen waren.
„Ich wollte es“, sagte Ida in das Schweigen hinein. Alle Blicke waren auf sie gerichtet. „Ich find’s schöner so.“ Sie strahlte. Es war ihr Sieg.
„Und ich war es“, sagte Léon einer plötzlichen Eingebung folgend.
Idas Eltern starrten ihn entgeistert an. Es passte nicht in ihren Film, wenn Léon an irgendetwas schuld war. Mit seinen großen schwarzen Augen und der glänzenden Mähne aus haselnussbraunen Locken sah er nicht nur aus wie aus einem Werbespot für großzügige Familienplanung, er war auch ganz allgemein das perfekte Kind. Jeder wusste das. Mit Léon befreundet zu sein, gehörte zu den ersten Dingen, für die Idas Eltern stolz auf sie waren.
„Ida“, sagte Frau Vogelau schließlich nach langem Schweigen und es klang immer noch ungehalten, aber auch ein wenig resigniert, „warum machst du so was?“
Ida zuckte nur trotzig die Schultern. Und dann wurde sie abgeführt von ihrer Mutter, die ankündigte, dass sie gleich zum Friseur fahren würden und ihrem Vater, der noch mal allen im Raum einen strafenden Blick zuwarf.
Wolfs Mutter sah Léon verwirrt an, als könne sie nicht recht glauben, was da gerade passiert war.
„Verrückt“, sagte Wolf in den Raum hinein zu niemand bestimmtem oder vielleicht auch zu seiner Mutter als Erklärung.
Die Lehrerin räusperte sich. „Dann... ist das wohl erledigt“, stellte sie erleichtert fest.
Alle verließen das Klassenzimmer und Léon folgte Wolf und dessen Mutter auf den Hof.
„So. Du bist also Léon“, stellte sie überflüssigerweise fest, aber mit einem verschmitzten Lächeln, das Léon an Wolf erinnerte.
„Léon Milani-Berg.“ Er gab ihr die Hand, was bei ihr ein überraschtes Lachen auslöste.
Wolf schnaubte neben ihm verächtlich.
Das Angebot, ihn nach Hause zu fahren, lehnte Léon ab. Der Professor müsste jeden Augenblick kommen. Léons Vater hatte das akademische Viertel derartig verinnerlicht, dass er kaum je zu irgendwas pünktlich kam. Als er schließlich ankam, saß Léon auf einer Bank neben dem Parkplatz und wartete. „Du hast alles verpasst!“ begrüßte er ihn.