Sep 25, 2006 12:12
Ich saß gestern Abend im Deutschen Theater Berlin, und hatte das Vergnügen, Michael Thalheimers Inszenierung der Orestie zu sehen. Nicht daß ich nicht erwartet hätte, Regietheater in Reinform zu sehen. Ich könnte lügen und sagen, daß ein klassischer Philologe aus beruflichen Gründen derlei zur Kenntnis nehmen muß. Aber das weiß ja seit dreißig Jahren jedes Kind, daß man die Griechen besser liest, als inszeniert sieht. Ich sage also die Wahrheit: Ich bin eingeladen worden von einem Bekannten, der im Chor spricht.
Wie das Stück war? Och ... Thalheimer, berüchtigt für seine Kürzungen, schaffte es, die Orestie in einer Stunde und fünfundvierzig Minuten abzurattern, wobei die Leistung erst dann recht deutlich wird, wenn man verrät, daß nach fünfzehn Minuten erst das erste Wort von Aischylos fiel. Was davor gesprochen wurde, war reiner Stein oder - wer weiß es? - Thalheimer. In den übrigen anderthalb Stunden lief die Trilogie runter, wobei vom Agamemnon schätzungsweise 50% die Bühne erreichten, von den Choephoren etwa 30% und von den Eumeniden sichere 10%. Natürlich fielen die meisten Schlüsselverse dem Rotstrich zum Opfer. Nicht wenige für den Fabellauf oder die Deutung wichtige Stellen fehlten ganz. Einige Schlüsselverse blieben auch, wurden aber dadurch, daß sie von den falschen Figuren gesprochen wurden, entweder belanglos oder irreleitend. Letztere Nachricht freilich relativert sich dadurch, daß die meisten Sätze auf der Bühne genuschelt, gebrüllt oder gerülpst wurden, und also, selbst wenn der Text dem Dichter gemäß auf die Bühne gekommen wäre, niemand, der nicht ohnehin schon wußte, was gesagt werden würde, dem Vortrag uneingeschränkt hätte folgen können. Nicht eine Figur wurde annähernd so interpretiert, daß man in ihr noch ihre Aischyleische Vorlage wiederzuerkennen vermochte. Darüberhinaus schienen alle Akteure an Creutzfeldt-Jakob zu leiden; sie zuckten, Speichel troff ihnen aus dem Mund, während sie ihre irren Blicke in die Menge warfen. Irgendjemand sollte diesen Schauspielern mal den Unterschied zwischen tragischer Erschütterung und ausgebrochenem Wahnsinn erklären. Es wurde übrigens nicht auf der Bühne gespielt, denn die war mit einer bis zur Decke reichenden Preßspanwand verrammelt, so daß die ohnedies intime Atmosphäre des DT-Saals zu einer schnürend engen wurde. Todesopfer, so weit ich weiß, gab es keine; so lang, daß es zum Ersticken gereicht hätte, war die Aufführung dann ja wie gesagt doch nicht. Sonst das Übliche: eimerweise Kunstblut, morderne Straßenkleidung, Titten, Ärsche, Penisse, Musik von E-Gitarren (ca. 180 Phon).
Im ganzen also eine standesgemäße Hinrichtung des Atridenmythos mitsamt einem seiner Dichter, die xte in diesem Jahrzehnt. Man hat Routine.
Bemerkenswert dennoch Thalheimers Hacks-Kenntnis. Der Dichter hat einmal über Dramatiker, die ihre Stücke so schreiben, daß es nicht möglich ist, bei der Inszenierung eine Pause zu setzen, geschrieben: das "verrät wirklich nur die Angst der Verfasser, die Besucher könnten in der Pause sich verständigen und weggehn."
Thalheimers Inszenierung hatte keine Pause.