конкурс эссе "Иван да Йохан": тексты М. Хильбк

Nov 09, 2009 15:12

Merle Hilbk: Die Chaussee der Enthusiasten. Eine Reise durch das russische Deutschland Aufbau Verlag, Berlin 2008; 288 Seiten, ISBN 978-3-351-02667-7, EUR 17,95 Kapitel "Fliegen lernen" Es war ein warmer Augusttag, Regensburg lag unter einer Hitzeglocke. Die meisten Städter dösten unter Caféhaus-Markisen oder hatten sich ins Freibad geflüchtet. Jörg, Maries Sohn, wollte trotzdem den Blutspende-Termin beim Roten Kreuz nicht verpassen. »Er war ein so pflichtbewusster Junge«, sagt Marie. »Und genau das ist ihm zum Verhängnis geworden!« Eine halbe Stunde lag er im gekühlten Zimmer auf der Pritsche und sah zu, wie sein Blut aus der Vene in den Plastikbeutel des Roten Kreuzes rann, lehnte sowohl den Tee als auch die Butterbrote ab, die den Spendern üblicherweise serviert werden. »Keine Zeit«, sagte er, »ich muss auf die Baustelle.« Er wollte die Kollegen nicht im Stich lassen, weil ihm die Firma, in der er seine Zimmermannslehre gemacht hatte, eine Festanstellung versprochen hatte. Gerade erst hatten sie einen neuen Auftrag hereinbekommen: ein Dachstuhl, der schnell hochgezogen werden musste, und Jörg wollte beweisen, dass er ein tüchtiger Geselle war. »Ruh dich erst mal ein bisschen aus«, sagte ein Kollege, als Jörg ein wenig taumelig über das Dach balancierte. Doch der wiegelte ab: »Wegen dem bisschen Blut?« Zwei, drei Stunden werkelte er in der Hitze. Dann klagte er über Atemnot, sagte, dass er das Gefühl habe, gleich ohnmächtig zu werden. Und ließ sich ins Krankenhaus bringen. Dort bekam er eine Spritze - wahrscheinlich mit einem Medikament, gegen das er allergisch war. Er bekam Fieber, die Nieren streikten, das Herz schlug unregelmäßig. Die Ärzte versetzten ihn in ein künstliches Koma. Ein Assistenzarzt beschwichtigte Marie, die besorgt am Bett ihres Sohnes saß. »Eine Standardmaßnahme. Sein Körper muss sich erholen.« Der Chefarzt werde nach dem Wochenende entscheiden, was weiter zu tun sei. Sie solle nach Hause fahren und sich ausschlafen. Ein paar Stunden später klingelte das Telefon. Der Anrufer, sagt Marie, habe nicht einmal betroffen geklungen. Jörg war tot. Nach der Beerdigung verklagten Marie und ihr Mann die Ärzte. »Die haben den Jungen verrecken lassen, weil wir Aussiedler sind«, glaubt sie. »Bei einem Deutschen hätten sie etwas unternommen.« Sie wühlten sich durch Krankenakten, konsultierten Rechtsanwälte, verbissen sich in ihre These - und verloren den Prozess. Marie kaufte den teuersten Grabstein, den der Steinmetz zur Auswahl hatte: aus Marmor, mit verschnörkelten Buchstaben und einem Porträtbild ihres Sohnes auf der blankpolierten Oberfläche. Zu Hause verwandelte sie die Wohnzimmer-Schrankwand in einen Altar, mit Fotos von Jörg in silbernen Rahmen, Figürchen, Stoffblumen und Teelichtern, die sie anzündete, sobald es dunkel wurde. Sie weinte. Sie verzweifelte. Ihr Mann sah zu. Getröstet hat er sie nicht. Vielleicht weil er selbst untröstlich war. Ich bin im Wohnzimmer geblieben und beobachte, wie mein Onkel auf diesen Mann mit den erloschenen Augen einredet. Diesen Augen, die die ganze Zeit schon in die Ferne gerichtet sind, auf irgendeinen Punkt hinter Oleg Gazmanow. Die Gesichtsmuskeln sind erschlafft. Der Schmerz hat sich in die Mundwinkel eingegraben. Worte, ihn herauszulassen, hat er bis heute nicht gefunden. Er schweigt vor dem Fernseher. Tage-, wochen-, monatelang. Wenn Marie redet, dann schleicht sich fast immer das Wort »Tod« in ihre Sätze. Jeden Tag stirbt ihr Sohn aufs Neue in ihren Erzählungen. Sie schwärmt von seiner Herzlichkeit, seiner Unbeschwertheit und Fröhlichkeit, mit der er sich seine neue Umgebung erobert habe - dieses Deutschland, in das sie ihn gebracht hatten, »weil er es einmal besser haben sollte«. Deswegen seien sie ausgereist, sagt Marie. Nur deshalb. »Mat, ja ljublju tebja. Ne grusti. Ja uletaju. Mutter, ich liebe dich. Sei nicht traurig. Ich werde davonfliegen.« Das ist eine Zeile aus dem Lied, das Jörg für seine Mutter geschrieben hat, wenige Tage vor seinem Tod - als habe er geahnt, was mit ihm geschehen würde. Als habe er ihr einen Abschiedsbrief hinterlassen wollen, aufgenommen auf eine alte BASF-Kassette, mit Gitarrenbegleitung. Einen Abschiedsbrief für Marie, die ihr Leben lang davon geträumt hat, fliegen zu lernen. Mit siebzehn war sie allein nach Almaty, in die alte Hauptstadt Kasachstans, gefahren, um sich für eine Pilotenausbildung zu bewerben. Ein Flugzeug zu steuern, ferne Länder zu sehen, die Aeroflot-Uniform zu tragen - dieser Traum hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt, seit sie die ersten Maschinen über ihr Dorf hatte fliegen sehen. Pilot - einen anderen Beruf konnte sie sich nicht vorstellen. Und hatte alles getan, um diesen Traum zu verwirklichen: Ihr Zeugnis war voller Einsen, sie war durchtrainiert nach Jahren an der Sportschule, koordinationsschnell. Ein Arzt hatte ihr bescheinigt, dass die Augen in Ordnung waren, das Herz regelmäßig schlug, sie bei bester Gesundheit war. In der Pilotenschule musste sie ihren Pass vorlegen. Der Ausbilder schlug die erste Seite auf, starrte auf das Papier, klappte den Pass zu. Und sagte: »Fräulein, Sie sind Deutsche. Deutsche dürfen nicht Piloten werden!« Marie war zu traurig, um sofort den Heimweg anzutreten. Sie fuhr in den Gorki-Park, ein Vergnügungszentrum, in dem sich ein Karussell mit kleinen Metallflugzeugen im Kreis drehte, setzte sich in eines der Flugzeuge und sah hinauf in die Berge, den Tian-Shan, der sich hinter der Stadt bis auf 5000 Meter hinaufschraubte. Das Karussell beschleunigte, die Berge flogen vorüber, die Stadt, der Park, und dann schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie weinte und weinte, während das Karussell stoppte, wieder anfuhr, beschleunigte, um schließlich erneut zum Stillstand zu kommen. Ein kleiner Junge, der an einem Eis-Lolly saugte, hatte sie beobachtet. Als sie mit verquollenen Augen aus der Flugzeuggondel stolperte, lief er auf sie zu, drückte ihr den Stiel mit den letzten Eisresten in die Hand und sagte: »Damit du nicht mehr weinen musst.« Sie bedankte sich, und dann schoss es ihr durch den Kopf: Du wirst dein Leben einem solchen Jungen widmen. Sie fuhr zurück in ihr Dorf, meldete sich an einer Schule für Vorschulpädagogik an, heiratete und wurde schwanger. Von da an wurde ihr Leben von einem Gedanken beherrscht: Jörg. Jörg, den ihr das Schicksal geschickt hatte. Ein Prachtjunge, dem sie ihre ganze Energie, Fürsorge, Liebe schenken wollte. Jörg, der den Pilotensitz in ihrem Leben eroberte. Mat, ja uletaju. Jörg, der ohne sie davongeflogen ist. Kapitel "Bitte sprechen Sie nicht von Klein-Kasachstan!" Der Regionalexpress verlässt den Stuttgarter Kessel, das enge Tal des Neckars, die Zentralen des deutschen Wirtschaftswunders: Daimler, Porsche, Bosch; die Zulieferer: Polstereien, Gewindemanufakturen, Metallgießereien; diese ganze ruhelose schwäbische Werktätigenwelt, in der »Stillstand« ein Unwort und »Wohlstand« eine Selbstverständlichkeit zu sein scheint. Rattert vorbei an Bietigheim-Bissingen, Vaihingen, Mühlacker, ächzt hinauf in die Berge, rollt sanft hinab ins Badische. Fachwerkdörfer, Weingüter, frisch verputze Siedlungshäuser mit Geranienkästen vor den Fenstern und der E-Klasse in der Auffahrt - ein Deutschland wie aus einem Nachkriegs-Prospekt: emsig, wohlgeordnet, satt. »Wir können alles - außer Hochdeutsch«, verspricht ein Werbeplakat neben den Gleisen. Über der Schrift prangt das schwarzgoldene Wappen mit dem Hirsch und dem Fabeltier Greif, den Symbolen der Länder Württemberg und Baden - des Südweststaates, den Theodor Heuß 1952 als »Modell deutscher Möglichkeiten« pries und die Landesregierung heute stolz ein »Innovationsland« nennt, »arm an Bodenschätzen, aber reich an Menschen voller Ideen, Erfindungsreichtum und Fleiß«. Aus einem Opel Tigra, der mit geöffneten Fenstern im Kanadaring cruist, dröhnt Samy Deluxe: »Wir leben in einem Land, in dem mehr Schranken stehen als es Wege gibt,/ mehr Mauern als Brücken,/ die Stimmung ist negativ/ und die Alten fragen,/ warum brauch ich täglich Weed (Haschisch),/ warum sind ich und meine ganze Generation so depressiv./ Wir sind jeden Tag umgeben von lebenden Toten,/ umgeben von Schildern, die uns sagen: Betreten verboten!« Samy Deluxe verkauft sich gern als Hamburger Ghettorapper, der Kanadaring soll das Ghetto von Lahr sein. Sagt jedenfalls der Taxifahrer, der mich vom Bahnhof aus hierhergefahren hat. Ghetto. Russen-Ghetto. Oder auch: Klein-Kasachstan. Dabei haben die meisten, die hier in den seltsamen, runden Achtstöckern leben - Häusern, die kanadische Soldaten gebaut haben, die die Lahrer vor der sowjetischen Bedrohung schützen sollten - einen deutschen Pass. Als die Sowjetunion sich auflöste und den Kanadiern ihre Mission abhanden kam, zogen in die Soldatenwohnungen Menschen ein, die sich in der Sprache des einstigen »Bedrohers« unterhielten. 8700 Neubürger hat die Stadt seit dem Fall des Eisernen Vorhangs zu verzeichnen. Verschlossene, sparsame Leute, die, im Gegensatz zu den Kanadiern, ihr Geld weder in die Gasthäuser noch in die alteingesessenen Geschäfte rund um den Marktplatz trugen; die sich selten bei den Weinfesten blicken ließen und einen Laden an der Schwarzwaldstraße eröffneten, der Plastikblumen im Schaufenster hatte und zehn Sorten Wodka im Regal. Fremd wirkende Menschen, die bald mehr als ein Fünftel der Stadtbevölkerung ausmachten. Ein Fünftel - so viel wie in keiner anderen Stadt in Deutschland. Ich kenne diese Zahlen, diese Orte und Namen von früher, diese beiden städtischen Sphären, die nebeneinander existieren, als ob sie durch eine Grenze getrennt wären. Deren Bewohner sich höchstens flüchtig begegnen, wenig voneinander wissen. Weil sie nichts voneinander wissen wollen, zu bequem sind oder Angst haben, in die fremde Sphäre einzutauchen. Russen, habe ich gemerkt, lösen mehr Respekt aus als Türken, Serben, Italiener, Spanier. Bei denen war man nämlich wenigstens schon mal zum Essen. Ich habe einmal in dieser Stadt gearbeitet, als Volontärin der »Badischen Zeitung«, in dem Jahr, in dem sich die Diskussion um den Kanadaring zuspitzte. Ich wollte hinfahren, Interviews führen, aber der Chef hielt mich zurück: »Wir müssen erst überlegen, wie wir mit dem Thema umgehen sollen.« Ich schrieb derweil über den Versuch der Kaufmannschaft, sich mit dem angeblich längsten Hefezopf der Welt ins »Guinnessbuch der Rekorde« zu backen. Lästerte, dass der Zopf Lücken habe. Am nächsten Morgen stürmte ein Mann in die Redaktion, schimpfte: »Alles Lüge, was diese Zugereiste da schreibt.« Und forderte meine sofortige Entlassung. Lahr kann eine schwierige Stadt sein, wenn man kein Badisch spricht und keinen Zugang zum »Klüngel« hat, den Alteingesessenen, den eng miteinander vernetzten städtischen Eliten: Unternehmern, Ärzten, Rechtsanwälten. Und so inspiziere ich heute zum ersten Mal den Kanadaring, der in einem rechten Winkel von der Schwarzwaldstraße abzweigt, der in der Mitte abknickt wie ein kyrillisches g; ein g wie das in »gosti«. Gäste. Dieses Wort kommt mir in den Sinn, als ich die rundlichen Hochhäuser mit den eckigen Balkonen sehe, die aus den schlammigen Rasenflächen wachsen wie Ufos, die getunten BMWs und Fiestas in den Parkbuchten, die sich wie ein Ring um die Rasenflächen legen, diese wilde Mischung aus Samy Deluxe und russischem Hip-Hop, der aus den Autos dröhnt, die die Straße auf- und abfahren, auf- und abfahren, als gelte es, jeden Meter zu vermessen, jedes Wesen zu inspizieren, das sich auf dem schmalen Bürgersteig bewegt. Bei den Mädchen, die trotz der Kälte Miniröcke tragen und blasenentzündungsförderlich-kurze Jacken, verlangsamen sie die Fahrt, hupen, rufen ein mir unbekanntes, russisches Slangwort. Die Mädchen tun, als würden sie die Jungen nicht bemerken, fahren sich wie beiläufig durch ihre blondierten Mähnen und streben auf einen der Hauseingänge zu, deren leuchtend blaue Kacheln das einzig Farbige an den Fassaden ist; Betonfassaden, die sich durch nichts unterscheiden als durch die Namen, die unten auf den beleuchteten Klingelschildern stehen. Fast nur deutsche Namen sind es, die ich dort lese: Erhardt. Deister. Hoppe. Hoffmann. Nur die an die Balkone geklemmten Satellitenschüsseln deuten daraufhin, dass hier Menschen wohnen, die Abendnachrichten lieber in Russisch schauen, die den »Perwyi (ersten) Kanal« der ARD und russisches MTV der deutschen Variante vorziehen. Denn diese Schüsseln sind nach Osten ausgerichtet, hunderte von Schüsseln, die den Ufo-Charakter der Architektur noch verstärken. Eine Siedlung, die in krassem Gegensatz zur Fachwerk-Heimeligkeit der eingemeindeten Dörfer, der adrett renovierten Altstadt steht. Die wirkt, als würde sie woanders hingehören, an den Rand von Berlin oder Moskau oder Nowosibirsk. Als sei sie in Lahr nur zu Gast. Seltsam unbelebt ist dieser Gastbezirk. Es gibt weder Geschäfte noch Cafés, keine Restaurants, keine Plätze, die zum Verweilen einladen würden. Die wenigen Menschen, die auf der Straße zu sehen sind, eilen mit starrem Blick ihrem Ziel entgegen. Selten betritt ein Einheimischer den Kanadaring. Es heißt, dort sei man nicht sicher. Aber es ist auch nicht so, dass die Bewohner des Kanadarings und der anderen Bezirke, die mein Taxifahrer »Russenghetto« genannt hat - Langenwinkel, Kippenheimweiler - den Kontakt zu ihnen suchen. Sie haben sich ihre eigene kleine Welt gebaut, mit russischen Lebensmittelläden, Kirchengemeinde, Sportvereinen. Und sogar mit einer eigenen Disko, dem »Tanzlokal Energy« in Riegel, in der DJ Benz an den Wochenenden Russen-Hip-Hop auflegt. Einer der Cruiser aus dem Kanadaring kennt den DJ, erzählt, dass er, auch im wirklichen Leben den Namen der deutschen Automarke trage. Und dass er als er mit seinen Eltern in Lahr eintraf, kaum ein Wort Deutsch gesprochen habe - genau wie er. »Der Waldi hat sich dann auf die Musik gestürzt, hat sich in so einem Sozialprojekt beibringen lassen, wie man Tracks produziert. Dann hat er im Energy seinen ersten Auftritt gekriegt.« Ich habe sein DJ-Set gehört, an einem Samstag im »Energy«, dessen Türsteher mich erst nach zähen Verhandlungen passieren ließ, weil ich mich nicht ausgehfein gemacht hatte, Cordhosen trug und ungeschminkt war, als einzige der etwa 200 Frauen. DJ Benz stand wie ein Zeremonienmeister hinter den Turntables, legte schnell produzierten Hip-Hop von Gruppen auf, die Factor 2 heißen, Projekt Wug und Royal G und Texte rappen, die Stolz und Selbstbewusstsein verheißen: »Nas nasewajut coole Russen, u nas krassiwy, u nas w Germanii deneg. Wsjo budet prekrasno, budet choroscho!« Man nennt uns coole Russen, wir sind schön, wir haben Geld in Deutschland. Alles wird fantastisch, alles wird gut! Eigentlich sei Benz gar kein richtiger Russen-DJ, sagt der Kanadaring-Cruiser und verweist mich auf Benz’ Website, auf der groß die »Playlist International« prangt. Ein deutscher Rapper ist darauf nicht zu finden. Man würde Wert auf Niveau legen, heißt es im »Energy«. Ich muss an die Russendisko in Nordhorn denken, einer Stadt in Niedersachsen, die in den neunziger Jahren auch Tausende von Russlanddeutschen angezogen hat. Eine Russendisko, die ich - im Auftrag des Kulturamtes - in der Aula der Gesamtschule veranstalten sollte. Ich begann mit ein paar Diskostückchen, die ich aus Moskau mitgebracht hatte: Glukoza, Tatu und Propaganda, sanfte Frauenstimmen, die mit schnellen Beats unterlegt waren. Teenagergerecht, dachte ich, bis sich ein Junge mit Baggy-Jeans und Podolski-Frisur hinter das Mischpult quetschte und mir ins Ohr brüllte: »Ey, Alte, was soll der Scheiß? Spiel Bushido!« Mir wird es nach zwei Stunden im Kanadaring und zwei weiteren in der Neubausiedlung von Kippenheimweiler zu langweilig. Russlanddeutsche Viertel sehen nicht viel anders aus als deutsche. Und russische Lebensmittelläden verlieren ihren Reiz, wenn man einmal Tiefkühl-Pelmeni gekostet hat und weiß, dass die gigantischen, mit Winterlandschaften und dem Roten Platz verzierten Pralinenkästen zwar sehr dekorativ sind, der Inhalt aber eher mäßig schmeckt. Eine Ethnologie-Studentin aus Freiburg aber hat sich ein halbes Jahr dort herumgetrieben - und kam zu einem ähnlichen Schluss wie ich an diesem Vormittag: Dass es wenig Verbindungspunkte zwischen den Welten der Einheimischen und der Aussiedler gibt. Die meisten Aussiedler, schrieb sie später in ihrer Diplomarbeit, hätten fast nur Kontakt zu anderen Aussiedlern. In dieser Arbeit tauchte dann auch dieses Wort auf, das so gefährlich klingt: Segregation. Nach künstlicher Absonderung, nach Parallelwelt, nach Hasspredigern und dunklen Machenschaften. Aber die Ethnologin schrieb, dass »Segregation« eine wichtige Funktion habe. Dass die »Strukturen innerhalb der eigenen Gemeinschaft helfen, den fremden Alltag zu bewältigen«. Dass sie ein Mechanismus sei, dem sowohl Aussiedler als auch Einheimische gehorchen würden; ein menschliches Bedürfnis, das der amerikanische Soziologe Richard Sennett mit diesem schlichten, einprägsamen Satz umschrieben habe: »People want to live with people like them.« Ein Satz, der so etwas wie der Kern des Problems in Lahr sei, meint der Stadthistoriker, der in einem lichten Büro im Obergeschoss des Rathauses residiert und mich nun durch sein Archiv führt, in dem er die russlanddeutsche Geschichte seines Arbeitgebers dokumentiert hat. Wir waren einmal Kollegen, bei der Lokalzeitung, aber ich war nicht überrascht, als ich erfuhr, dass er nun für die Stadt arbeitet, über die wir damals geschrieben haben. »Man muss bedenken: Für die Lahrer hat sich auch vieles verändert. Die mussten sich ja auch in einer neuen Umgebung zurecht finden«, sagt er heute. Es seien ja nicht nur die Aussiedler, die plötzlich in Scharen aufgetaucht seien, es seien auch die Fabriken, die Arbeitsplätze abbauten, Strukturanpassungen, wie es hieße, selbst Roth-Händle habe entlassen. »Lahr ist eben eine Kleinstadt. Eine badische Kleinstadt, die lange nach der Devise verfahren ist: Leben und leben lassen. Aber irgendwann stößt eben auch eine badische Kleinstadt an ihre Grenzen.« Die Grenzen, an die die Stadt Lahr stieß, sind keine auffälligen, keine, die Besuchern wie mir direkt ins Auge springen würden. Es gibt keine Bandenkriege wie in Hamburg, wo sich in den Vierteln im Osten, in Nettelnburg und Lohbrügge, die Russen mit den Türken und den Deutschen prügeln; wo Messer gezückt werden und manchmal auch eine Walther P22. Wo ein Amtsrichter klagt, dass kein Sitzungstag ohne Aussiedler vergehe, und die Taten, über die er zu urteilen habe, immer brutaler würden. In Lahr ist die Zahl der Einbruchdiebstähle nicht mehr gestiegen als in Städten vergleichbarer Größe, die keinen Kanadaring haben. Selbst der Straßenstrich, über den zu meiner Zeit so viel getuschelt wurde, entpuppte sich als bloße Behauptung; als ein Missverständnis, das daraus entstanden war, dass russlanddeutsche Mädchen eine Zeitlang in sehr kurzen Röcken und sehr weißen Lederstiefeln durch den Kanadaring liefen. Und dass die Leute, die diese Behauptung in die Welt gesetzt hatten, wohl weder MTV-Fans waren noch bei »Pimkie« und »Orsay« einzukaufen pflegten. Denn dann wäre ihnen klargeworden, dass kurze Röcke und Lederstiefel bei den russlanddeutschen Mädchen einfach ein bisschen früher in Mode kamen als bei den deutschen, die erst Christina Aguilera in einem solchen Aufzug durch ein Video tanzen sehen mussten. Und dass junge Männer im Sommer abends oft in Gruppen auf der Straße stehen sollen - wovon ich mich nicht überzeugen konnte, denn jetzt war Winter, ein reichlich verregneter noch dazu - dass sie dort reden, lachen, ein wenig lauter als die Einheimischen vielleicht; dass sie Bier aus der Flasche trinken, unter freiem Himmel, wie es in Russland, in Kasachstan üblich ist, aber in einer deutschen Kleinstadt, in der in Kneipen getrunken und in Wohnungen gelacht wird, für Unmut sorgen muss - das ist kein Thema. Die Grenzen von Lahr verlaufen nicht auf offener Straße. Die Grenzen liegen hinter den Wohnungstüren. Hinter der Tür des Hauseigentümers, der schimpft, dass die Grundstückspreise im Lahrer Westen gefallen seien; dass man in Kippenheimweiler nicht mehr bauen könne, weil man dort von Russen umzingelt sei; weil einem die Wäsche dort von der Leine geklaut würde und die Kinder auf dem Schulhof dauernd russische Schimpfwörter aufschnappten, »tschop twoju mat«, »fick deine Mutter« und Schlimmeres. Hinter der Tür der Lehrerin, die, als ein junger russlanddeutscher Schüler vom 13. Stock eines Hochhauses sprang, einer Kollegin zuzischte: »Was soll’s. Wieder einer weniger.« Hinter der Tür der Mutter in Langenwinkel, die mich in ihre Küche bat, als ich sie auf Russisch ansprach, und mir erzählte, dass sie ihren Söhnen einimpfen würde, dass sie lernen müssten, lernen und nochmals lernen, weil sie nur einen Job bekommen würden, wenn sie bessere Noten hätten als die Einheimischen - wie so viele russlanddeutsche Eltern es ihren Kindern eintrichterten, so lange, bis die verstanden, dass eine Drei eine Katastrophe und eine Vier das Zeichen, dass sie es niemals schaffen würden, in diesem Land anzukommen. Dass sie immer »die Russen« bleiben würden; ein Wort, das viele schließlich selbst benutzten, wie eine Auszeichnung, wie in den Rap-Texten von Royal G: »Man nennt uns coole Russen. Passt auf, wir meinen es ernst.« Ein paar dieser Kinder brachten sich um, ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen, etliche dröhnten sich zu. Mit Pillen, mit Heroin. Kiffer gab es nur wenige. »Kiffen ist was für deutsche Weicheier«, hat mir der Cruiser aus dem Kanadaring erklärt. »Bei Russen muss es richtig knallen.« Kapitel "Russisch Roulette" Ich fahre zurück in den Süden, zurück in den Frühling; dorthin, wo er als erstes Einzug hält: ins südliche Baden-Württemberg. Dort, am Fuße des Schwarzwaldes, eineinhalb Zugstunden von Adelsheim und nur eine halbe von Lahr entfernt, liegt eine Stadt, deren Einwohner behaupten: »Die Russen haben uns gerettet.« Eine wohlhabende süddeutsche Kleinstadt mit 50000 Einwohnern, einer Fußgängerzone, einem Autobahnanschluss und einem Flughafen. Erich Kuby und Tony Marshall sind in dieser Stadt geboren, Adolf Hitler und Konrad Adenauer zu Ehrenbürgern ernannt worden. Anke Engelke hat hier ihre Comedy-Karriere gestartet und Iwan Turgenjew seinen Roman »Rauch« geschrieben. Dostojewski, Gogol und Tolstoi waren da; Luschkow, der aktuelle Bürgermeister von Moskau und Schewardnadse, der ehemalige georgische Staatspräsident, sollen sich hier über Tarnfirmen eingekauft haben. Mehr als zwanzig Villen in bester Lage und ein paar Dutzend Eigentumswohnungen sind in russischer Hand, und ständig gehen neue Kaufanfragen aus Russland bei den Immobilienmaklern ein. »Die Stadt ist ein Symbol sehr alter geistiger und kultureller Beziehungen beider Völker«, schrieb die russische Zeitung »Prawda«. »Unser Wunsch ist es, an diese Tradition anzuknüpfen«, hat der Oberbürgermeister von Baden-Baden verkündet. Der Stadt, über die ich schon bei meiner Reise durch das virtuelle russische Deutschland gestolpert war. Denn Baden-Baden ist einer der wenigen Orte in Deutschland mit einem russischen Internetauftritt. Firmen, Dienstleister, Geschäfte, Kur- und Schönheitskliniken der Stadt - sie alle präsentieren sich auf Russisch im World Wide Web. Und mir wurde klar, dass das, was da auf einer dieser Websites stand, nicht nur ein Marketingspruch war: Dass Baden-Baden einer der russischsten Städte Deutschlands ist. 800 Russen leben dauerhaft in der Stadt, nach der offiziellen Statistik, 1600 nach Schätzungen der russischen Gemeinde. 25000 kommen jedes Jahr, um Urlaub zu machen, für Wochen, für Monate, manche auch für Jahre. Ebenso unbekannt ist die Zahl der russischen Unternehmen und Stiftungen, die in der Stadt ihren Sitz haben, wegen der Strohmänner, die häufig die Verträge unterzeichnen, damit die Geldströme nicht nachvollziehbar sind. Der Polizeipräsident spricht vom »Verdacht auf Geldwäsche«, von organisierter Kriminalität. Sogar die »New York Times« hat über diesen Verdacht geschrieben. Man könnte sich die Stadt daher wie St. Pauli vorstellen, vielleicht sogar ein bisschen wie die Innenstadt von Moskau, wo Luschkows Frau mit Grundstücken spekuliert. Doch das Baden-Baden, das sich mir an diesem warmen Märzmorgen präsentiert, ist ein ruhiges, verträumtes Kurbad geblieben. Ein geschichtsträchtiger Ort, erbaut auf sieben Hügeln wie Rom und von den Römern wegen seiner heilenden Quellen auch »Aquae« genannt, »Wasser«. Das klassizistische Kurhaus, das blendendweiße Casino, die Jugendstil-Bäder, alten Grand Hotels, die steilen, engen Gassen, die pastellfarbenen Fassaden in der Fußgängerzone, die von Krokussen übersäten Wiesen an der Lichtentaler Allee, die Schlossruine hoch oben im Wald im gleißenden Sonnenlicht - eine Kulisse, die so makellos ist, dass ich mich fühle wie in einem Film, in Fellinis »Süßem Leben« oder James Ivorys italienischem »Zimmer mit Aussicht«. Baden-Baden an einem Frühlingstag wie diesem: das ist, rein ästhetisch betrachtet, eine perfekte Welt. Besonders, wenn man wie ich mit dem Zug aus dem noch winterlich grauen Norden anreist, das zersiedelte Ruhrgebiet passiert, den Rheinhafen, die Industriegebiete und gesichtslosen Wohnquartiere Mannheims, in Karlsruhe, der Stadt ohne Eigenschaften, in eine S-Bahn umsteigt, die über eine zwischen Schallschutzwände gezwängte Trasse Baden-Baden entgegenrast, das sich - wohl in Anlehnung an größere Städte, an Spree-, Rhein- und Mainmetropolen - in den Reiseführern als »Stadt an der Oos« bezeichnet. Was ein bisschen provinziell klingen könnte, wenn man bemerkt, dass die Oos eher ein Bach als ein Fluss ist. Aber »Oos« ist immerhin ein Name, der vor allem bei amerikanischen Touristen seine Wirkung nicht verfehlen dürfte. Denn in Amerika wachsen die meisten Kinder mit dem »Zauberer von Oz« auf, einer Art Sternentaler-Märchen, über ein kleines Mädchen, das nach einem schweren Schicksalsschlag mit drei Weggefährten in die Smaragdenstadt kommt, von deren Glanz sie nur dank einer Spezialbrille nicht geblendet werden. Nach einigen Prüfungen, unter anderem durch die böse Hexe des Westens, bekommen alle vier, was sie sich am meisten wünschen und verlassen die Stadt quasi als rundum erneuerte Geschöpfe. Ein amerikanisches Märchen, das im Prinzip die Geschichte des modernen russischen Baden-Badens erzählt. Die Geschichte der von Leberzirrhosen, Bluthochdruck, Ehekummer und politischen Wirren geplagten Menschen, die sich in Privatkliniken operieren und verschönern lassen, im Römerbad den Stress des russischen Gegenwartslebens von sich abtropfen lassen, sich in den französischen Edelboutiquen - getreu dem Lebensstil des russischen Adels im 19. Jahrhundert - von ein paar Hermes-Taschen erfolgreich in Versuchung bringen lassen und den Abend bei einer »Stolytschnaja«, einem »Smirnoff Black Label« oder einer der anderen zwanzig Wodkasorten in Brenner’s-Bar ausklingen lassen. Die für ein paar Wochen in die sorgsam konservierte Atmosphäre des 19. Jahrhunderts eintauchen, in die Sommerfrische-Welt der Romanows, Menschikows, Dostojewskis, Gogols, Turgenjews und Tschaikowskis, an die die Stadt mit Denkmälern, Büsten und Schildern an den Hausfassaden erinnert. Ich wandere durch die Lichtentaler Allee und sehe eine Turgenjew-Büste auf einem Sockel in der Krokuswiese. Entdecke an einer der pastellfarbenen Fassaden in der Altstadt eine Inschrift: »Unter vielen hochrangigen Gästen lebte hier im Sommer 1861 auch Irina Ratmirowa, die Heldin des Romans »Rauch« von Iwan Turgenjew (1818-1883). Der Roman hat Baden-Baden in Russland zu hohem Ansehen verholfen.« An einer anderen hängt ein Schild, das an Nikolaj Gogol erinnert, den Dichter der »Toten Seelen«, mit einem Zitat aus seinem Werk: »Die Lage der Stadt ist herrlich.« Auf einem Balkon in der Altstadt ist eine Metallbüste angebracht, ein Kopf und ein riesiges Buch mit der Aufschrift »Der Spieler«. Fjodor Dostojewski hat in diesem Roman seine eigenen, leidvollen Erfahrungen in der nahen Spielbank verarbeitet. »Residenz Turgenjew« heißt eine Schönheitsklinik, ein Café im »Europäischen Hof« »Russischer Salon«. Es gibt ein russisches Hochglanz-Stadtmagazin, einen deutsch-russischen Juristentag, russische Kulturwochen, Vorträge und Stadtführungen. Russischsprachige Anwälte, Wirtschaftsprüfer, Banker und Makler. Russisches Fernsehen und eine russische Speisekarte im »Brenner’s Park Hotel«, und natürlich begrüßt der Concierge dort seine Gäste auf Russisch. Der russische Literaturkritiker Jewgeni Pazuchin, der seit 1996 in Baden-Baden lebt, brachte das, was viele Russen angesichts dieser Metamorphose von Baden-Baden empfinden müssen, mit dem Titel seines Reiseführers auf den Punkt: »Budem delat Baden-Baden! (Erschaffen wir Baden-Baden!)« So ist es kein Wunder, dass Baden-Baden in Russland zur zweitbekanntesten deutschen Stadt wurde, nach Berlin, das in einer anderen Zeit auf einem anderen Weg erobert wurde. »Baden-Baden ist ein russischer Traum«, schreibt der Literaturkritiker. »Es war eine Märchenwelt, irgendwo in Europa. Bevor wir reisen konnten, wussten wir ja nicht, ob es wirklich existiert.« Der Traum ist geblieben. Nur sein Inhalt hat sich verändert. Die meisten Russen, so erklärt mir ein russischer Geschäftsmann, kämen weniger, um in die ruhmreiche kulturelle Vergangenheit einzutauchen, sondern in den Luxus der kapitalistischen Gegenwart. Denn keine andere Stadt in Deutschland habe auf so engem Raum so viele Edelboutiquen zu bieten - Boutiquen, in denen man auf Russisch hofiert wird, ebenso wie auf den Golfplätzen, in den Fünf-Sterne-Hotels, den Privatkliniken und Bädern, in denen russische Gruppen oft einen ganzen Badesaal für sich mieteten. In Baden-Baden gibt es das zweitgrößte Opernhaus Europas, eine historische Pferderennbahn, in deren Vip-Lounges Hüte wie in Ascot getragen werden, ein von einem New Yorker Stararchitekten entworfenes Museum für moderne Kunst und ein Spielcasino mit Rokokosälen, goldenen Lüstern und Seidentapeten. Baden-Baden, sagt der Geschäftsmann, sei für ihn so anziehend, weil es für die meisten Leute unerschwinglich sei. »Da bleiben die Proletarier draußen. Otlitschno! Hervorragend! Die haben uns in Russland lange genug geärgert!« Ich studiere die Schaufenster der Makler in der Innenstadt und registriere: Die Quadratmeterpreise in Baden-Baden gehören zu den höchsten in Baden-Württemberg. Schon am Nachmittag wird der Veuve Cliquot in den Bars rund um das Kurhaus fleißig geordert, die Nerzmantel-Dichte ist sogar an einem warmen Frühlingstag wie diesem beeindruckend. Auf dem Parkplatz vor dem Festspielhaus parken Bentleys, Mercedes S-Klassen und Jaguars. Selbst Notärzte rollen im Porsche bei den Patienten an. Ein kleines deutsches Wirtschaftswunder, in Schwung gebracht mit russischen Rubeln. Man habe in Russland einfach kein Vertrauen in die Wirtschaft des Landes, und schon gar nicht in die Politik, sagt eine Russin, mit der ich in der Schlange vor dem Automaten der Deutschen Bank auf Englisch ins Gespräch komme. »Zack, bricht der Rubel ein. Zack, verabschieden sie irgendein neues Steuergesetz, und dann stehst du dumm da, wenn du dein Geld nicht im Ausland angelegt hast.« Ein Deutscher, der mitgehört hat, schimpft: »Alles Schwarzgeld, was die Russen hierher bringen! An den Staat denkt da keiner. Jeder sorgt sich nur um die eigene Brieftasche!« Ich weiß nicht, warum du dich so über die Russen aufregst, denke ich. Deine Stadt hat doch eine chronisch leere Stadtkasse. Aber gleichzeitig die meisten Millionäre Deutschlands. »Ohne die Russen sähe es hier düster aus«, meint ein Verkäufer eines Edelschneiders in der Lichtentaler Straße. Die Russen seien zwar nur die zweitgrößte Touristengruppe - noch hätten die Amerikaner die Oberhand - aber die bei weitem zahlungskräftigste. Und - »das schätzen wir besonders an ihnen« - äußerst konsumfreudig. Ich hätte gerne mehr erfahren: Summen, Produkte, Mengen; aber der Verkäufer beharrt auf einmal auf Diskretion. Auch die Russen, die ich bei meinem Rundgang frage, halten sich bedeckt. Weder die Damen, die ich beim Nachmittags-Casinobesuch anspreche, wollen sich zu ihren Konsumaktivitäten einlassen, noch die Herren, die mir am Abend in der Brenner’s-Bar mit etlichen, für mich an diesem Ort nur in homöopathischen Dosen erschwinglichen Starkgetränken zuprosten. »Net, eto ne interesno«, sagen sie schlicht, »das ist nicht interessant.« In Russland habe ich die Erfahrung gemacht, dass Russen kein Problem damit haben, über Geld zu sprechen. Und schon gar nicht über das, was sie ausgegeben haben. Aber vielleicht haben sie sich schnell an die deutschen Gepflogenheiten angepasst, diesen diskreten Umgang mit Reichtum, dieses Unter-Seinesgleichen-Bleiben. Und vermutlich sehe ich nicht so aus, als ob ich zu »seinesgleichen« gehöre. So waren es letztlich deutsche Flughafenmitarbeiter, die mir erzählten, dass im Sommer öfter eine privat gecharterte Iljuschin im hinteren Teil des Flughafens, dem »Privat Aviation Center« im Sektor E landen würde, die ein paar reiche Familien zum Zahnarztbesuch oder Massageterminen einfliegen würde. Eine Hotelangestellte berichtete von einer Russin, die sich für sieben Monate in einer 300-Euro-Suite einquartiert habe, um in Ruhe und mit der exklusiven Unterstützung eines privat abrechnenden Gynäkologen ihr Kind zur Welt zu bringen. Eine Kosmetikerin plauderte über »Rundum-Erneuerungen« in der »Residenz Turgenjew«, dem »Institut Prevénte« und bei Chirurgen und Zahnärzten, die »in einem Aufwasch« Falten absaugten, Altersflecken weglaserten, eine sorgenfaltige Stirn mit Botox glätteten und eine halbe Zahnreihe mit »Veneers« verblendeten, um auf ein russisches Rauchergebiss ein Hollywood-fähiges Lächeln zu zaubern. Und ein Casino-Stammgast sprach schließlich von »Russisch Roulette«: »Die setzen alles auf eine Zahl und lachen, wenn eine andere drankommt.« Sicher gebe es diese Nowyje Bogatyje, die nur wegen eines Zahnarzttermins einflögen und mit ihrem Reichtum protzten, sagt dagegen Renate Effern. Aber seit drei, vier Jahren kämen auch Leute aus der neuen Mittelschicht nach Baden-Baden: Ärzte aus Privatkliniken, Mitarbeiter von Joint Ventures, Hoteliers, Managerinnen. Viele gut verdienende Frauen, die mit Notebook-Köfferchen in den Vier-Sterne-Hotels eincheckten und beinahe zurückhaltend aufträten. »Die kommen, um sich im Glanz einer Epoche zu sonnen, die bei ihnen zu Hause fast ausgelöscht ist.« Renate Effern ist Stadtführerin. Sie bietet deutsche Touren zu den russischen Orten in Baden-Baden an und russische Touren zu den russischen, deutschen, französischen und römischen. Als Anfang der neunziger Jahre die ersten Russen nach Baden-Baden kamen und die Stadt per Anzeige nach einer russischen Stadtführerin suchte, war Renate Effern Hausfrau. Sie bewarb sich, obwohl es ein paar Jahrzehnte her war, dass sie sich intensiver mit der russischen Sprache befasst hatte, und das Russland, das sie kennengelernt hatte, Sowjetunion hieß. Mitte der sechziger Jahre hatte sie sich in Freiburg an der slawistischen Fakultät eingeschrieben, weil sie »irgendetwas Aufregendes« studieren wollte; etwas, das exotisch genug klang, um in ihrer Heimatstadt, dem damals äußerst bürgerlichen Baden-Baden Eindruck zu machen. »Diese Kurkonzerte! Diese Rentnergruppen! Diese ganze spießige Welt!«, sagt sie. »Ich brauchte dringend ein Gegengewicht.« Ein paar Jahre lang lernte sie russische Deklinationen, die Unterschiede zwischen unvollendetem und vollendetem Aspekt, plagte sich mit den russischen Zischlauten und fuhr mit einer Studentengruppe nach Moskau und in die russische Provinz. Dann verliebte sie sich in einen Mann aus Baden-Baden, heiratete, bekam drei Kinder und zog zurück in ihre Heimatstadt. Russland spielte in ihrem Leben keine Rolle mehr, bis zu dem Tag, als sie vor der ersten Touristengruppe aus diesem Land stand. »Danach war ich fertig«, erzählt sie. »Die Russen sind das anspruchsvollste Publikum, das man sich vorstellen kann. Die wollen alles ganz genau wissen.« Aber sie gaben ihr die Motivation, ihr Slawistik-Examen nachzuholen und eine Magisterarbeit über »Russland zu Gast in Baden-Baden« zu schreiben. Bei der Recherche erfuhr sie Dinge über ihre eigene Stadt, die sie stolz machten. Zum Beispiel, dass Nikolaj Gogol hier zum ersten Mal aus den »Toten Seelen« vorgelesen hat. Dass die Stadt die Kulisse für Iwan Turgenjews Roman »Rauch« bildet, der die Auseinandersetzung zwischen westlich, europäisch orientierten Russen und »Slawophilen« schildert. Dass sich Iwan Gontscharow, Autor des »Oblomow« und Zensor in Russland, 1867 im »Europäischen Hof« über den Roman seines Kollegen aufregte: Turgenjew würde die Russen als einen »mit der Schablone gezeichneten Haufen von Nihilisten« darstellen und sich gegenüber dem eigenen Volk versündigen. Dass Tolstoi, der mit einer 20-Jährigen angereist war, nach wenigen Tagen bereits sein gesamtes Geld im Casino verspielt hatte. Dass eine russische Zarin 1814 in einem Brief aus Baden-Baden schrieb: »Ich bin seit vier Wochen an einem der schönsten Orte der Welt.« Danach beschloss Renate Effern, auch den deutschen Touristen etwas von diesem Teil der Geschichte ihrer Heimatstadt zu vermitteln. So entstand die deutsche Führung »Das russische Baden-Baden«, die aber bei weitem nicht so gefragt war wie die russischen, von denen sie manchmal vier Stück pro Tag zu bewältigen hat. Ich bin die erste, die in diesem Monat eine deutsche Führung gebucht hat. Renate Effern empfängt mich in der Spielbank, wo sie mir den »Saal der tausend Kerzen« zeigt, in dem Dostojewski zum mittellosen Mann wurde, schlendert dann mit mir durch die Innenstadt, vorbei an Gogol-, Tolstoi- und Turgenjew-Quartieren, führt mich zu der Turgenjew-Büste in der Lichtentaler Allee, an der einst der russische Fürst Menschikow mit seiner Troika vorübergeprescht war, aus reiner Freude an der Geschwindigkeit, die die Kutsche auf der langen, geraden Straße erreichte - eine Anekdote, die die Stadtführerin an dieser Stelle auch ihren russischen Gästen erzählt hat. »Das würde ich mit meinem Ferrari auch gerne tun«, habe daraufhin ein Gast zu ihr gesagt. Sie habe ihn höflich darauf hingewiesen, dass die Lichtentaler Allee autofrei sei. »Wie viel kostet die Genehmigung?«, habe der Mann darauf gefragt. »Manchmal rege ich mich schon auf«, gesteht Renate Effern, während wir auf der Allee stadtauswärts marschieren. »Im letzten Sommer haben Russen das Haus neben uns gekauft. Seitdem kann ich nicht mehr auf der Terrasse arbeiten. Ein bisschen feiern wird man ja wohl noch dürfen, haben sie gesagt. Die verstehen gar nicht, was uns daran stört.« Meistens wird Renate Effern vom Fremdenverkehrsamt für russische Touristengruppen engagiert. Manchmal wird sie aber auch als Privatführerin gebucht, von Damen und Herren, deren Namen ein Geheimnis bleiben soll. »Fragen Sie um Himmels willen nicht nach!«, mahnen die Rezeptionisten der Luxushotels. »Die Herrschaften wollen anonym bleiben.« - »Aber dann haben sie mir oft schon in der Lobby ihre Visitenkarte zugesteckt«, sagt Renate Effern und lächelt. »Der russische Präsident hat mir die Puschkin-Medaille verliehen. Vielleicht hat das besonderes Vertrauen geschaffen.« Putin hat sie mit dieser Medaille für ihre »Verdienste um die Vermittlung der russischen Kultur in Deutschland« ausgezeichnet. Denn Renate Effern führt nicht nur russische Touristen durch Baden-Baden, sondern hat 1992 außerdem auch einen deutsch-russischen Kulturverein gegründet: Die Turgenjew-Gesellschaft. Die Turgenjew-Gesellschaft organisiert russische Kulturtage im Sommer und das ganze Jahr über Vorträge, die sich mit russischen Literaten, Philosophen und Staatsmännern befassen - und natürlich auch mit dem Thema, über das in Russland seit Jahrhunderten gestritten wird: Ob das Land mehr dem Westen oder dem Osten zugehörig oder vielleicht sogar etwas ganz Eigenes sei. Über hundert Redner hat die Gesellschaft bisher eingeladen - früher in den »Internationalen Club« oder in das Restaurant des Casinos, heute in den »Russischen Salon« im Europäischen Hof, den die Hotelleitung kostenlos zur Verfügung stellt. An einer Wand hängt ein Stammbaum der Romanows, an einer anderen Porträts russischer Dichter über einem dunkel gebeizten Bücherschrank mit russischen Klassikern. Ansonsten ist der Raum unverändert, fügt sich nahtlos ins Dekor des Grandhotels. Aber die Rokoko-Stühle, die Messingtischchen, der mit Lorbeerkränzen verzierte Teppich und die Kristalllüster könnten auch einen Palast in Petersburg dekorieren, ohne aufzufallen. Dabei war die Turgenjew-Gesellschaft am Anfang eher so etwas wie ein Protestverein, der das Kapital in die Schranken weisen und verhindern wollte, dass Investoren die alte Villa, die gegenüber von »Brenner’s Park Hotel« lag, abreißen und durch einen größeren Neubau ersetzten. Die Villa, in der Turgenjew bei einem seiner Aufenthalte gewohnt haben soll! Und geschrieben natürlich. Womöglich Teile von »Rauch«! Ein Kulturdenkmal also, das man, wenn man auch nur ein bisschen Achtung vor der russischen Geschichte hatte, nicht einfach so schleifen konnte, dachte Renate Effern und gründete mit anderen Sympathisanten den Verein, der Kampagnen gegen den Abriss veranstaltete. Bei einer ausgiebigen Recherche im Stadtarchiv stellten sie dann aber fest, dass Turgenjew nie in besagter Villa gelebt hat. Doch die Investoren hatten bereits eingelenkt. Die alte Villa wurde renoviert und trägt seitdem den Namen »Residenz Turgenjew«. Die Turgenjew-Gesellschaft aber blieb bestehen. Und war in aller Munde - etwas, das sie den meisten anderen Kulturvereinen in der Stadt voraus hatte. Aber Renate Effern ist das noch nicht genug. Sie will ein Russisches Kulturzentrum gründen, mit Schulungsräumen, einer Sprachschule, einer Teestube - und vor allem mit einem eigenen Büro. Bisher erledigt sie alle Anrufe von zu Hause. Ihr Mann sei schon ziemlich genervt, dass dauernd jemand auf Russisch losplaudere, von dem er kein Wort verstehe. Sie würde gern groß ins Kulturmanagement einsteigen, eine deutsch-russische Sommerakademie ins Leben rufen, um noch mehr Wissenschaftler nach Baden-Baden zu locken und Künstler und Ökonomen beider Länder zusammenzubringen. Als sie ihre Ideen auf einem Empfang der baden-württembergischen Wirtschaft vorstellte, zog sie ein Herr von Porsche zur Seite und fragte: »Können Sie sich das Ganze auch ein bisschen größer vorstellen?« »Natürlich«, sagte Renate Effern selbstbewusst. »Ich bin nur immer noch auf der Suche nach Geldgebern.« Leider hat der Herr von Porsche seitdem nichts mehr von sich hören lassen. Auch die Stadt hat bisher eine Finanzierung abgelehnt. Aber die Turgenjew-Gesellschaft taucht weiter in Politikerreden, auf städtischen Websites, in den Broschüren der Tourismuszentrale auf. Und bleibt vorerst das, was sie immer schon war: ein Club von Bildungsbürgern, der beharrlich darauf hinweist, dass die russischen Orten der Stadt mehr sind als eine gewinnbringende Touristenattraktion. Die anderen Bürger von Baden-Baden kämpfen im Bauamt mit russischen Villenkäufern, die nicht verstehen wollen, warum sie ihr Haus nicht einfach so um 200 rokokoartig anmutende Quadratmeter erweitern dürfen. Bemühen sich im Umweltdezernat um Schadensbegrenzung, wenn ein Russe die Motorsäge ansetzt, um den Jahrhunderte alten Baumbestand in seinem Garten komplett zu beseitigen. Versuchen, Männer nach dem zehnten Wodka endlich aus der Hotelbar ins Zimmer zu komplimentieren und ausgefallenste Frauenwünsche zu befriedigen: Strampelanzüge mit Swarovski-Steinen, pastellfarben eingefärbte Pelze, eine Esszimmer-Truhe aus dem Besitz Napoleons. »Sie sind wichtig für unser Haus«, sagt der Concierge in Brenner’s Park Hotel gelassen. »Das Geschäft läuft blendend«, erklärt eine Verkäuferin in einer Cashmere-Boutique. Und so bedienen die Baden-Badener ergeben die, von denen schon ein paar Kilometer außerhalb der Stadt schon nichts Gutes mehr erzählt wird. Denn die »Russen« aus dem Franzosenquartier auf dem sogenannten Briegelacker am Stadtrand von Baden-Baden haben nichts mit den Russen in der Innenstadt zu tun. Das heißt: zu tun haben sie mit ihnen einiges. Jedenfalls ein paar von ihnen, die einen Job in der Innenstadt gefunden haben. Sie bedienen sie, in den Geschäften, Hotels, Restaurants, in den Arztpraxen, Schönheitssalons und den Gemächern der »Villa Ascona« - überall, wo dieses Schild hängt: My goworim po russki. Wir sprechen Russisch. In die Wohnblocks, die französische Soldaten nach dem Krieg am Briegelacker gebaut haben, sind Russlanddeutsche eingezogen; etwa tausend, schätzt man auf dem Rathaus. Genaue Zahlen seien nicht bekannt, die Leute hätten ja einen deutschen Pass. Und so werden in Baden-Baden die Russen von den Russlanddeutschen umsorgt. Eine - wenn man so will - feine Ironie der Geschichte: Kaum sind sie den Russen entkommen, reisen die ihnen nach und verschaffen ihnen in ihrem Exil ein Auskommen. Russlanddeutsche werden auf einmal zu dem Bindeglied, das sie im benachbarten Lahr nicht sein konnten. Zu Dolmetschern und Mittelsmännern, die den Baden-Badenern, den Einheimischen helfen, das fremde Land zu verstehen, in dem sie geboren wurden. Und aus dem nun das Geld in die Stadt fließt. Das heißt: Was die Politik seit Ewigkeiten nicht zusammenzuführen vermochte, das hat in Baden-Baden in wenigen Jahren das Geld geschafft. Eine Wendung, wie sie nur der Kapitalismus provozieren kann. Der Briegelacker liegt eingeklemmt zwischen zwei Gewerbegebieten am Autobahnzubringer. Es ist ein ganz anderes russisches Baden-Baden. Die Häuser stehen in immer gleichen exakten Abständen nebeneinander. Die Fassaden sind beige-grau verputzt, an beinahe jeder Balkonbrüstung klebt eine Satellitenschüssel. Eine breite Straße und rechtwinklig abzweigende Parkbuchten teilen die Siedlung in Rechtecke, verleihen ihr etwas Künstliches, Reißbrettartiges. Das Einzige, das ins Auge springt, ist das gelb leuchtende Schild der »Video Galaxie« und das weiße Pappschild des »Fachgebietes für Öffentliche Ordnung«, wie hier das Ordnungsamt genannt wird. Männer in Daunenjacken und Plastikschlappen rauchen vor dem Eingang, Frauen mit geblümten Kittelschürzen und Kopftüchern schieben Kinderwagen über den Gehsteig. Es gibt keine Blumen, keine Cafés, keine Sitzbänke, kaum Farben. Auf dem Rasen zwischen den Blocks türmen sich kaputte Stühle, zersplitterte Tische, Kinderwagen mit gebrochener Achse, Pappen, Flaschen, Metallteile zu mannshohen Bergen, in denen Kinder nach Verwertbarem suchen. Morgen soll der Sperrmüllwagen kommen. Niemand lächelt. Mit ängstlich zu Boden gerichtetem Blick drückt sich eine alte Frau an mir vorbei. Ein Mann zuckt erschreckt zusammen, als ich ihn auf Russisch nach dem Weg frage. Dann bittet er mich um eine Zigarette, mit Hartz IV könne er sich nur noch ein Päckchen pro Monat leisten. »Wenn ich einen Job in einem Reisebüro bekomme, bin ich ganz schnell weg hier«, sagt eine junge Frau, die sich zu uns Rauchern gesellt. »Bis dahin - na ja, die ganze Familie ist hier. Man kann sich gegenseitig helfen.« Auf das Heck des Busses, der am Rand der Siedlung beim »Tele-Kiosk« hält, in dem man für Centbeträge nach Russland und Zentralasien telefonieren kann, hat jemand mit Textmarker »Mutti Fieker« geschrieben. Die Jungen an der Bushaltestelle tragen Combat-Hosen und militärisch kurzes Blondhaar. Aus einer solchen Siedlung kann man nur ins Manöver aufbrechen. Gerade einmal eine Viertelstunde braucht der Bus vom Kurhaus hierher. Doch es ist, als würde er in dieser Viertelstunde in eine andere Stadt fahren. Von Florenz nach Duisburg. Von den pastellfarbenen Fassaden, den Kopfsteinpflastergassen, buchsbaumgeschmückten Eingängen, den Mahagonibars und Antiquitätengeschäften, den atemberaubenden Ausblicken und der gediegenen Aura der Innenstadt in die farblose, nackte, zweckoptimierte Vorstadt. Augusta-, Leopolds- und Hindenburgplatz, Festspielhaus, Waldseestraße, vielleicht noch der Ebertplatz - dann verlassen die Anzugträger mit den sportlich gebräunten Gesichtern und die Damen mit den Aigner-Taschen und 100-Euro-Haarschnitten den Bus. Die, die am Tele-Kiosk aussteigen, schleppen Plastiktüten, aus denen Porreestangen herausragen, und zerren Kinder mit blassen Gesichtern den Hang hinab. Renate Effern hat den Anwohnern des Briegelackers einmal eine kostenlose Stadtführung angeboten. Auf Russisch. »Da sind ein paar mitgefahren, die gestaunt haben, wie schön Baden-Baden ist«, erzählt sie. »Die waren noch nie in der Innenstadt.« Arbeitsplätze hat die Stadt fast nur im Dienstleistungsbereich zu bieten. Es gibt kaum Industrie in der Stadt. L’Tur hat hier seine Hauptniederlassung, Heel produziert Globuli und andere homöopathische Mittelchen. Die meisten Stellen haben Handel und Gastgewerbe zu bieten, viele davon sind nicht besonders gut bezahlt. Aber man sei froh, wenn man überhaupt einen Job bekomme, sagt die Verkäuferin in einer Boutique. Und glücklich, dass »Muttersprache Russisch« jetzt eine Qualifikation sei. Es sind eher die Frauen, die aus dem Briegelacker in die Innenstadt fahren, um zu arbeiten. Die Männer hätten Schwierigkeiten damit, einen Job anzunehmen, für den sie überqualifiziert seien, sagt die Dame, die im Rathaus die Sitzungssäle vorbereitet: Kaffee kocht, Getränke und Konferenzgebäck bereitstellt, kalte Platten anrichtet. In Kasachstan sei sie Sportlehrerin gewesen. Aber ihr Diplom sei in Deutschland nicht anerkannt worden. Und überhaupt: »Wo sollte ich in Baden-Baden einen Job in diesem Bereich finden? Hier gibt es doch kaum Kinder!« »Die Russen sind dabei, die Stadt zu verjüngen«, sagt Renate Effern. »Ohne sie wären wir noch heute das Pensionärsbad, das wir bis 1990 waren.« Manchmal habe sie sich wie in einem Heinz-Rühmann-Film gefühlt, so altbacken und brav habe Baden-Baden gewirkt. »Überall graue Haare und Gesundheitsschuhe! Das war nicht gut für das Image der Stadt.« Wir sitzen im »Russischen Salon« und trinken Latte Macchiato, der uns kostenfrei serviert wird. Man weiß ja nie, wen die Effern da so mitbringt, mag sich der Hoteldirektor gedacht haben, der uns persönlich bediente. Ich hätte ja schließlich auch eine Russin sein können, die sich und ihre Familie für Wochen in einer der teuren Suiten einmietet. Obwohl die sich wahrscheinlich nicht mit einem alten VauDe-Rucksack in ein Luxushotel gewagt hätte. Kaum haben wir unsere Tassen abgestellt, nähert sich unserem Tisch ein Exemplar der Spezies, die dem Image der Stadt nicht gut bekommen soll: ein Pensionär. Er verbeugt sich und spricht Renate Effern mit einer altmodisch-gediegenen Höflichkeit an: »Gnädige Frau, darf ich Ihnen fünf Minuten Ihrer kostbaren Zeit stehlen? Es ist für eine Sache, die auch in Ihrem Interesse stehen könnte!« Der Pensionär trägt ein weißes Dinerjackett und ein gewaltiges Rodenstock-Brillengestell, sein silbernes Haar hat er in Wellen sorgsam zurückgekämmt. Ich muss an Dieter Thomas Heck denken, doch der Pensionär spricht mit einem badischen Zungenschlag. Er erzählt, dass er im Staatsdienst gewesen sei, Inspektor. Ein Inspektor, der Bariton singt, mit rollendem R wie in den Fünfzigern, und sich von einem James-Last-artigen Orchester begleiten lässt: »Ich besinge heut kein Mädchen, / ich besing’ nicht meinen Schatz. / Ich besing’ das Bad der Bäder, einen wunderbaren Platz. / Schönes Bad im schwarzen Walde / meine Lieb’ zu dir ist groß.« »Große Liebe zu Baden-Baden« heißt das Stück, das er selbst geschrieben und auf CD aufgenommen hat, die er Renate Effern mit einer tiefen Verbeugung überreicht. Über vierzig Jahre dauere diese Liebe nun schon an, sagt er, nachdem sie den Text auf dem Booklet studiert hat. Die meisten davon sei Baden-Baden unverändert geblieben. Deswegen sei es gut, dass jetzt diese ganzen jungen, modernen Russen kämen. Und damit deren Liebe auch vierzig Jahre andauern möge wie die seine, möchte er um Übersetzung des Liedes ins Russische bitten. »Schließlich«, sagt er und haucht der Stadtführerin einen Kuss auf die Hand, »fühlt man sich nach so langer Zeit für das Image der Stadt mitverantwortlich..

Дни Германии в Калининграде, литературный конкурс, Мерле Хильбк

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