Zwischen den Zeilen

Sep 20, 2010 00:58


Es klingelte. Lea war nicht gerade angezogen, aber die Adresse kannten auch nur Leute, bei denen es keine Rolle spielte. Sie öffnete die Tür, welche an einen alten Buchrücken erinnerte. Im Hausflur stand Mobiliar wie eine abgestellter Schrank.

«Lange nicht gesehen, Frau Lea», sagte Mobiliar feststellend. Der unterdrückte Reflex den Hut zu ziehen war unverkennbar; doch Lea hasste diese Geste und er trug gerade keinen Hut. Er war ein unglaubhafter Punk, höchstens Zwanzig, dessen Iro ausgewaschen pink zur Seite hing. Er zupfte sich leicht irritiert am Augenbrauenpiercing herum als wäre er es nicht gewohnt. Seine Augen waren klar und müde und brauchten kaum eine Sekunde, um sie zu mustern.

«Sie haben sich kaum verändert.»

«Einer dieser Regentage?» Lea lächelte. Ihre Haare klebten nass vom Duschwasser am Rücken und sie bekam einen Krampf in die Hand davon sich das Handtuch umzuhalten. Sie ließ es fallen, wo sie stand und machte eine schlichte Drehung, um in ihre Wohnung zurückzugehen.

«Regenzeit, vielmehr.» Er trat hinter ihr ein und schloss achtsam die Tür. Seine umgekrempelten Stiefel schritten um den Teppich herum, bis er einen Platz zum Niederlassen - ein wackeliges Jugendstilimitat von Stuhl - fand.

«Wo hast du Cervantes gelassen?», hallte ihre Stimme aus einem angrenzenden Raum. Die Wohnung war so still, dass das Flauschen von Handtüchern und Knistern von Kleidung zu hören war.

«Ich bin nicht sicher», sagte seine Stimme vorsichtig und wurde zum ersten Mal seiner Erscheinung gerecht. « Es war schwer genug überhaupt hierher zu finden. Ich hab' ihn irgendwo verloren.»

«Du hast ihn verloren?!» Ihr Kopf erschien in einem Türrahmen, umringt von einem Lichtspalt. Sie hatte ein Handtuch um den Kopf gewunden und die Augen darunter sprachen ungeheuren Unglauben auf. «Man verliert nicht einfach eine grüne graugepunktete Couch, Mobiliar!»

«Ich weiß, ich weiß.» Das Gesicht versank in den Händen. Seine derzeitige Erscheinung trug Halbhandschuhe mit zu vielen Nieten. «Aber deine Dimension ist nicht gerade leicht ausfindig zu machen. Es gibt zu wenige Menschen. Kaum etwas ist hier kanon.»

«Es ist nicht einmal eine Dimension», sagte Lea kleinlaut, als sie aus dem Bad trat. Ihre Haare waren eine verknotete Lockenmähne und die Kleidung darunter hätte jeder Bibliothek einen wohligen Schauer über die Buchrücken gejagt. «Aber das macht es wohl schlimmer.»

Er nickte verloren und sie zerpflückte ihm im Vorbeigehen mit den Fingern die Haare. «Schaff' dich ins Wohnzimmer; du brauchst 'ne Pause, Bücherjäger.»

«Sie bevorzugen dieser Tage die Bezeichnung fahrender Bibliothekarsschurke.»

«Ich koche dir auch Kaffee, wen die ganze Welt dich Arrrithmetiker nennt.»

«Realität bewahre.» Er hievte sich auf wie einen schweren Koffer ohne neumodische Rollen und Ziehstangen und trottete ins Wohnzimmer.

Mobiliar legte seine Handschuhe und die bestickte Lederjacke ab und sog zwei Kannen Kaffee in sich auf wie eine Eidechse die Sonne. Auf die Knöchel der linken Hand war H Y P O tätowiert - auf die rechten P A R A. Meine beiden Stile, hatte er Lea bei ihrer ersten Begegnung erklärt und ihr eine halbe Stunde später einen Unterarmknochen gebrochen. Sie wollte trotz seiner vehementen Aufforderung ihre Ausgabe von H.G.Wells' Die Zeitmaschine nicht herausgeben. Damals war er noch nicht selbstständig gewesen. Später kehrte er zurück, um sich für den Auftrag zu entschuldigen, den er bei ihr ausgeführt hatte. Um Vergebung bitten, traf es eher. Jemand wie Mobiliar entschuldigte sich nicht einfach.

«Also?» Sie hatte ihre Brille in der Küche wieder gefunden und saß neben ihm wie ein menschliches Fragezeichen. Sein Blick wanderte von der Tasse durch den Raum und zurück. Es gab nicht viel zu sehen; nur Sessel, Couch und halbleere Bücherregale. «Bist du auf der Flucht oder auf der Jagd.»

«Beides ein wenig», sagte er zu ihr blickend. «Ein wenig zu viel vielleicht. Es ist leerer geworden seit letztem Mal.»

«Es ist zu viel hier drin.» Sie tippte sich gegen die Schläfe, knapp über dem Brillenbügel. «Die Bücher, welche mir verloren gegangen sind, waren Kernstücke meines Lebens und die Geschichten darum verschwinden immer mehr. Ich versuche sie im Kopf zu behalten, doch das ist schwierig.»

Er lächelte und nickte verständnisvoll, was mit diesem Gesicht hauptsächlich besoffen aussah.

«Die Idee, dass das Gedächtnis zum Buch taugt, ist leider auch eine Erfindung der Bücher. Aber ich denke, ich kann dir helfen.» Er griff nach seiner Jacke und zog ein Bündel Bücher heraus.

«Du hast welche wiedergefunden?» Es war eine Schulausgabe von Kafkas Die Verwandlung, ein abgegriffenes Kinderbuch mit buntem Ponyhof auf dem Cover, sowie ein mit Klebeband geflickter Spieleberater zu Terranigma. «Oh. Die mochte ich nie sonderlich.»

Lea begann trotzdem darin zu lesen un Mobiliar zu ignorieren. Er kochte sich selbst Tee und probierte sich durch den spärlichen Inhalt ihres Kühlschranks. Einmal sah sie vom Lesen auf, als er sich eine Zigarette anstecken wollte und verwies ihn auf den Balkon. Aus dem einzigen Fenster konnte er die grellen Lichter einer großen Stadt weit in der Tiefe sehen. Der harsche Wind wiegte die Fernsehantennen fast bis zum Brechen. Er entschied sich gegen den Balkon und warf seine zerdrückte Zigarettenschachtel in den Mülleimer.

Er erledigte Aufträge für sie, seit er Freiberufler war und brachte ihr abhanden gekommene Bücher zurück. Er selbst sah es als eine Berufung; nicht gegenüber ihr, sondern für sich selbst. Ihr Anliegen war dabei nur ein Teil seiner Aufgabe. Lea fand, das klang nach selbstständigem Freiberufler. Doch andererseits hingen in ihrem Arbeitszimmer auch Ausbildungs- und Studiumszeugnisse neben Zertifikaten und Auszeichnungen.

In der Mitte von Mobiliars Körper, zwischen PARA und HYPO, stand TAXE. Sie hatte mit eigenen Augen gesehen, wo. Das waren die einzig registrierten Aufzeichnungen in seinem Leben, von denen sie je etwas gesehen oder gehört hatte.

Als sie das letzte Buch zuklappte, saß er mit geschlossenen Augen im Sessel. Sie räumte die Bücher ins Regal und war überrascht, wie viel mehr sie in sich gehabt hatten als erwartet.

«Mobiliar?»

Er gab einen Brummton von sich.

«Ich schlafe auf der Couch. Du wirst dich mit dem Sessel begnügen müssen.»

«Nur eine Weile», murmelte er.

«Natürlich.»

«Die Arbeit ruft.»

«Immer.» Sie schaltete das Licht aus. Die leuchtenden Quadrate der Stadt in der Tiefe hinterließen ein schwach oranges Licht.

«Weißt du wie sie dich dieser Tage draußen nennen, Frau Lea?»

«Mh?» Ihr Schatten bewegte sich durch den Raum und auf die Couch.

«Die Bibliothekarin zwischen den Zeilen.»

Lea lachte. Die Zeiten änderten sich wirklich.

schnellschreiben, womöglich dystopisch, mehrdimensional, mobiliar, green water, meta-meta

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