Er war, noch nicht im Erdgeschoss angekommen, mit sich einig, dass es mehr als verschwendete Zeit war. Ein Möbelstück auszurangieren war vermutlich eine wertvolle Erfahrung im Leben eines--
Es kommt darauf an, was du als wertvoll erachtest und wann du dir eingestehst, dass so ziemlich alles eine Erfahrung ist.
«Oh.» Søren sah sich um, dann nach unten und beäugte die Dame, welche auf der letzten Treppenstufe zum Keller stand. «Kennen wir uns? Ich bin Søren Crate, der neue Mitbewohner von Frau Winters. Seit--»
«Einer Weile, aber offenbar nicht in deinem Kopf, denn das neu ist noch ausgesiebt.»
Er war sich sicher, dass ihm die Dame sympathisch war, weil er sie nicht mochte und baute ein ausgefeilteres Grinsen auf. Der Versuch sie näher in Alter oder Eigenschaften zu erfassen, hinterließ wie in einer Endlosschleife die Dame vor seinem inneren Auge.
«Bemüh' dich nicht. Ich bin gleich wieder weg. War nur eben die Post holen.»
«Jedenfalls schön sie kennenzulernen», murmelte Søren wie ein Lautsprecher, dem man langsam den Ton abdreht. Das auf Halshöhe zusammengeknotete Haar der Dame verschwand, als sie die Stufen hinunterstieg. Seltsames Haus.
«Oh und gib' es nicht weg», hörte er die Stimme unter sich, kurz bevor die Kellertür zuschlug. Wirklich seltsames Haus.
Es war windig auf der Straße und seine erster Gedanke betraf einen Pullover. Dann fielen ihm die paar Handgriffe ein, nach denen er sich wieder im Warmen auf der Couch zurücklehnen durfte. Er schob entschlossen eine alte Zeitung in die offene Haustür und schaffte selbst beim Anblick des lädierten Sofas die gedankliche Querverbindung nicht.
Das Sofa trug nun wirklich das Prädikat ausrangiert in Fraktur aufgeprägt. Der linke vordere Fuß war weggebrochen und irgendwie hing es durch. Vermutlich ein Bruch im Grundgerüst. Die Stadttauben waren verlässlich gewesen in den letzten fünf Minuten; wo es nicht angerissen war, dort war es verdreckt. Möbel zu Müll, wahrhaftig.
«Darf ich Ihnen das abnehmen, guter Mann?» Søren, gerade über die Lehne gebeugt, um mit seinen Fingern splitterlosen Halt zu finden, drehte den Kopf zur Stimme hin. Der Mann mit hagerem Gesicht trug seinen zu kurzen Mantel und den zur Unkenntlichkeit zerbeulten Hut mit einem Hauch von Pflichterfüllung. Er wirkte staubig, auch wenn nichts an seiner Person unordentlich erschien.
«Aber natürlich. Doch erstmal muss es an den Rand, wo es keinem im Weg steht.» Was der Mann später mit dem einstmaligen Sofa vorhatte, interessierte Søren wenig; doch in diesem Moment war er ein kostenloses Paar helfende Hände.
Wortlos schritt - ja, er schritt definitiv - der Mann zur anderen Seite des Möbelstücks und zusammen hievten sie es halb gebückt an die Hauswand. Er klopfte die Hände gegeneinander wie alte Schulschwämme und Søren bemerkte, dass der Mann Handschuhe aus etwas trug, dass einmal Leder gewesen sein mochte. Er murmelte dem Fremden seinen Dank entgegen und versuchte zu übertünchen, dass ihn selbst diese Kleinigkeit ein bisschen außer Atem gebracht hatte.
«Gern geschehen. Erlauben Sie, dass wir uns kurz hinsetzen?»
«Warum nicht. Søren ist der Name.»
«Skandinavier?»
«Neunfemünde.»
Der Andere rümpfte die Nase. «Nun, ebenfalls mehr oder minder am Ende der Welt. Ich bin Mobiliar.»
Søren sah ihn schief an und gab sich Gelegenheit den Mann näher zu mustern. Obwohl seine Gesichtszüge hager waren, wirkte der Mann behäbig, doch keinesfalls fett. Sein Mantel war undefinierbar schwarz, vielleicht auch anthrazit, hätte aber ebenso froschgrün sein können ohne einen Unterschied zu machen. Die Kleidung darunter war nicht zu erkennen, doch sah vermutlich zerknittert und mitgenommen aus, bis auf ordentliche Bügelfalten. Die Brauen waren dicht, jedoch fein gezogen, und auf eine Weise so markant, dass sie völlig von den Augen und Nase ablenkten. Als er den Hut abnahm und auf der Lehne ablegte, kam kurzes dunkles Haar zum Vorschein - Sørens sehr ähnlich.
«Mobiliar? So etwas wie ein Möbelhändler? Ein--» Søren suchte nach der korrekten Berufsbezeichnung für Menschen, die in Möbelhäuser arbeiten und entsprechende Fachkenntnisse besitzen; bis ihm einfiel, dass er solche Bezeichnungen nicht kannte.
«Eher Sammler als Händler. Auf Bücher spezialisiert. Die Möbel erleichtern vielmehr meinen Alltag.» Eine Hand verschwand im Mantelkragen und kramte in dessen Innenleben herum wie in einer Einkaufstasche.
«Also Antiquar? Bibliothekar?» Er war sich nicht sicher, ob er gerade sich, dem Mann - seiner Aussage nach Mobiliar - oder sonst irgendjemandem mit der Begriffssuche half.
«Bibliothekar durchaus, aber es ist nicht so eindimensional, fürchte ich. Möchtest du eine mit mir rauchen?»
«Heh, wünschte das könnte ich von meinem Job auch behaupten.» Er wollte den Mann gerade erneut darum bitten, ihn nicht zu siezen. Dann fiel ihm auf, dass sich zwar die Worte geändert, jedoch der Tonfall kein Stück verschoben hatte. Er beäugte die ihm entgegengehaltene Blechschachtel. «Klar, warum nicht. Zigarillos?»
«Miniaturzigarren, um genau zu sein. Ich würde es nicht meinen Job nennen. Mobiliar ist mehr meine Berufung. Ebenso der Name.» Mobiliar ließ sein Sturmfeuerzeug aufschnappen und zündete sich selbst und Søren die Zigarre an. «Und der Begriff.»
«So wie Ritter? Oder Philosoph?», erkundigte Søren sich vorsichtig und zog ebenso am Objekt zwischen Daumen und Zeigefinger. Es war ein weicher, bräunlicher Zylinder, der die Befürchtung hinterließ, jeden Moment auseinanderzufallen. Über den Geschmack war er sich uneins. Er blies den Rauch aus und sah den vorbeitrabenden Menschenherden zu, welche die beiden Männer auf dem kaputten Sofa wenig zu kümmern schienen.
«Ein tragbarer Vergleich, aber--» Er machte ein verächtliches Geräusch, das irgendwo zwischen Klimpern der Zähne und Schnalzen der Zunge lag. «Diese scheiß Humanisten mit ihrer Wissenschaft und sogenannten Bildung gehen mir gepflegt am Hinterteil vorbei. Ich bin ein Mann der Tat. Wohingegen ich der Gewaltanwendung weniger zugeneigt bin. Außer sie lässt sich nicht vermeiden. Selbstverständlich.»
«Selbstverständlich», murmelte Søren wie er einem Schachboxer zustimmen würde, der das Wort Fraktur falsch buchstabiert. Er beobachtete Mobiliars Mimik. «Aber der Klang als wärst du ein Gewürzboard oder ein Regal ist dir schon klar, gell?»
«Beabsichtigt sogar. Das Regal ist ein liebenswerter Vergleich. Möchtest du--» Er sog langam an seiner Zigarre als würde jede Bewegung sagen 'Wahrlich. Tabakwaren.'
«Nur zu, es gibt eh zu wenig gute Geschichten in dieser Gegend.»
«Beliebe zu widersprechen. Die Geschichten liegen schlichtweg verborgen und wollen nicht einfach gefunden werden. Was wollte ich? Genau. Ist dir jemals aufgefallen wie ihr Menschen» - Sørens Braue zuckte in gekonnter Manier nach oben und verharrte dort - «euch mit ungemeinem Eifer darauf stürzt etwas Besonderes zu sein oder das Spezielle zu suchen?»
«Nicht direkt», gab er zu. «Aber jetzt, wo du es sagst.»
«Es lässt völlig außer Acht, wie anstrengend es, speziell zu sein in einer Welt, die nach Mustern und Bahnen verläuft. Im Großen wie in jedem Einzelnen.»
Søren bekam das Verlangen etwas Intelligentes anzumerken, doch ihm wollte beim besten Willen nichts einfallen, bevor Mobiliar in seinen Ausführungen fortfuhr.
«Ein Regal - manchmal auch eine Couch - ist derart vollkommen in seinem Sinn und somit gleichzeitig eine Selbstverständlichkeit, dass es kaum Beachtung findet.»
«Das ist ja gut und schön, aber--» Er wollte eine Pause nutzen, die der Andere machte, um an seiner Zigarre zu ziehen. «Warum sollte jemand ein Regal sein wollen, wenn er dafür nie beachtet wird und es für niemanden eine Bedeutung hat?»
«Das ist eine gute Frage und gleichzeitig die Antwort.»
Søren seufzte. Eine kleine Promenadenmischung stromerte an ihnen vorbei und sah ihn für einen Augenblick mit Knopfaugen an, während die Sonne langsam hinter der gegenüberliegenden Häuserfront versank. Es roch nach Abendessen. Mobiliar streckte eine Hand nach dem Hund aus und kramte einen Keks für ihn aus seinem Mantel, der wie ein stilisierter Knochen geformt war.
«Was selbstverständlich ist, könnte fast überall sein, ohne dass es jemanden stört, nicht wahr?» Das Lächeln des Mannes wirkte äußerst versonnen; als könnte ihn nichts in der Welt aus der Ruhe bringen, wenn es nicht nötig war. Da erinnerte er sich.
«Moment mal, ich habe sowas schonmal gehört von--»
«Patrick Salinger. Als sie sich vorhin in der Treppenflucht unterhielten. Der Mann hat einen guten Kopf.»
«Woher--?»
«Ich habe diese Couch schon eine Weile im Auge. Sie ist alteingessen und es sind so viele Erinnerung mit ihr verbunden, dass sie ganz selbstverständlich Teil des Lebens geworden ist.»
«Wofür sie jetzt auf den Müll kommt.»
«Oh, ich versichere dir, dieses Möbelstück hat noch lange nicht ausgedient.» Er klopfte die Lehne wie die Flanke eines alten Gauls.
«Dann wünsche ich Ihnen - dir - viel Spaß mit Cervantes, wie auch immer dieser geartet sein sollte.» Søren nahm einen letzten Zug und drückte seine Zigarre in demonstraktiver Langsamkeit auf den Polstern aus, bevor er sich erhob. Den Mann neben ihm schien es nicht zu kümmern, denn er paffte ruhig weiter und warf den Stummel auf den Gehweg. «Jedenfalls ist meine Kapazität für exzentrische Alltagsbegegnungen nun überschritten und ich gedenke durch diese Tür zu gehen.»
«Tu' das. Ich bin auch eigentlich nur des netten Plauschs wegen auf der Durchreise kurz geblieben. Außerdem schadet ein wenig Training deiner Kapazitäten nicht. Für die Dinge, die noch kommen.»
«Ja, was auch immer, eigenartiger Mann. Mobiliar, meine ich natürlich.»
Zwei Schritte von der Tür entfernt, drehte er sich noch einmal um.
«Damit ich die Geschichte auch richtig erzähle, wenn meine Freunde mich für verrückt halten werden: nenne ich dich den Mobiliar, das Mobiliar oder einfach nur Mobiliar?»
Die Fläche, auf der das Sofa gestanden hatte - mit dem Mobiliar, der auf selbigem gesessen hatten - war leer. Es war ja auch nicht so wichtig.