De Profundis

Jun 24, 2011 17:48

Wer stets "höher hinaus" will, muss damit rechnen, dass ihn eines Tages Schwindel überfällt. Was ist das, Schwindel? Angst vor dem Fall? Wieso überkommt uns dann Schwindel auch auf einem Aussichtsturm, der mit einem Geländer gesichert ist? Schwindel ist etwas anderes als Angst vor dem Fall. Schwindel bedeutet, dass uns die Tiefe anzieht und lockt, sie weckt in uns die Sehnsucht nach dem Fall, eine Sehnsucht, gegen die wir uns dann erschrocken wehren.
Der Umzug der nackten Frauen um das Schwimmbecken, die Toten im Leichenwagen, die sich freuten, dass Teresa so tot war wie sie, das war jenes "Unten", das sie entsetzte und vor dem sie schon einmal geflüchtet war, von dem sie aber geheimnisvoll angezogen wurde. Das war ihr Schwindelgefühl: sie vernahm einen süßen, fast fröhlichen Ruf zum Verzicht auf Schicksal und Seele. Sie vernahm einen Ruf zur Solidarität mit den Seelenlosen, und in Momenten der Schwäche wollte sie diesem Ruf Folge leisten und zur Mutter zurückkehren. Sie wollte die Mannschaft der Seele vom Deck ihres Körpers abkommandieren, sich zu den Freundinnen ihrer Mutter setzen und lachen, mit ihnen um das Schwimmbad marschieren und singen.

- aus Milan Kunderas Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins -
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