Erwin Vetter: Die Deutschen aus Russland und historische Phänomene

Jul 04, 2022 20:58

Ich hatte die Absicht schon mehr als vor einem Jahr diese meine Gedanken in der Zeitschrift „Volk auf dem Weg“ der Landsmannschaft der Deutsche aus Russland zu veröffentlichen und mir zu meinem 90. Geburtstag ein Geschenk machen. Jetzt wird dieser Artikel im aktuellen Heimatbuch veröffentlicht. Ich hoffe, dass manche meine Freunde auf dieser Facebook-Seite meine Gedanken, die ich in zwei Teilen hier veröffentliche, teilen werden und bedanke mich bei ihnen im voraus.
Paar Worte zuvor
Thomas Mann hat die Deutschen als „ewige Wanderer“ bezeichnet. Die Deutschen waren schon immer Weltwanderer, in vielen Ländern der Welt waren und sind sie ansässig. Ihre massenhafte Auswanderung aus zertrennten deutschen Ländern begann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach einer Reihe von Manifesten der russischen Kaiserin Katharina II. (die Große, Prinzessin von Anhalt-Zerbst, 1729-96) und dauerte 100 Jahren.
Mit der Einwanderung nach Russland haben die Deutschen auch eine neue Heimat erworben. Aber wenn sie z.B. in Amerika schon in der zweiten Generation Amerikaner wurden, fanden sie in Russland keine Ruhe. Der Begriff Heimat ist für die Deutschen aus Russland ein heikles Thema, da ihre Generationen von Zeit zu Zeit ihre Heimat verloren haben: Freiwilliger Verlust der Heimat und Auswanderung nach Russland; gewaltsame Deportation 1941 und Verlust der kleinen Heimat; Auswanderung aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten nach Deutschland, in die Heimat ihrer Vorfahren. Und jedes Mal hat das ihnen viele Kräfte, sogar Leben, gekostet. In ihrer neuen Heimat Russland haben ihre Generationen viel Schweres durchgemacht, besonders in der Sowjetunion, und dieses Schwere bildet, aus meiner Sicht, phänomenale Erscheinungen.
Phänomen ist ein ungewöhnliches Vorkommnis. Es handelt sich im Allgemeinen um eine Erscheinung, die ungewöhnlich, selten oder bemerkenswert sein kann. Die meisten Phänomene erscheinen in der Natur wie der Sonnenaufgang am östlichen Morgenhimmel, das Polarlicht u.v.a. Aber ein Phänomen kann auch ein Mensch sein oder es kann eine Macht verursachen. Z.B. Leonardo da Vinci war ein Phänomen in der Menschengeschichte.
Ich benutze diesen Begriff für die Ereignisse, die die Deutschen die letzten Jahre im zaristischen Russland und besonders in der Sowjetunion unter dem Tyrann J. Stalin erlebt haben:
- Vernichtung der Deutschen Nationalkreise und Schließung der deutschen Schulen;
- Deportation deutscher Minderheit 1941 wegen ihrer Nationalität;
- Gründung einer Arbeitsarmee (Trudarmee) für deutsche Männer und Frauen;
- Verhaftung und Verbannung auf „ewige Zeiten“ der Millionenköpfigen deutschen Minderheit in der Sowjetunion; „Ohne Schuld Schuldige“;
- Kommandanturaufsicht, Verlust der Freizügigkeit;
- Auswanderung Zehntausender aus zertrennten deutschen Ländern nach Russland und Rückwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten Millionen ihrer Nachkömmlinge nach Hunderten von Jahren nach Deutscnland.
Sind das nicht phänomenale Erscheinungen, die die deutsche Minderheit in der Sowjetunion getroffen hat?
Der Begriff Heimat
Als wir nach der Einwanderung nach Deutschland 1992 seit 1994 in Seligenstadt, Hessen, wohnten, ist unser Bekanntenkreis sehr angewachsen. Meine Ehefrau und ich wurden Mitglieder der Senioren Tanz- und Gymnastikgruppen der Stadt. Unter den Mitgliedern dieser Gruppen waren nicht nur einheimische Deutsche, da waren auch Deutsche, die aus ihrer Heimat Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und anderen Staaten Süd-Ost-Europa nach dem 2. Weltkrieg vertrieben wurden und verloren ihre kleine und große Heimat, aber fanden sie in Deutschland. Manche von ihnen waren noch in ihrer ehemaligen Heimat geboren und als kleine Kinder kamen sie nach Deutschland.
Den Deutschen der ehemaligen Sowjetunion ging ihre kleine Heimat nach dem Staatsumsturz 1917 auch allmählich verloren. Da viele der deutschen Bauern in ihren Kolonien wohlhabend waren, kamen sie mit ihren Familien während der Kollektivierung und der Entkulakisierung (Kulak - wohlhabender Bauer) am Ende der 20er Jahren vorigen Jahrhunderts nach Sibirien und in den Hohen Norden; manche Deutsche flohen aus ihren Orten, um der Entkulakisierung zu entkommen. Endgültig verloren die Deutschen ihre kleine Heimat nach ihrer Deportation 1941 in die östlichen Weiten der Sowjetunion und wurden Heimatvertriebene.
Wieder und wieder tauchten in Gesprächen Fragen auf wie „Warum habt ihr eure Heimat verlassen?“, „Wie fühlt ihr euch in der neuen Umgebung?“, „Wie ging es euch als Deutschen in eurer Heimat?“, „Warum beherrschen manche von euch schwach die Deutsche Sprache?“, „Wann und wie kamen die Deutschen nach Russland?“ u.v.a. Für mich und meine Familie hatte ich eine Antwort auf die erste und wichtigste Frage: „Weil wir Deutsche bleiben wollten.“ Manche wussten gar nicht, dass es in der Sowjetunion so viele Deutsche gab.
Was versteht man unter dem Begriff „Heimat“? Pacurius, ein römischer Tragödiendichter, schrieb: „Ubi bene, ibi patria. Wo es dir gut geht, dort ist deine Heimat.“ Es gibt schöne Aussagen über diesen Begriff. „Man weiß nicht, was man an der Heimat hat, bis man nicht in die Ferne kommt.“ Deutsches Sprichwort. F. Dostojewskij: „Ohne Heimat sein heißt leiden.“ und E.Limpach: „Ein Mensch, der keine Heimat hat, gleicht einem windverwehten Blatt.“ „Heimat ist dort, wo man sich nicht erklären muss.“ I.C. von Herder. Ein schönes kurzes Gedicht von G. Steiger
Der Mensch braucht ein Plätzchen und wär‘s noch so klein,
von dem er kann sagen: Sieh her, das ist mein.
Hier leb´ ich, hier lieb´ ich, hier bin ich zu Haus,
hier ist meine Heimat, hier ruhe ich aus.
Was bedeutet der Begriff „Heimat“, wie kann man ihn definieren? Für diesen Begriff gibt es keine einheitliche Definition. Er verweist meistens auf eine Beziehung zwischen Menschen und Raum. Aber er kann auch „Sprache“, „Nationalität“ u.a. bedeuten. Bei Duden kann man nachlesen: „Land, Landsteil oder Ort, in dem man [geboren und] aufgewachsen ist oder sich durch ständigen Aufenthalt zu Hause fühlt (oft als gefühlbetonter Ausdruck enger Verbundenheit gegenüber einer bestimmten Gegend).
Aus dieser Definition folgt, dass der Mensch eine große (Land, Staat) und eine kleine (Ort, Gemeinde) Heimat hat. Außerdem, daraus folgt, dass der Mensch auch eine andere Heimat haben kann im Unterschied zu der, in der er geboren und aufgewachsen ist.
Die alte Heimat
Als unsere Vorfahren freiwillig nach Russland ausgewandert sind, verloren sie nicht nur Orte, Gemeinden, in denen sie geboren und aufgewachsen sind, tätig waren, wo ihre Ahnen begraben waren (kleine Heimat) u.v.m., sondern auch ihr Land (große Heimat). Nach der Einwanderung hatten sie wieder nicht nur eine große (Russland), sondern auch eine kleine Heimat (die aufgebauten Kolonien) erworben. Und da waren sie über 150 Jahre glücklich, das waren goldene Jahrhunderte ihres Lebens in Russland: Sie erhielten Land vom Staat und haben noch dazugekauft, gründeten Kolonien und Tochterkolonien, nahmen Teil an der Entwicklung der Landwirtschaft, Industrie und anderen Gebieten der menschlichen Tätigkeit, waren aktiv im staatlichen und gesellschaftlichen Leben, erhielten ihre Religionsfreiheit, wurden mit der Zeit wohlhabend u.v.m.
Man nannte in Russland die Menschen aus England Engländer, aus Frankreich - Franzosen, aus Holland - Holländer usw., d.h. ihre Bezeichnung wurde vom Namen ihres Staates abgeleitet. Als die Deutschen massenhaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus den vereinzelten deutschen Ländern nach Russland eingewandert sind, gab es den deutschen Staat noch nicht, so auch das Sammelwort Deutschland für alle deutschen Länder. Es kamen nach Russland Zehntausende, eine große ethnische Gruppe, die in russischer Sprache nicht mächtig waren. Sehr langsam kamen sie in Verbindung mit der einheimischen Bevölkerung, mit der sie keine Unterhaltung führen konnten. Darum wurden sie Stumme genannt, was russisch „nemoj“ heißt. Dieses Wort hat sich mit der Zeit in das Wort Nemez verwandelt, das seitdem die Bezeichnung der Nationalität eines Deutschen in Russland und mit Variationen in allen slawischen Staaten wurde. Bei meiner ersten Reise nach Kroatien in den 90er Jahren vorigen Jahrhunderts habe ich festgestellt, dass Deutschland dort als Njemacka, ein Deutscher - Njemac, eine Deutsche - Njemica (abgeleitet vom Wort Nemez) bezeichnet werden.
Trotz allen Erfolgen der Deutschen in Russland, blieben sie dort fremd. Der Hass gegen die Deutschen in Russland hat spürbar begonnen mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871, und besonders während dem ersten Weltkrieg 1914-18. Im Jahr 1915 wurden tausende Deutschen aus ihrer Heimat von den westlichen Grenzen Russlands nach Asien und Sibirien nur aus einem Grund verschleppt: Ihrer Nationalität nach waren sie Deutsche, Wolhynien-Deutsche. Über diese Verschleppung haben mir Verwandte meiner Ehefrau erzählt, die aus Wolhynien stammte. Das war die erste Schwalbe der Deportation der Deutschen im zaristischen Russland, während welcher sie ihre kleine Heimat verloren haben.
1917 auf Ruinen des zaristischen Russlands entstand ein neuer Staat, die Sowjetunion, ein menschenfeindlicher Staat. Während dem gefolgten Bürgerkrieg 1918-20 kamen viele Menschen ums Leben. In diesen Jahren wurde die Autonome Republik der Deutschen an der Wolga ausgerufen.
Den Bürgern Russlands wurde nicht nur ihr Reichtum entzogen, viele verloren ihr Leben in den schrecklichen Jahren des Bürgerkrieges, in den grausamen und schweren Entkulakisierungs- und Kollektivierungszeiten, schonungslosen Terror-Zeiten. Noch schwerer wurde die Lage der Deutschen in der Sowjetunion, als in Deutschland am Anfang der 30er Jahren vorigen Jahrhunderts die Hitler-Nazi an die Macht kamen.
Es kamen die schlimmen 20er und besonders die blutigen 30er Jahre der Stalin-Terrorzeiten, in denen Millionen Menschen der Sowjetunion in friedlichen Zeiten (!) ums Leben kamen. Während diesen Terror-Jahren standen die Deutschen ganz oben in der Liste der verfolgten Nationen.
Außer der Autonomie der Wolga-Deutschen gab es in der Sowjetunion noch 15 Nationalbezirke, von denen 9 in der Ukraine lagen, und in denen es deutsche Schulen verschiedener Art gab. Diese deutschen Schulen waren schon längst ein Dorn im Auge der Sowjetregierung, besonders als die Nazis in Deutschland an die Macht kamen. Und da waren die Terror-Zeiten eine Möglichkeit für das Regime die deutschen Schulen zu schließen: Es wurden deutsche Lehrer, meistens 1937, verhaftet, und von heute auf morgen wurde der deutsche Unterricht eingestellt, weil keine Lehrer da waren. Das ist mir gut bekannt, weil mein Vater Leiter einer deutschen Schule in Donbass war. In einer Nacht anfangs September 1937 wurden er und alle deutschen Lehrer der Schule verhaftet. In der Schule wurde der Unterricht in russischer Sprache eingeführt. Über die schwierige Lage, die für die deutschen Schüler eingetroffen ist, haben mir Vaters ehemalige Schülerinnen nach 56 Jahren berichtet, die es mir gelungen ist in Kasachstan und Deutschland aufzusuchen. So geschah es in allen deutschen Schulen, als die deutschen Nationalbezirke in der Sowjetunion seit 1938 nicht mehr existierten. Wie Stalin behauptete, es wurde im Staat eine Politik betrieben, die national der Form nach und sozialistisch dem Inhalt nach war. Aber schon nur die Schließung der deutschen Schulen war ein Beispiel gegen diese Stalins Behauptungen. Es blieben nur noch deutsche Schulen in der Autonomie der Wolgadeutschen.
Nach dem Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges 1941 laut dem Ukas des Obersten Sowjets (Parlament) wurde die Autonomie der Wolgadeutschen aufgelöst, die letzten deutschen Schulen in der Sowjetunion geschlossen, und es wurden jetzt alle Deutschen der Sowjetunion in die östlichen und nördlichen Weiten der unermeßlich großen Sowjetunion verschleppt und zerstreut angesiedelt: Sie verloren ihre kleine Heimat. Jetzt hat die Sowjetregierung das vollendet, mit dem die zaristische Regierung 1915 begonnen hat: Vertreibung der Wolhynien-Deutschen. Und das war der Preis für hundertjährige große Verdienste der Deutschen in verschiedenen Gebieten der menschlichen Tätigkeit, besonders ihre großen Erfolge in ihrer Pionierarbeit in der Landwirtschaft!
„In der Ferne erfährt man, was die Heimat wert ist, und man liebt sie dann umso mehr.“ E.Wickert. Um zu verstehen, was es heißt seine Heimat zu verlieren, muss man das ähnliche erleben. Louis Ferdinand Prinz von Preußen schrieb in seinem Buch „Im Strom der Geschichte“: „Ein Westdeutscher kann eben nicht nachfühlen, wie schwer wir Vertriebene an dem Verlust unserer geliebten Heimat tragen müssen.“
War das nicht noch ein historisches Phänomen nach der Schließung der deutschen Schulen? Nur wegen ihrer deutschen Nationalität wurde die ganze deutsche ethnische Minderheit 1941 bestraft, sie verlor ihre kleine Heimat, die Deutschen wurden Heimatvertriebene. Nach diesem heftigen Schlag hat sich die deutsche Minderheit in der Sowjetunion nicht mehr erholt.
Das nächste historische Phänomen war die Gründung einer nationalen Arbeitsarmee (Trudarmee) 1942 nur für die deutschen Männer und 1943 für die deutschen Frauen. Ich und meine Schwester haben diese schweren Zeiten erlebt, als unsere Mutter in die Trudarmee einberufen wurde, und wir mit unserer alten Oma zurückgeblieben sind, was für uns mit der Schwester ein Glück war, uns wurde das Kinderheim erspart geblieben. Für mich war es mit der Schule aus, schon mit 12 Jahren musste ich tätig sein, um nicht zu verhungern. Das ist das traurigste Kapitel in der Geschichte der Deutschen in der Sowjetunion. Jetzt waren die deutschen Familien endgültig zerstört, die Kinder blieben ohne Eltern (die Väter waren schon früher verhaftet und vernichtet, die Mütter kamen in die Trudarmee), es gab unzählige deutsche Waisenkinder. Viele von ihnen kamen in die Kinderheime, wo oft den kleinsten ihre deutsche Abstammung geändert wurde, und sie sind für immer und ewig für ihre Familien verloren gegangen. Über ein Drittel der Deutschen, die in die Trudarmee mobilisiert waren, kamen ums Leben, die Trudarmee war für sie ein Massengrab. Mit bitterer Ironie habe ich das in einem Vier-Zeilen-Gedicht ausgedrückt:
Die Deutschen können sehr stolz sein:
Nur sie erhielten Recht vom Staat
ein Massengrab für sich errichten.
Die Trudarmee war´s in der Tat.
Und das ist noch nicht alles, es kam das nächste Phänomen: Eine Jugend-Trudarmee! 1946 wurden die 15- jährigen deutschen Jungs von ihren Familien getrennt und in die Kohlengruben von Karaganda gebracht. Ich sollte auch wegen meinem Alter einberufen werden. Meine Mutter wollte das nicht zulassen und hat gemeldet, dass sie ihren Pass, in dem ich eingetragen war, „verloren“ hat. Vom Dorfrat bekam sie eine Bescheinigung, dass E. Vetter 1932 geboren ist, und ich wurde verschont. Das und vieles andere habe ich in meinem Buch „Hunderte von Jahren unterwegs Familiensaga“ beschrieben.
Der Krieg war zu Ende. Die Deutschen haben gehofft, dass sie jetzt in ihre Heimatorte zurückkehren dürfen. Vergebliche Hoffnungen! Die Sowjetregierung hat das nicht zugelassen. Am 26.11.1948 erschien das Dekret des Obersten Sowjets: Verbannung auf „ewige Zeiten“! Verlassen der Ansiedlungsorte ohne Sondergenehmigung wurde mit 20 Jahren Sklavenarbeit bestraft. Das war das nächste historische Phänomen: Eine ganze ethnische Minderheit wurde nicht nur verschleppt, sie wurde grundlos verhaftet auf ewige Zeiten! Ohne Schuld Schuldige! So etwas gab es noch nicht in der Jurisprudenz. Alle Deutschen, die volljährig waren, mussten mit diesem Urteil ein Formular unterzeichnen. Zu dieser Zeit wohnte ich in der Stadt Pawlodar, Kasachstan. Es muss bestimmt im Stadt-Archiv ein solches Formular mit meiner Unterschrift geben.
Jetzt kam das nächste historische Phänomen, die Kommandanturaufsicht, und die Deutschen mussten sich jeden Monat melden und durch ihre Unterschrift beweisen, dass sie ihren Wohnort nicht verlassen haben. Die Deutschen verloren ihre Freizügigkeit. Das sowjetische Pass-System hat ermöglicht die Deutschen in ihren Verbannungsorten festzuhalten. Sie bekamen zweiblättrige Ersatzpässe, und auf der letzten Seite wurde der Ort eingetragen, in dem sie wohnen mussten. Ich kann mich noch gut an meinen Pass von 1948 erinnern, in dem schwarz auf weiß auf der letzten vierten Seite das wichtigste für die Behörden und das Erniedrigende für mich eingetragen war: “Es ist erlaubt im Dorf Lebjashje, Kreis Lebjashje, Gebiet Pawlodar Kas. SSR zu wohnen.“
Jetzt waren die Deutschen als Sondersiedler nicht nur verschleppt, sie waren ohne Schuld die Schuldigen und wurden verhaftet. Ihre Wohnorte waren ihre Zellen und die Grenzen ihrer Wohnorte waren ihre Gitter.
1956 wurden die Kommandanturen aufgehoben, die Deutschen bekamen zurück ihre Freizügigkeit mit einer Ausnahme: Sie durften nicht in ihre ehemaligen Wohnorte zurückkehren, um ihnen ihr konfisziertes und geraubtes Vermögen nicht zurückgeben zu müssen. Während der ganzen Sowjetzeit wurden die Deutschen ohne jeglichen Grund als die 5. Kolonne Deutschlands abgestempelt, sie blieben Bürger 2. Klasse im Staat, sie waren die ungeliebten Stiefkinder ihrer Heimat.
Die Trudarmee wurde offiziell 1947 aufgelöst. Aber nicht alle in der Trudarmee am Leben gebliebene Deutschen konnten zu ihren Familien zurückkehren. Erst nach der Aufhebung der Kommandantur konnten die letzten Mobilisierten sich mit ihren Familien treffen.
Die Sowjetunion war ein großes Konzentrationslager, in dem Archipel GULag herrschte. Das ganze Land war mit einem dichten Netz aus Spitzeln bedeckt, die Sowjetunion war ein Polizeistaat. Nur so konnte die kommunistische Clique im Land herrschen. Ich habe das sehr nah erlebt, als ich als 30-jähriger einen Monat lang spät in die Nacht gequält wurde, um aus mir einen Spitzel zu machen. Und heute bin ich auf mich stolz, dass ich diesen Druck ausgehalten habe.
„Es ist nichts auf der Welt wie die Heimat so schön.“ Von jeher war es nicht leicht einem Menschen seine Heimat zu verlassen, das Land und den Ort, in dem er geboren, lebte und verwurzelt war, dessen Sprache er sprach. Massenhafte Auswanderung zehntausender Deutschen aus den zertrennten deutschen Ländern und ihre Einwanderung nach Russland unter der Zarin Katharina II. begann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Nach Hunderten von Jahren ihres Lebens in Russland und der Sowjetunion ist Ende des 20. Jahrhunderts die Sowjetunion wie ein Koloss auf tönernen Beinen zusammengebrochen. Der Weg zur massenhaften Auswanderung der Deutschen in die Heimat ihrer Vorfahren war frei.
Als die Sowjetunion am Anfang der 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts zerfallen ist, kam in Bewegung ein gewaltiger Strom der Auswanderung Millionen von Deutschen aus der Ex-Sowjetunion und ihrer Nachfolgestaaten nach Deutschland. In diesen Hunderten von Jahren bildeten die Aus- und Einwanderungswege eine geschlossene Kurve mit Anfang und Ende in Deutschland.
Ist das nicht ein historisches Phänomen? Es scheint, als ob Zehntausende Deutsche auf einer Dienstreise waren, die Hunderte von Jahren dauerte. Und jetzt kehren Millionen ihrer Nachkömmlinge in die Heimat ihrer Vorfahren zurück.

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