Das Leben der anderen Angela Merkel

Jan 28, 2020 16:27

13.05.2013
Wie viel DDR steckt in der BUNDESKANZLERIN? Eine neue Biografie enthüllt bislang unbekannte Details aus ihrer Zeit im Sozialismus


Die damalige Studentin und heutige Bundeskanzlerin Angela Merkel (3.v.r.) posiert vor dem Veitsdom auf der Prager Burg
Dass irgendetwas mit der DDR nicht stimmen konnte, erzählt die Bundeskanzlerin gern, habe sie schon als Kind bemerkt. Gemeinsam mit Klassenkameraden sammelte sie nach der Schule im nahe gelegenen Wald Blaubeeren und verkaufte sie an die Handelsgenossenschaft für Obst und Gemüse in Templin. Diese zahlte damals für ein Kilo Blaubeeren vier Mark. Weil die Waldfrüchte allerdings vom Staat subventioniert wurden, bot die Genossenschaft das Kilo im Handel wieder nur für zwei Mark an. „Einer hat verkauft, der Zweite ist nach einer Stunde in den Laden und hat gefragt, ob es Blaubeeren gibt. Da hat er dann für zwei Mark das Kilo wieder kaufen können“, erinnerte sich Angela Merkel einmal mit Schmunzeln. Und es dann für vier Mark wieder verkauft.
Nur selten äußert sich Angela Merkel über die Zeit in der DDR. Sie selbst sagte einmal, man wisse in den alten Bundesländern „über 35 Jahre meines Lebens kaum etwas“. Doch wie erging es der heutigen Bundeskanzlerin im „Arbeiter- und Bauernstaat“? Welche Erfahrungen machte sie, welche prägen sie noch heute? Der Historiker Ralf Georg Reuth und der Journalist Günther Lachmann haben Angela Merkels Zeit in der DDR recherchiert und zeichnen in ihrem Buch „Das erste Leben der Angela M.“ eine der ungewöhnlichsten Biografien der jüngeren Vergangenheit nach: von der Pfarrerstochter im Sozialismus zu einer der mächtigsten Frauen in der freien, westlichen Welt.
Bereits vor Erscheinen diese Woche wurde das Buch breit diskutiert und löste teils heftige Reaktionen aus. Der FOCUS druckt exklusive Auszüge und veröffentlicht bislang unbekannte Details aus dem ersten Leben der Kanzlerin.
Das rote Pfarrhaus


Angela Kasner (l.) spielt im brandenburgischen Himmelpfort mit Freunden Volleyball
Warum geht ein evangelischer Pfarrer freiwillig vom Westen in den Osten? Nur „Kommunisten oder wirkliche Idioten“ würden das machen, habe ihm der Umzugsunternehmer gesagt, erinnerte sich Horst Kasner, der Vater von Angela Merkel, viele Jahre später an die Übersiedlung seiner Familie von Hamburg ins brandenburgische Dorf Quitzow. Zu einer Zeit, als jeden Monat Zehntausende dem „Arbeiter- und Bauernstaat“ den Rücken kehrten, zog der junge Theologe, dessen Tochter gerade wenige Wochen alt war, in die DDR.
„Der spätere Hamburger Bischof Hans-Otto Wölber habe ihm gesagt, dass er in Brandenburg gebraucht werde, weil die Kirche dort nicht genügend Pfarrer habe“, beschreiben Reuth und Lachmann die Umstände des Umzugs. „Gewiss lag seiner Entscheidung auch eine Haltung zu Grunde, die dem damaligen Schwarz-Weiß-Schema des Kalten Krieges zuwiderlief. Denn linke protestantische Kreise standen Adenauers West-Integrations-Politik, seinem Wiederbewaffnungskurs und seiner konsequenten Ablehnung des Moskauer Angebots, ein neutrales Gesamtdeutschland zu schaffen, ablehnend gegenüber. Mehr Sozialismus lautete dort die Losung.“
Angela Merkels Leben in der DDR, so eine der Kernthesen der neuen Biografie, ist ohne ihren Vater nicht zu verstehen. Zu ihm habe sie aufgeblickt, ihn habe sie bewundert, seine Zuneigung habe sie gesucht. Und dieser Horst Kasner sei überzeugter Sozialist gewesen, der sich im Lauf der Jahre immer mehr gegen den Westen wandte.
Der wortgewandte Import aus der Bundesrepublik, schreiben die Autoren, erregte bei den Kirchenoberen im Osten bald Aufmerksamkeit. Albrecht Schönherr, Superintendent des Kirchenkreises Brandenburg an der Havel, verschaffte dem Hilfsprediger Kasner 1957 eine bessere Stelle: In Templin in der Uckermark sollte unter seiner Leitung ein Seminar für kirchliche Dienste entstehen. Von seinem Förderer Schönherr wurde Kasner auch in den „Weißenseer Arbeitskreis“ eingeführt, in dem die „Vorzeige-Theologen des SED-Staats“ versammelt waren.
Die „Weißenseer“, bei denen Kasner viel Zeit verbrachte und in deren Leitungsgremium er aufrückte, brachten Verständnis auf für den Mauerbau und traten dafür ein, dass die Kirche sich in den Dienst der sozialistischen Gesellschaft stellen sollte: „In den Sieben Sätze(n) von der Freiheit der Kirche zum Dienen vom November 1963 theologisierten die Autoren den von der SED gepredigten Antifaschismus. Die Zusammenarbeit mit der (angeblich) antifaschistischen Staatsmacht wurde ... zur Christenpflicht erhoben, um eine Wiederholung der Hitler-Barbarei zu verhindern.“
Das Buch beschreibt den Vater der späteren Bundeskanzlerin, der in seiner Gemeinde auch der „rote Kasner“ genannt wurde, als einen Mann, der eine „teilweise feindselige Haltung“ gegenüber der Bundesrepublik entwickelte - eine Haltung, die er zeit seines Lebens, Kasner starb 2011, nicht mehr ändern sollte.

FOCUS Titel: Die DDR-Vergangenheit der Kanzlerin
Die Muster-Schülerin


Angela Kasner (2. Reihe, Mitte, leicht verdeckt) mit ihren Schulfreunden aus der 10. Klasse der Polytechnischen Oberschule Templin/Brandenburg
Angela Kasner wurde 1961, im Jahr des Mauerbaus, in Templin eingeschult. Sie war eine ausgezeichnete Schülerin, die nur Einsen und Zweien mit nach Hause brachte. Etwas anderes wurde von ihr auch nicht erwartet: „Ihr seid Pfarrerskinder! Ihr müsst immer etwas besser sein als die anderen“, gab Mutter Herlind ihrer Tochter und deren Bruder Marcus mit auf den Weg.
Mit besonderer Begeisterung lernte Angela Russisch. In der neunten Klasse gewann die Muster-Schülerin die Russisch-Olympiade der DDR. Zur Belohnung durfte die „Kasi“, wie sie ihre Mitschüler nannten, 1970 nach Moskau reisen und dort an der Internationalen Russisch-Olympiade teilnehmen.
Seit dem zweiten Schuljahr trug Angela das blaue Halstuch der Jungen Pioniere, einer Unterorganisation der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Zwingend notwendig, so schreiben die Autoren, wäre das nicht gewesen, „denn zu jener Zeit, als sie die Grundschule besuchte, hatte die DDR-Bevölkerung die Mitgliedschaft ihrer Kinder in den Jugendorganisationen des Staats längst noch nicht mehrheitlich akzeptiert. Im Jahr 1959 waren nur rund die Hälfte aller Grundschüler auch Pioniere.“ Merkel selbst erzählte später, sie wollte einfach mitmachen, „die anderen Kinder gingen ja schließlich auch hin“.
Der FDJ blieb Angela Kasner ihre gesamte Schullaufbahn über verbunden. Auffällig an der ansonsten unauffälligen Schülerin sei bestenfalls gewesen, „dass sie in der SED-Jugendorganisation gern organisatorische Führungsaufgaben übernahm. Nach Erinnerung von Mitschülern war Angela auch in der FDJ ihrer Klasse führend. Und das zahlte sich schließlich aus. Für hervorragende gesellschaftliche und schulische Leistungen wurde sie nach der zehnten Klasse mit der Lessing-Medaille in Silber ausgezeichnet.“
Ärger bekam die Schülerin Kasner nur ein einziges Mal in ihrer Schullaufbahn: Anstatt ein Kulturprogramm gemäß dem Motto „Solidarität mit Vietnam“ zu entwerfen, trug Angela Kasners Klasse 12b das Gedicht „Mopsenleben“ von Christian Morgenstern vor. „Dann sangen sie die Internationale - nicht etwa auf Deutsch oder Russisch, sondern auf Englisch, und verließen die Bühne“, erinnert sich der damalige Klassenlehrer Charly Horn.
Morgensterns „Mops-Gedicht“ kostete Angela Kasner den Posten der stellvertretenden FDJ-Sekretärin und beinahe auch den Studienplatz. Vater Kasner „setzte damals alle Hebel in Bewegung, um seine Tochter vor möglichen Repressionen des Staats zu bewahren. Zunächst wandte er sich an seinen Freund und Förderer, Bischof Schönherr, der die Angelegenheit im Staatssekretariat für Kirchenfragen vortrug. Parallel dazu schrieb Superintendent Kasner eine Petition an die SED-Bezirksleitung. Mit dem Schreiben schickte er seine Tochter Angela zu dem ihm wohlgesinnten obersten Kirchenjuristen, zu Konsistorialrat Manfred Stolpe, nach Berlin, der die Petition weiterreichen sollte.“ Letztendlich endete der Streich für Angela Kasner glimpflich: Sie erhielt einen Verweis für die „politische Provokation“. Im Zeugnis tauchte die Schulstrafe nicht auf.
Studentin in der FDJ


Angela Merkel im Wandel der Zeit von 1991 bis heute
Die Einser-Abiturientin Angela Kasner begann im Herbst 1973 ihr Studium in Leipzig. Die Entscheidung für ihr Fach Physik begründete sie später pragmatisch: „Bei der Wahl des Studiums hat schließlich auch den Ausschlag gegeben, dass ich für Physik eine Empfehlung bekommen konnte. Hätte ich Psychologie studieren wollen, hätte ich sicher keine erhalten.“ Und weiter sagte sie über ihre Studienzeit: „Ich war keine schlechte Studentin, aber ich musste oft auch viel arbeiten.
Neben dem Studium engagierte sich Angela Kasner weiter in der FDJ. Reuth und Lachmann beschreiben ihre Aufgaben folgendermaßen: „Jede Hochschule hatte eine FDJ-Leitung, bei großen Universitäten wie der Karl-Marx-Universität in Leipzig war dies sogar eine FDJ-Bezirksleitung. Jede Sektion, wie die Fakultäten nach der Hochschulreform hießen, verfügte über eine FDJ-Grundorganisation (GO). Angela Merkel war gar nicht lange nach den Ereignissen um die Vietnam-Solidaritätsveranstaltung am Ende ihrer Schulzeit Angehörige einer solchen GO. Als Propagandistin, wie sie als GO-Funktionärin genannt wurde, nahm sie an Schulungen teil und hatte den Studenten im Zuge des FDJ-Studienjahrs die vorgegebenen Polit-Themen zu vermitteln.“
Ehe mit Herrn Merkel


Die damalige Bundesministerinfür Familie und Jugend, Angela Merkel 1992 mit Studenten des 42. Internationalen Jugendfestspieltreffens beim traditionellen Picknick im Park des Festspielhauses in Bayreuth
Noch etwas beschäftigte Angela Kasner zu dieser Zeit in Leipzig: die Liebe. Sie, die laut einem Klassenkameraden während ihrer Schulzeit zur „CDU - zum Club der Ungeküssten“ - gehörte, hatte 1974 Ulrich Merkel kennen gelernt, Physikstudent wie sie. „Angela fiel mir auf, weil sie ein sehr freundliches, offenes und natürliches Mädchen war“, erzählte Merkel im Jahr 2004 im FOCUS. Sie war damals 20, er ein gutes Jahr älter. 1977 heirateten die beiden in Templin. Kirchlich, auf ihren ausdrücklichen Wunsch. „Getraut wurde sie nicht vom Vater, sondern von einem jüngeren Kollegen. Sie trug ein blaues Kleid. Blau ist ihre Lieblingsfarbe“, berichten die Autoren.
Die Ehe hielt nur wenige Jahre. Angela Merkel beschreibt das Ende so: „Wir haben geheiratet, weil alle geheiratet haben. Das hört sich heute blödsinnig an, aber ich bin in die Ehe nicht mit der nötigen Ernsthaftigkeit gegangen. Nach drei Jahren waren wir geschieden. Ich hatte mich getäuscht.“ Sie verließ die gemeinsame Berliner Wohnung mit der Waschmaschine, er behielt die restlichen Möbel.
Hans-Jörg Osten, „SED-Mann mit den allerbesten Beziehungen“ (Reuth/Lachmann) und Kollege an der Akademie der Wissenschaften, an der Merkel damals forschte, half ihr, eine leer stehende Wohnung im Prenzlauer Berg zu beziehen. Freunde aus der FDJ knackten „das Türschloss mit der Bohrmaschine und renovierten die eineinhalb Zimmer. Jeder brachte ein Möbelstück vorbei.“
Die Gewerkschaftlerin


Angela Kasner (heute Angela Merkel) bereitet im Juli 1973, nach ihrem Abitur mit Freunden beim Camping im brandenburgischen Himmelpfort in der damaligen DDR auf einer Feuerstelle ein Essen zu
Für ihre Diplomarbeit erhielt Angela Merkel im Juni 1978 die Note „sehr gut“. Auf Empfehlung ihres Professors ging sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an die Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin. Dort wollte sie promovieren. Reuth und Lachmann schreiben: „Mit ihrem Arbeitsplatz an der Akademie war Angela Merkel an einem der bevorzugten Orte in der DDR angekommen.“
Die junge Physikerin verdiente 650 Mark und integrierte sich schnell in den Betrieb an der Akademie. „Sie vertrete eine saubere politische Haltung. Sie sei in Diskussionen Argumenten zugänglich und sage ihre Meinung. Bei ihr stimmen (...) die Haltung und die Handlungen überein, urteilte einer ihrer Kollegen, der noch hervorhob, dass sie sich als Funktionärin in der FDJ betätigte.“
Die FDJ an der Akademie, heißt es im Buch, unterschied sich „hinsichtlich ihrer Eingliederung in die Gesamtstruktur der Partei-Jugendorganisation. Die Kreisleitung, ihr höchstes Organ, war nicht irgendeiner Bezirksleitung unterstellt, sondern unmittelbar dem Zentralrat der FDJ, dessen Vorsitzender damals Egon Krenz hieß. Die FDJ an der Akademie war also ganz oben in der Hierarchie angesiedelt.“
Wie Merkels Engagement in der FDJ ihres Instituts aussah, darüber gibt das Buch detailliert Auskunft: Merkel war als „Propagandistin“ für die FDJ tätig. „Die Propagandisten wurden regelmäßig von der Kreisleitung geschult. Von dort bekamen sie auch die Themen für Veranstaltungen vorgegeben, die sie an ihrem Institut in aller Regel ein- bis zweimal im Monat abzuhalten hatten. Dabei ging es um Fragen des Marxismus-Leninismus, um die Auswertung von SED-Parteitagen sowie um die aktuelle Auseinandersetzung mit dem Klassenfeind.“
Zeitzeugen, die Reuth und Lachmann anführen, bestätigen dies: „Angela Merkel war Sekretärin für Agitation und Propaganda“, erklärt ihr damaliger Akademie-Kollege, der Mathematiker Gunter Walther. „Aber auch Hans-Jörg Osten sagt es, der im Oktober 1981 für Walther FDJ-Sekretär der Grundorganisation am Institut wurde und damals ebenfalls ein guter Freund von ihr war. Als Beauftragte für Agitation und Propaganda sei sie für das sogenannte Studienjahr zuständig gewesen, beteuern die beiden. So etwas gab es auch bei der SED, da hieß es genauso, erinnert sich Walther.“
Merkel selbst bestreitet diese Rolle. Sie sei „Kulturbeauftragte“ gewesen und habe lediglich „Theaterkarten besorgt, Buchlesungen organisiert“, sagte sie 1991 in einem Interview mit der FAZ.
Merkels späterer Förderer, der ehemalige Bundesverkehrsminister Günther Krause, widerspricht im Buch dieser Darstellung vehement: „Sie sei zweifellos Sekretärin für Agitation und Propaganda gewesen. Sie hat dort nicht die idealistische Weltanschauung der CDU propagiert, sondern Marxismus-Leninismus (...) Agitation und Propaganda, da ist man verantwortlich für die Gehirnwäsche im Sinne des Marxismus. Das war ihre Aufgabe, und das war keine Kulturarbeit. Agitation und Propaganda, das war die Truppe, die alles, was man in der DDR zu glauben hatte, in die Gehirne der Leute abzufüllen hatte mit allen ideologischen Tricks, sagt Krause. Und was mich ärgert an dieser Frau, ist schlicht und einfach der Sachverhalt, dass sie nicht zugibt, in der DDR eine Systemnähe gehabt zu haben. Sie war fachlich nicht unverzichtbar an der Akademie der Wissenschaften. Sie war aber durchaus nutzbar als Pfarrerstochter im Sinne des Marxismus-Leninismus. Und das verdrängt sie. Das ist aber die Wahrheit.“
Merkels Engagement ging aber noch weiter. Reuth und Lachmann enthüllen, was bislang nicht bekannt war: „Sie gehörte auch der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) der Akademie an. Die Einheitsgewerkschaft Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB) gliederte sich in Unternehmen, Krankenhäusern und Verwaltungen in von der SED kontrollierte betriebliche Grundorganisationen. Im Mittelpunkt der Arbeit der BGL standen die Arbeitsorganisation, die Verteilung von Ferienplätzen, aber auch die ideologische Schulung. Dies bedeutete in Zeiten der NATO-Nachrüstung die geistige Mobilmachung, die Maximierung der wissenschaftlichen Forschungsarbeit, um gegen den umfassendsten und gefährlichsten Gegenangriff des Imperialismus auf den Frieden und die Sicherheit der Völker seit der Periode des Kalten Krieges gewappnet zu sein.“
Wie aus dem Protokoll der konstituierenden Sitzung vom 11. November 1981 hervorgehe, sei Angela Merkel eine von neun Angehörigen der BGL gewesen. „Sie zeichnete für die Jugendarbeit verantwortlich, also für die Mitarbeiter der Akademie, die die 30 noch nicht überschritten hatten. Und sie zeigte in ihrem Zuständigkeitsbereich Engagement. So heißt es etwa in einem Sitzungsprotokoll: Als Jugendvertreterin in der BGL berichtete Koll. Merkel über die Tätigkeit der FDJ-Grundorganisation am ZIPC, Probleme junger Wissenschaftler und Mitarbeiter des technischen Bereichs (...).“
Merkel in einer Stasi-Akte
Im Überwachungssystem der DDR blieb auch ein FDJ- und Gewerkschaftsmitglied wie Angela Merkel nicht von der Beobachtung durch das Ministerium für Staatssicherheit verschont. Merkel selbst, wie auch ihr Vater, das betonen Reuth und Lachmann ausdrücklich, hatten alle Anwerbeversuche durch die Staatssicherheit abgelehnt.
Die Berichte über Merkel verfasste ihr Akademie-Kollege Frank Schneider, alias IM „Bachmann“. Er bestätigte ihr eine „gefestigte Haltung zum Staat“, stellte Mutmaßungen über „kirchliche Tätigkeiten“ an, berichtete von Merkels „Liebschaften“ und von Mitte der 80er-Jahre an auch über ihre Beziehung zu dem Chemiker Joachim Sauer, den sie am 30. Dezember 1998 heiratete.
IM „Bachmann“ notierte auch einen Vorfall, den Reuth und Lachmann als Beleg dafür heranziehen, dass Merkel als Nachwuchsfunktionärin und Mitglied der Akademie inzwischen zur „Elite im SED-Staat“ gehörte. Auf der Rückreise aus Polen, Merkel besuchte das Land 1981 dreimal, kontrollierten DDR-Grenzer ihre Tasche. „Die Männer schickten eine Sofortmeldung mit der Nummer 04-32-293-31 an die Hauptverwaltung Berlin, Operativstab, denn sie hatten in ihrer Tasche zwei Fotos vom Denkmal einer Solidarnosc-Märtyrerin in Gdynia (Gdingen), eine Solidarnosc-Zeitschrift und ein Solidarnosc-Abzeichen gefunden.“
Merkel erzählte den Grenzern, polnische Freunde hätten sie und ihren Begleiter zu dem Solidarnosc-Denkmal geführt und ihnen die Andenken geschenkt. „Weil sie nicht unhöflich sein wollte, habe sie die Gegenstände behalten. Außerdem habe sie überhaupt nicht gewusst, was es mit den Gegenständen auf sich habe. Wörtlich schreibt der Grenzer: der buergerin war nicht bekannt, dass solche gegenstaende zur einfuhr in die ddr nicht zugelassen sind. Und dann erzählte sie ihnen noch, dass sie nicht Polnisch spreche und die Zeitschrift gar nicht lesen könne.“
Andere, zu diesem Schluss kommen jedenfalls Reuth und Lachmann, hätten bei so einem Vorfall die „Staatssicherheit auf dem Hals“ gehabt.
Reform-Kommunistin?


Angela Merkel war Mitglied in Massenorganisationen in der DDR
Glasnost“ und „Perestroika“ - „Offenheit“ und „Umbau“ - die beiden Schlagworte, mit denen der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion den Sozialismus reformieren wollte, elektrisierten auch die russlandbegeisterte Angela Merkel. „Der Diplom-Quantenchemiker Michael Schindhelm erinnert sich, dass die Kollegin aus dem Nachbarbüro jeden Tag zweimal ein Tablett mit türkisch gebrühtem Kaffee auf meinem Schreibtisch abstellte, wir diese Welt aus Computerlistings, Lochkarten und Reviews beiseitelegten und uns mit den phantastischen Entwicklungen im Perestroika-Land beschäftigten“, beschreiben Reuth und Lachmann die Atmosphäre in der Akademie.
Merkel, die in der „Prawda“ die Reden Michail Gorbatschows und die Parteitagsbeschlüsse der KPdSU nachlas und so darüber informiert war, wie sehr die Führung der Sowjetunion auf Distanz zur Spitze der SED ging, fand erst spät zu Reform-Gruppen. Im September 1989 besuchte sie das Pastoralkolleg in Templin. Dort diskutierten neben ihrem Vater, der sich inzwischen von der SED distanziert hatte, unter anderem ihr Bruder Marcus und das spätere Vorstandsmitglied des „Demokratischen Aufbruchs“, Günter Nooke, über die politische Lage. „Ein wiedervereinigtes Deutschland“, heißt es in der neuen Biografie, lag zu diesem Zeitpunkt „außerhalb ihrer Vorstellungskraft, nicht nur weil es nicht in die bipolare Welt gepasst hätte, sondern weil sie das westliche Gesellschaftssystem strikt ablehnten.“ Zur Frau des Bochumer Theologieprofessors Christofer Frey soll Angela Merkel damals gesagt haben: „Wenn wir die DDR reformieren, dann nicht im bundesrepublikanischen Sinne.“
Wie sie den Mauerfall am 9. November 1989 erlebt hat, darüber hat Angela Merkel in ihrer nüchternen Art Auskunft gegeben: „Ich habe Günter Schabowski im Fernsehen gesehen und dann meine Mutter angerufen. Wir hatten zu Hause immer den Spruch Wenn die Mauer mal weg ist, gehen wir ins Kempinski Austern essen. Ich habe ihr gesagt, es sei jetzt so weit. Dann bin ich wie jede Woche in die Sauna gegangen.“ Als sie dann aber auf dem Rückweg von der Sauna - gegen 21 Uhr - an der Bornholmer Straße vorbeigekommen sei, sei sie mit der dortigen Menschenmenge über die Grenze nach Westberlin gegangen. Irgendwann habe sie dann im Wohnzimmer einer fröhlichen Westberliner Familie gesessen. „Die wollten dann alle noch auf den Kudamm, aber ich bin lieber zurückgegangen, ich musste am nächsten Morgen früh raus. Und so viel fremde Company - jetzt war es erst mal genug.“
Wo stand Angela Merkel in dieser entscheidenden Frage?


Ein neues Buch beschäftigt sich mit Angela Merkels Vergangenheit in der DDR
Zu dieser Zeit gehörte Angela Merkel bereits zur Oppositionspartei Demokratischer Aufbruch (DA). Seit Oktober hatte sie Kontakt zu dem späteren DA-Vorsitzenden, dem Ost-Berliner Anwalt Wolfgang Schnur, gehabt. Wie die meisten Oppositionsgruppen setzte auch der DA auf einen „demokratischen Sozialismus“ in einer eigenständigen DDR. Ein großer Teil der Bürger dagegen skandierte schon bald: „Wir sind ein Volk.“
Wo stand Angela Merkel in dieser entscheidenden Frage? Ein Dokument, das Reuth und Lachmann erstmals veröffentlichen, zeigt, dass sie sich - wie Millionen andere DDR-Bürger - Ende des Jahres 1989 offenbar noch nicht völlig vom Projekt eines „demokratischen Sozialismus“ verabschieden wollte.
Linke Intellektuelle, darunter die Schriftsteller Christa Wolf und Stefan Heym, hatten im November 1989 den Aufruf „Für unser Land“ veröffentlicht, in dem sie die Bevölkerung vor die Wahl stellten: Entweder eine „solidarische Gesellschaft“ auf dem Boden der DDR oder ein „Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte“, sprich Übernahme durch den Westen. Merkel reagierte in einem offenen Brief an Christa Wolf: „Wenn Sie noch an die Zukunft des Sozialismus glauben, dann wäre es notwendig gewesen, einen Entwurf für dessen Realisierung voranzustellen und nicht lediglich zu polemisieren. Gerade an gangbaren und einsichtigen Zukunftsvisionen mangelt es zur Zeit. Im übrigen haben 40 Jahre DDR vielen das einstmals so hoffnungsvolle Wort Sozialismus verleidet. Wir glauben, daß Sie diesem Land in der augenblicklichen Situation mit einer auch noch so forcierten Unterschriftensammlung keinen guten Dienst erwiesen haben.“
Wie konnte Angela Merkel, die noch im Dezember 1989 „gangbare Zukunftsvisionen“ für den Sozialismus anmahnte, bereits 13 Monate später als Familienministerin ins Kabinett Helmut Kohl einziehen? Wie konnte aus der „Reform-Kommunistin“ der Wendezeit binnen eines Jahrzehnts die Vorsitzende der CDU werden und inzwischen als Bundeskanzlerin sogar die laut „Forbes“ „mächtigste Frau der Welt“?
„Wie viel DDR steckt in Angela Merkel?“, fragten sich bereits mehrere Biografen der Kanzlerin, ohne eine schlüssige Antwort liefern zu können. Sie selbst würde wohl keinen entscheidenden Zusammenhang zwischen ihrem ersten Leben und der späteren Politkarriere herstellen. „Mich verband mit diesem Land überhaupt nichts. Ich habe die DDR nie als mein Heimatland empfunden“, erklärte sie Jahre später.
Ralf Georg Reuth und Günther Lachmann zeigen in „Das erste Leben der Angela M.“, dass die heutige Bundeskanzlerin der DDR und ihrem System wohl doch um einiges näherstand und ihm engagierter diente, als bislang bekannt war. Wie viel vom alten Leben tatsächlich noch in ihr steckt, das kann nur Angela Merkel selbst beantworten.
https://www.focus.de/politik/deutschland/tid-31300/titel-das-leben-der-anderen-angela-merkel_aid_986754.html

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