Sep 06, 2008 12:14
Jeder Alkoholkranke macht die Erfahrung, dass der Weg, der aus der Abhängigkeit herausführt, ein holpriger Weg ist. Oft geht es einen Schritt vor und zwei zurück. Dafür gibt es mehrere Gründe. Einige dieser Gründe möchte ich hier an den Anfang stellen.
1. Wenn jemand seine Alkoholabhängigkeit überwinden will, heißt dies, dass es seit mehreren Jahren viel Alkohol trinkt. Zehn bis zwanzig Jahre schwersten Alkoholmissbrach sind keine Seltenheit. Können wir, allein von dieser Zeitspanne her betrachtet, erwarten, dass es eine leichte Umstellung sein wird? Der Alkohol ist für diese Menschen allmählich zu einer ganz wichtigen Sache geworden. er beherrscht Gedanken und Fantasien, wirkt bis hinein in die Träume. Viele Gewohnheiten gruppieren sich um ihn. Jetzt soll der Alkohol plötzlich wegfallen?
2. Wir sprechen davon, dass die Alkoholkrankheit den ganzen Mensche erfasst. Ihre Ursache und Folgen können im körperlichen, im psychischen wie auch im zwischenmenschlichen Bereich liegen. Der Alkoholkranke ist körperlich oft schwer geschädigt, in psychischer Hinsicht verunsichert und auch in seinen sozialen Beziehungen erheblich beeinträchtigt. Sein Wundermittel, mit dem er jahrelang gegen alle Widerstände kämpfte, ist der Alkohol. auf den soll er jetzt verzichten? Auf einmal soll er alle Probleme mit fester Hand anpacken können?
3. Nicht selten haben durch den Alkoholmissbrauch Denk- und Urteilsfähigkeit gelitten, was auf eine mehr oder weniger ausgeprägte Schädigung des Gehirns zurückzuführen ist. Vielen Alkoholkranken ist es zunächst nicht mehr möglich, einen klaren Gedanken zu fassen, ihre Situation kritisch zu beurteilen, einen Vorsatz zu bilden, bei diesem Vorsatz zu bleiben und Schritt für Schritt eine Änderung herbeizuführen. Sie leben wie im Nebel, durch den die Realität nur gelegentlich hindurchschimmert. Irgendwann dämmert die Erkenntnis: Eigentlich müsste ich was tun! Morgens zum Beispiel, wenn die euphorisierende Wirkung des Alkohols nachgelassen hat und die Jammerseite überwiegt: Brechreiz, zitternde Hände, Angstzustände... Oder die direkte Frage eines Kindes: "Papa, warum trinkst du so viel?", trifft in einem klaren Augenblick. Meistens kommt dabei zunächst nicht viel mehr heraus als Schuldgefühle, Selbstmitleid und erneutes Trinken.
4. Aus der Abhängigkeit ist auch deshalb nicht leicht herauszukommen, weil sie fest in den Grundeinstellungen des betreffenden Menschen verankert ist. Gemeint sind Einstellungen wie zum Beispiel:
* "Ich bin als Mann oder Frau völlig wertlos"
* "Ich bin ein Versager"
* "Es lohnt sich gar nicht, dass ich mich anstrenge"
* "Ich bin nicht in der Lage, mein Leben selbst zu steuern"
* "Ich fühl mich nur wohl, wenn ich mich selbst verwöhnen kann"
* "Ich brauch immer etwas, was mir Kraft gibt"
* "Ich bin zu schwach, um die Wirklichkeit auszuhalten"
Soll das Trinken aufgegeben werden, müssen auch diese Einstellungen, die sich oft bereits in der frühen Kindheit gebildet haben, korrigiert werden.
5. Immer stellt sich die Frage nach der Funktion des Suchtverhaltens oder nach dessen Sinn. Alkoholabhängigkeit lässt sich als eine verzweifelte Glückssuche auffassen - oder als ein fröhlicher Selbstmord, ganz wie man will. Das Trinken aufgeben?
* Wozu das alles?
* Gibt es irgendetwas, für das zu leben sich lohnen könnte?
* Die ganze Schinderei: wem zuliebe?
Nicht selten geht derjenige, der aus seiner Sucht herauskommen möchte, durch eine tiefe Verzweiflung hindurch, bis er den Mut findet, sich nüchtern zu sehen und neu anzufangen.
6. An jeder Ecke wird Alkohol angepriesen. Dem völlig auszuweichen ist unmöglich. Deshalb muss der Alkoholkranke damit rechnen, immer in Versuchung zu kommen.
7. Hart wird es vor allen Dingen für ihn, weil er nicht mehr mäßig trinken kann und darum keinen Tropfen Alkohol mehr trinken darf. Dies einzusehen, fällt ihm selber und auch seiner Umgebung schwer: Natürlich darfst du nicht mehr so viel trinken wie früher! Aber ein Gläschen in Ehren?
8. Zu rechnen ist mit den Fallstricken der Erinnerung. Unangenehmes wird schnell vergessen. War es nicht doch schön?
9. Jeder Alkoholabhängige wehrt such zunächst gegen das Eingeständnis seiner Krankheit. Er fühlt sich abgestempelt und in eine Außenseiterposition abgeschoben. Er, der eben noch ein ganzer Kerl war, soll nun als Abhängiger gelten? Muss er nicht zunächst annehmen, dass es nun von seiner Umgebung als schwächlicher Versager eingestuft wird? Das macht Angst, und es Schämt sich. Da er um keinen Preis auffallen will, überlegt er, wie er sein Problem tarnen kann.
So wie er zunächst sein Trinken verheimlicht hatte, versucht er später, nachdem er sich zur Abstinenz entschlossen hat, sein Nichttrinken zu verbergen. Möglichst die ganze Sache geheim halten, nicht auffallen! Zum Beispiel Apfelsaft in einem Weinglas trinken, so dass die anderen meinen, er trinkt Weißwein; oder Cola-Mix im Bierkrug...
Die negative Reaktion der Umwelt und die Scheu des Betroffenen, sein Gesicht zu verlieren, sind schwere Hindernisse. Ein Alkoholkranker kommt nicht selten in eine Zwickmühle: Trinket er wieder, ist er der Säufer - und man hat ja gewusst, dass er es nicht schafft, Labil wie er ist! Trinkt er nicht mehr, gilt er als langweiliger Abstinenzler, als Spielverderber.
An dieser Stelle ist zu fragen, ob die Mitmenschen wirklich überwiegend so unvernünftig reagieren. Viele werden den Fortschritt zu schätzen wissen. Aber in den Köpfen der Betroffenen sind diese Befürchtungen sehr mächtig. dies kommt sicher daher, dass sie sich selbst noch nach den Maßstäben beurteilen, die sie in ihrer Trinkerzeit mit ihren Kameraden geteilt haben: Sie sehen sich selbst mit den spöttischen Augen ihrer Zechbrüder.
Wenn ein Alkoholkranker aufhört, Alkohol zu trinken, verzichtet er nicht nur auf eine lieb gewordene Gewohnheit: Er definiert sich selbst neu in Beziehung zu seinen Mitmenschen. Seine Rolle ändert sich. Auch verändert sich die Bezugsgruppe: Menschen, die vorher für ihn wichtig waren (z. B. seine Kameraden), werden jetzt ihren Einfluss verlieren. Andere Menschen treten in den Vordergrund.
Dieser Wechsel der Gruppenzugehörigkeit und der Rolle kann Befürchtungen erwecken:
* Wie werde ich gesehen, wenn ich keinen Alkohol mehr trinke?
* Werde ich ausgelacht?
* Bin ich noch eine richtiger Mann?
* Oder bin ich ein kleiner Schulbub, der seine Limonade bestellt?
* Ich, ein Kerl aus Granit, soll ein braver Junge werden? Der Frau das Händchen halten und erbaulichen Sprüchen lauschen?
10. Wenn der Alkohol insbesondere ein Mittel ist, um sich Negatives sanft vom Leibe zu halten und Positives erträumen zu können, ein Mittel jedenfalls, das die Realität vernebelt und erträglicher macht, dann ist der Weg aus der Abhängigkeit einer Landung auf steinigem Boden zu vergleichen. Es kann hart sein, Schmerz, Ärger, Widrigkeiten zu ertragen, die Nichterfüllung von träumen und Sehnsüchten auszuhalten.
Die Aufzählung dieser Hindernisse sollte auf keinen Fall mutlos machen; sie sollte im Gegenteil Verständnis auch für die Rückschläge wecken. Wenn wir wissen, wie schwierig es ist und worin die Hindernisse bestehen, verfallen wir auch nicht so schnell der Resignation.
Es ist zu schaffen. Der Weg erfordert Mut.
* und zur Annahme des Abstinenzziels:
* "Ich will keinen Alkohol mehr trinken."
* Da der Alkohol bisher ganz bestimmte Funktionen erfüllt hat (Hemmungen überwinden, Schwierigkeiten wegschieben, Kontakt herstellen und aufrechterhalten, abschalten können etc.), geht es jetzt dem Alkoholkranken darum, sein Verhalten so zu ändern, dass das Suchtmittel nicht mehr benötigt wird:
* "Ich will lernen, ohne Alkohol zu leben."
* "Ich will lernen, meine Schwierigkeiten ohne Alkohol zu bewältigen."
* Je länger die Abstinenz dauert, je mehr der Abhängige in die Wirklichkeit zurückkommt und je besser er es lernt, seine Fähigkeiten einzusetzen und mit sich und seiner Umwelt zurechtzukommen, umso mehr tritt der Alkohol in den Hintergrund:
* "Ich brauche keinen Alkohol."
!Soziale Aspekte!
Die Folgen des Alkoholmissbrauchs bleiben nicht auf den Betroffenen beschränkt. Indirekt kommt es auch zu Auswirkungen auf andere Menschen, meist vor allem in der Familie und dem Arbeitsplatz. Zu Anfang fallen vielleicht das sprunghafte Verhalten und die Nörgeleien der alkoholkranken Personen auf; im Laufe der Zeit allerdings wird die Umgebung des Betroffenen immer mehr in die Probleme hineingezogen.
Was fast zwangsläufig folgt, ist als "Stufen des Abstiegs" bekannt und in der folgenden Tabelle zusammengefasst. Die beruflichen Leistungen sinken - manchmal mit der Folge von Arbeitsplatzverlust und Arbeitslosigkeit. Häufig äußert der Partner Trennungsabsichten. Die andauernde Verkehrsuntüchtigkeit hat oft den Führerscheinentzug zur Folge. Rauschtaten führen manchmal dazu, dass der Betroffene in die Kriminalität abgleitet.
!Stufen des Abstiegs!
Anfangsphase
1 Gelegentliche alkoholbedingte Erinnerungslücken (Filmriss, Blackouts)
2 Heimliches Trinken
3 Zentrierung des Denkens auf Alkohol
4 Gieriges Trinken der ersten Gläser
5 Schuldgefühle
6 Vermeiden von Anspielungen auf Alkohol
7 Häufige Erinnerungslücken
Kritische Phase
8 Verlust der Kontrolle nach Beginn des Trinkens
9 Alkoholikeralibis (warum er/sie trinken "musste")
10 Wiederstand gegen Vorhaltungen
11 Großspuriges Benehmen
12 Auffallend aggressives Verhalten
13 Dauerhafte Zerknirschung
14 Perioden völliger Abstinenz (mit ständigen Niederlagen)
15 Änderung des Trinksystems (z. B. nicht vor bestimmten Stunden)
16 Fallenlassen von Freunden
17 Fallenlassen des Arbeitsplatzes
18 Verhaltenskonzentrationen auf Alkohol
19 Verlust an äußeren Interessen
20 Neue Auslegung zwischenmenschlicher Beziehungen
21 Auffallendes Selbstmitleid
22 Gedankliche oder tatsächliche Ortsflucht
23 Ungünstige Änderungen im Familienleben
24 Grandioser Unwillen
25 Bestreben, seinen Vorrat zu sichern
26 Vernachlässigung angemessener Ernährung
27 Erste Einweisung in ein Krankenhaus wegen "körperlicher" alkoholbedingter
Beschwerden
28 Abnahme des sexuellen Triebs
29 Alkoholbedingte Eifersucht
30 Regelmäßiges morgendliches Trinken
Chronische Phase
31 Verlängerte, tagelange Räusche
32 Bemerkenswerter ethischer Abbau
33 Beeinträchtigung des Denkens
34 Vorübergehende alkoholbedingte Psychosen
35 Trinken mit Personen weit unter eigenem Niveau
36 Zuflucht zu technischen Produkten (Haarwasser, Rheumamitteln, Brennspiritus)
37 Verlust der Alkoholtolerant
38 Angstzustände
39 Zittern
40 Psychomotorische Hemmungen ("starrer Blick")
41 Das Trinken nimmt den Charakter von Besessenheit an
42 Das Erklärungssystem versagt. (Jetzt leichter der Therapie zugänglich)
Tja...mehr gibts da wohl nich zu sagen! Sollte sich vielleicht jeder mal durchlesen und einiges abhaken...oder auch nich...