Am Millerntor

Sep 20, 2013 17:34

Wirklich lange Fanfics habe ich nie geschrieben. Meine bisher längste T/B-Fic war Stellungsspiel mit knapp 3000 Wörtern, was eigentlich schon ein bisschen verrückt war, da ich von Golf gar keine Ahnung habe. Trotzdem habe ich immer damit geliebäugelt, irgendwann einmal eine Fortsetzung auf St. Pauli zu schreiben. Nach langem Zögern habe ich es getan. Und irrsinnigerweise ist die Geschichte knapp 6000 Wörter lang geworden, obwohl ich auch nur sehr wenig über Fußball weiß.

Das, was an fußballerischem Knowhow und Lokalkolorit in der Geschichte zu finden ist, verdanke ich Wikipedia, der Webseite des FC St. Pauli, dem Regelheft 2013/14 des DFB und diversen Youtube-Videos, Fanwebseiten und Zeitungsberichten.

Titel: Rückrundenspiel
Inhalt: Beim gemeinsamen Besuch am Millerntor geht Thiels und Boernes Beziehung in die entscheidende Runde. (Fortsetzung zu Stellungsspiel)
Länge: ca. 6000 Wörter
Genre: Humor, Sport, Romanze, etablierte Beziehung
Rechtserklärung: Thiel und Boerne gehören dem WDR. Ich habe sie mir nur mal kurz ausgeliehen.


Rückrundenspiel

„Passen Sie doch auf!“

Jetzt hatte ihn bereits zum dritten Mal jemand angerempelt und zum zweiten Mal auf die Füße getreten, aber niemand hielt es für nötig, sich zu entschuldigen.

Boerne seufzte leise. Das konnte ein sehr langer Nachmittag werden. Und dabei waren sie längst noch nicht im Stadion drin, sondern warteten zusammen mit Tausenden anderer Besucher darauf, eingelassen zu werden.

Die Luft um sie herum brodelte vor erwartungsvoller Spannung. Siegesgewisse Parolen und fröhliches Gelächter schwirrten umher, aber Boerne fühlte sich zwischen den vielen Fußballfans unwohl wie selten zuvor. Es schien ihm, als ob ihm jeder ansehen konnte, dass er hier nicht hingehörte.

Obwohl das wahrscheinlich nur allzu einfach war, denn außer ihm trugen alle Wartenden entweder Braun oder Schwarz. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass es so viele Menschen neben Thiel gab, die eine Vorliebe für diese doch recht unkleidsamen St. Pauli-Shirts hatten. Hier war er mit seinem marineblauen Polohemd der krasse Außenseiter. Umso erleichterter war Boerne, dass er doch auf Thiel gehört hatte, als der ihm im letzten Moment ausgeredet hatte, ein weißes Oberhemd anzuziehen. „Ich kann doch die Ärmel hochkrempeln“, hatte er gesagt, um zu demonstrieren, dass er sich durchaus legerer zu kleiden wusste, aber erst inmitten dieser Armada an braunen und schwarzen Shirts verstand er, warum Thiel nur mit den Augen gerollt hatte.

Schon wieder rammte ihm irgendjemand seinen Ellbogen in die Rippen, aber er gab es auf, sich über mangelnde Manieren zu beschweren.

„Alles in Ordnung?“, brüllte Thiel ihm ins Ohr, und er nickte, denn es hatte ja keinen Zweck, in diesem Gewühl erklären zu wollen, dass diese gemeinsame Fahrt zum Millerntor wohl eine ihrer weniger guten Ideen gewesen war.

Er fühlte, wie Thiel nach seiner Hand griff und sie kurz drückte. Es war merkwürdig, wie vertraut ihm Thiels Hand in den vergangenen Wochen geworden war. Nicht, dass sie Händchen hielten, aber eine rasche Berührung hier und da war ihnen zur Gewohnheit geworden. Um dem anderen zu zeigen, dass man bei ihm war … oder vielleicht auch mehr.

Boerne lächelte und dachte gerade, dass er sich unter Umständen doch noch unangenehmere Situationen als diese vorstellen könnte, als Thiel unvermittelt in seinen Armen landete, weil sich hinter ihm jemand durchdrängelte.

„So ein Rüpel“, sagte Boerne mit lauter Stimme, aber der Drängler drehte sich noch nicht einmal um.

„Lass gut sein“, winkte Thiel ab, während er wieder etwas von Boerne abrückte, sofern das in diesem Pulk von Menschen überhaupt möglich war. „Gleich wird es besser. Wenn wir erst mal drin sind, suchen wir schnell unsere Plätze, und dann machen wir es uns gemütlich.“

Gemütlich? Boerne hegte einen leisen Zweifel, dass er das Wort je auf die Atmosphäre in einem Fußballstadion beziehen würde; wirklich beurteilen konnte er es allerdings nicht, da dies der erste Stadionbesuch seines Lebens war. „Das klingt gut“, antwortete er deshalb nur.

Und tatsächlich konnten sie dem Eingang im nächsten Augenblick gleich mehrere Schritte auf einmal näherrücken. Dann bestand ja durchaus die Hoffnung, dass Thiel Recht haben könnte und sie diesem Gedränge bald entkommen könnten.

Nicht zum ersten Mal an diesem Tag fragte Boerne sich, wie er überhaupt hierhin geraten war. Dabei war die Antwort ganz einfach: Er hatte schneller geredet als gedacht, was ihm, auch wenn er es sich nicht gern eingestand, manchmal passierte. In einem weinseligen Moment, als sie nach einem erfolgreich abgeschlossenen Fall bei einem guten Tropfen in seinem Wohnzimmer zusammen gesessen hatten, hatte er Thiel dazu überredet, ihn einmal auf den Golfplatz zu begleiten, und als Thiel nur einwilligen wollte, wenn er im Gegenzug zu einem Spiel nach St. Pauli mitkäme, stimmte er zu. Er war fest entschlossen gewesen, sich aus dieser Zusage wieder herauszuwinden, aber als das gemeinsame Golfspiel einen für sie beide unerwarteten Ausgang genommen hatte, kam ein Rückzieher nicht mehr in Frage.

Wieder rückten sie ein paar Schritte vor, und Thiel grinste ihn vergnügt an. „Jetzt dauert es nicht mehr lange. Hast du deine Karte parat?“

Boerne nickte, befühlte aber vorsichtshalber seine Hosentasche. Die Eintrittskarte war eine Sache, aber seine Kreditkarte und sein Smartphone eine ganz andere.

* * *

Nachdem Boerne noch zwei weitere Male angerempelt worden war, wobei er einmal Thiel fast mit seinem Ellbogen ein blaues Auge verpasst hätte, fanden sie sich tatsächlich an der Einlasskontrolle wieder. Als der Kontrolleur seine Karte entwertet hatte, wollte Boerne schon durchmarschieren, aber ein zweiter Mann von der Statur eines Preisboxers stoppte ihn.

Der Mann war noch maulfauler als Thiel zu seinen besten Zeiten. Er sagte kein Wort, bedeutete Boerne aber unmissverständlich, dass er ihn abtasten und seine Hosentaschen durchsuchen wollte.

Boerne sah an sich hinunter, an seinem Polohemd und seiner hellen Hose. Wirkte er denn etwa wie ein Hooligan? Er konnte kaum wie ein Denunziant auf die vielen anderen Besucher um ihn herum verweisen, aber wenn hier jemand kontrolliert werden sollte, dann doch wohl sie. Große Fahnen mit langen Stangen, Transparente, Plakate und prall gefüllte Rucksäcke schleppten sie ins Stadion, während er noch nicht einmal eine kleine Tasche oder eine Jacke dabei hatte.

Er wollte protestieren, aber der Preisboxer sah ihn mit ausdrucksloser Miene an, hinter ihm ertönte ungehaltenes Murmeln, und Thiel war mittlerweile schon drin und winkte ihm zu, sodass er nachgab, seine Arme hoch nahm und seine Beine ein wenig spreizte. Glücklicherweise ging es schnell. Aber so eine enge Bekanntschaft hatte er mit dem Ordner eigentlich trotzdem nicht machen wollen.

Mit einem energischen Satz nach vorn rettete Boerne sich, sobald der Mann von ihm abließ, und Thiel empfing ihn mit einem wissenden Lächeln. „Das machen sie sicherlich nicht, wenn du ins Sinfoniekonzert gehst, oder?“

Da Thiel darauf wohl kaum eine Antwort erwartete, gab ihm Boerne auch keine, sondern hob nur seine Augenbrauen. Thiels Grinsen wurde breiter, aber dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und seine Stimme klang ein bisschen rauh, als er sagte: „Gleich hast du es geschafft. Es ist nicht weit bis zu unseren Plätzen.“

Bevor Boerne etwas erwidern konnte, hatte Thiel sich jedoch schon umgedreht und war losgegangen.

Zielstrebig bahnte er sich seinen Weg durch die Menschen, und Boerne wusste kaum, wie er hinterher kommen sollte. Immer wieder verschwand Thiel hinter einem größeren Fan, aber jedes Mal bevor Boerne in Panik geraten konnte, dass sie sich aus dem Blick verlieren würden, hielt Thiel kurz inne, sodass er aufholen konnte.

Endlich hatten sie anscheinend ihre Plätze erreicht, denn Thiel blieb in einer engen Sitzreihe stehen. Das konnte doch wohl kaum wahr sein, dachte Boerne, während er die zwei schwarzen Klappsitze aus Kunststoff vor sich betrachtete. Als Thiel die Karten hatte buchen wollen, hatte es Boerne viel Mühe gekostet, ihm klar zu machen, dass er keinesfalls neunzig Minuten im Stehen verbringen würde, sondern einen Sitzplatz beanspruchte. Aber wenn er vorher gewusst hätte, dass er den ganzen Nachmittag auf so einem Folterinstrument sitzen sollte, hätte er vielleicht doch lieber einen Stehplatz gewählt.

Er blickte auf, geradewegs in Thiels Gesicht.

„Und?“, fragte Thiel.

Boerne versuchte, seine Zweifel zu ignorieren, und konzentrierte sich stattdessen auf die Lage der Sitze. Nicht dass er die geringste Ahnung davon hatte, aber wenn er berücksichtigte, dass sie auf halber Höhe der Tribüne waren und auch etwa mittig zwischen den beiden Toren lagen, und wenn er zugleich einrechnete, wie erwartungsvoll Thiel ihn ansah, dann waren es sicherlich sehr gute Plätze.

Er nickte anerkennend. „Ich nehme an, von hier haben wir alles im Blick.“

„Genau.“ Thiel strahlte. „Das war echt Glück, dass ich die zwei Plätze noch bekommen habe“, sagte er und ließ sich auf einen der Sitze plumpsen.

Zögerlich nahm Boerne neben ihm Platz. Wahrscheinlich sollte er froh sein, dass Hamburg nicht gerade für tropische Temperaturen bekannt war, denn sonst würde er binnen kürzester Zeit an dem Plastik festkleben.

„So, jetzt geht es gleich los“, sagte Thiel mit seinem Blick auf seine Armbanduhr.

Boerne sah auf seine eigene Uhr. Wenn er sich nicht sehr irrte, dauerte es immer noch eine Dreiviertelstunde bis zum Anpfiff. Anscheinend definierten Fußballfans das Wort „gleich“ anders, als man es gemeinhin tat. Er wollte gerade fragen, was denn in der Zwischenzeit passieren würde, als Thiel wieder aufsprang.

„Ich hole uns noch ein bisschen Verpflegung.“ Thiel sah ihn durchdringend an. „Du bleibst solange hier sitzen und rührst dich nicht von der Stelle, in Ordnung?“, fragte Thiel, bevor er Boerne die kleine Plastiktüte mit den Fanutensilien gab, die er zuvor im Fanshop erstanden hatte.

Boerne nickte. Er war doch nicht lebensmüde. „Beeil' dich“, flüsterte er Thiel hinterher, als dieser sich schon einige Meter durch die Sitzreihe entfernt hatte. Aber als ob er es gehört hätte, drehte er sich für einen Moment um und lächelte ihm zu.

* * *

Dass die Übungsstunde auf dem Golfplatz damit geendet hatte, dass sie unter dem Unterstand an der Driving-Range standen und sich küssten, hatten sie beide nicht geplant. Aber trotzdem hatte es sich richtig angefühlt - so, als ob sie plötzlich ein Ziel erreicht hätten, dass sie schon seit langem unbewusst angesteuert hatten.

Die nächsten Wochen und viele weitere Küsse hatten dieses Gefühl bestätigt.

Erst dieser gemeinsame Stadionbesuch erinnerte Boerne daran, wie unterschiedlich er und Thiel waren und wie unwahrscheinlich es war, dass sie zusammen gefunden hatten.

Denn ausgerechnet ihre jeweils größte Leidenschaft trennte sie: Musik und Fußball.

Boerne konnte sich erinnern, dass andere Jungen aus seiner Schule von ihren Vätern damals ins Preußenstadion mitgenommen worden waren, aber er war sich nicht einmal sicher, ob sein Vater gewusst hatte, dass es in Münster überhaupt einen Fußballverein und ein Stadion gab. Und auch später hatte sich die Welt des Fußballs ihm nie erschlossen.

Er ließ seinen Blick über das Stadionrund gleiten, das vor braun-schwarz gekleideten Fans wogte.

Die Aussicht von ihren Sitzen auf das Spielfeld und die Zuschauerränge war wirklich tadellos. So weit er das mitbekommen hatte, als Thiel die Karten bestellt hatte, gehörten ihre Plätze zu einer der teuersten Preiskategorien. Aber er hatte trotzdem den Eindruck, dass seine Hose jetzt schon an dem Plastik festklebte, und bei jeder Bewegung, die er machte, quietschte der Klappsitz.

Boerne seufzte. Für eine vergleichbare Preiskategorie hätte es in der Hamburger Staatsoper zweifellos bequemere Sessel gegeben. Dort würde sich an diesem Abend der Vorhang für Wagners „Lohengrin“ heben, und er brauchte nur für einen Moment die Augen zu schließen, um sich vorzustellen, wie die Besucher in wenigen Stunden voller Vorfreude den ersten Takten der Ouvertüre harrten.

Auch im Stadion lag eine erwartungsvolle Spannung in der Luft. Aber während in der Oper üblicherweise ein gedämpftes Stimmengewirr wie das Summen eines Bienenvolkes den Raum erfüllte, bis die Vorstellung begann, dröhnte es hier um ihn herum in einer Lautstärke, als ob die Apokalypse unmittelbar bevorstünde. Das Gejohle der Fußballanhänger war so laut, dass es zwischenzeitlich sogar die Musik übertönte, die mittlerweile aus den Lautsprechern über den Platz schallte.

Wahrscheinlich hatte er deshalb auch den großen, rothaarigen Mann nicht bemerkt, der sich jetzt zwischen seinen Knien und dem Vordersitz vorbeizwängte, bevor er sich auf den Platz rechts neben ihn fallen ließ.

Der Mann war genauso angezogen wie Thiel: mit einem braunen Fanshirt, und um seinen Hals hatte er einen Fanschal gewickelt. In der einen Hand hielt er einen Becher mit Bier, in der anderen eine Bratwurst im Brötchen. Er nickte zu Boerne hinüber, bevor er einen großen Schluck Bier nahm. „Das wird ein Fest. So anfällig wie das gegnerische Spielsystem ist, werden wir die so richtig vom Platz putzen, was?“

Boerne nickte stumm und hoffte, dass Thiel schnell zurückkam, um ihn vor weiteren Gesprächsanbahnungen durch scheinbare Fußballexperten zu retten. Und er hoffte, dass es Thiel gelungen sein möge, etwas Schmackhafteres aufzutreiben.

Als hätte Thiel ihn gehört, sah Boerne, wie dieser sich in einigen Metern Entfernung durch die mittlerweile gefüllte Sitzreihe drängelte.

Obwohl er anhand der Dinge, die Thiel in seinen Händen trug, sofort erkennen konnte, dass seine Hoffnung auf etwas anderes als Bier und Bratwurst vergebens gewesen war, durchflutete Boerne ein eigenartiges Gefühl der Erleichterung bei Thiels Anblick.

„Hat einen Moment länger gedauert, entschuldige“, sagte Thiel, als er links neben Boerne an seinem Platz angekommen war. Er setzte sich und drückte ihm mit den Worten, „Hier, für dich“, ein pappiges Brötchen mit Bratwurst und einen wabbligen Bierbecher in die Hände.

„Danke“, murmelte Boerne und reichte ihm im Gegenzug seine Plastiktüte zurück. „Was hast du eigentlich im Fanshop gekauft?“, fragte er, obwohl er nicht sicher war, ob er das überhaupt wissen wollte.

Denn konnte es überhaupt irgendeinen Merchandising-Artikel geben, den Thiel noch nicht besaß? Boerne lief immer noch ein Schauder über den Rücken, wenn er an diese eine Nacht in Thiels Bett dachte, bei der er während des Sex nicht nur in Thiels Gesicht, sondern auch immer auf den Totenkopf auf dem Kopfkissen gesehen hatte. Seitdem achtete Thiel darauf, nur noch die braune Bettwäsche mit dem rot-weißen Vereinslogo zu benutzen.

Thiel stellte seinen Bierbecher auf dem Boden ab, öffnete die Plastiktüte und hielt sie Boerne wieder entgegen, der nach kurzem Zögern auch seinen Becher zwischen seine Füße stellte.

Er schaute hinein. Obenauf sah er eine Fahrradklingel, auf der ein Totenkopf prangte. Und darunter - er nahm die Klingel mit spitzen Fingern heraus - erblickte er eine Gummiente, ebenfalls mit Totenkopf. „Die kommt mir aber nicht in mein Bad“, sagte er automatisch.

Thiel lächelte ihn wissend an. „Keine Sorge, die bleibt bei mir“, antwortete er und biss in seine Bratwurst.

* * *

Sie hatten beide ihre Bratwürste aufgegessen, als Boerne dachte, dass es nun aber endlich losgehen müsste. Schon vor Minuten hatten die Tausenden Fans ein Lied angestimmt, bei dem er mit Mühe die Zeile „You'll never walk alone“ heraushören konnte. Sie sangen aus voller Kehle und schwenkten dabei ihre Fahnen und Transparente.

Nur direkt gegenüber von ihnen schien man nicht sehr sangesfreudig zu sein. „Da drüben auf den Plätzen sieht es ruhiger aus als hier“, sagte Boerne und beugte sich zu Thiel hinüber. „Warum sitzen wir denn nicht da?“

„Da sitzen die Gäste.“

Boerne hatte gerade anmerken wollen, dass sie doch auch Gäste seien, als ihm Thiels abschätziger Tonfall klar machte, dass dies die Anhänger des gegnerischen Klubs sein mussten. Bedauernswerte Geschöpfe, die wohl inmitten dieser Hölle schon vor dem Anpfiff auf verlorenem Posten standen.

Plötzlich erklang ein lauter Glockenschlag. Für einen Moment herrschte Totenstille im Stadion, und Boerne merkte, wie auch Thiel neben ihm den Atem anhielt.

Dann brach ein Orkan los.

Während die Glocke weiter schlug, ertönten tosende Schreie und Pfiffe aus allen Richtungen, Fahnen wurden noch heftiger geschwenkt als zuvor, und auf der Tribüne links von ihnen wurde ein riesiges Banner mit einem Totenkopf aufgespannt, umgeben von einem Meer aus vielen kleinen Schädeln. E-Gitarre und Schlagzeug setzten ein, und die Spieler beider Mannschaften liefen auf den Platz und stellten sich in der Mitte auf.

Es war ohrenbetäubend und atemberaubend, und Boerne dachte, dass selbst dem Papst auf dem Petersplatz sicherlich nicht so ein Empfang bereitet würde.

Er sah zu Thiel, der auf seinem Sitz nach vorn gerutscht war und mit rosigen Wangen gebannt auf den Platz starrte.

Dann gellte ein schriller Pfiff, und der Ball rollte.

* * *

Fünf Minuten nach dem zugegebenermaßen beeindruckenden Eröffnungsspektakel sah Boerne auf seine Uhr und hoffte, dass das Spiel bald vorbei sein würde. Zwar johlten die Leute um sie herum immer noch und skandierten den Vereinsnamen, sobald sich ein St. Pauli-Spieler auch nur annähernd dem Tor näherte, aber eigentlich passierte nichts.

Der Ball flog hierhin und dorthin, ein Spieler stolperte über die Füße eines anderen Spielers, ein weiterer Spieler kickte den Ball ins Aus, der Schiedsrichter pfiff regelmäßig, aber aus für Boerne komplett unverständlichen Gründen auf seiner Pfeife, und Boerne unterdrückte ein Gähnen.

Fünfundachtzig Minuten noch. Plus Pause. Das machte einhundert Minuten, rechnete Boerne, bevor ihm ein fürchterlicher Gedanke kam. „Gibt es hier eigentlich so etwas wie Verlängerung oder Elfmeterschießen?“, fragte er Thiel, der vornübergebeugt auf seinem Platz saß und die Fäuste geballt hatte, als wolle er vorbereitet sein, um sie sofort hochreißen zu können, sollte ein Tor fallen.

Thiel drehte sich zu ihm um. „Nicht während der Hin- und Rückrunde. Da gibt es nur die Nachspielzeit.“

„Und wie lang ist die?“, fragte Boerne und konnte selbst hören, dass sich ein entsetzter Unterton in seine Stimme geschlichen hatte.

Thiel sah ihn ausdruckslos an. „Das kommt drauf an. Für gewöhnlich so zwei, drei oder auch vier Minuten.“

„Aha, das dauert dann also nicht mehr so lange.“

„Nein, das dauert nicht so lange“, wiederholte Thiel und drehte sich wieder nach vorn, um das Spiel weiter zu verfolgen.

Die Stimmung im Stadion war etwas gedämpfter geworden. Nur hier und da erschallten einzelne St. Pauli-Rufe. Anscheinend passierte im Moment tatsächlich nichts Spannendes auf dem Spielfeld, und Boerne lehnte sich auf seinem Sitz zurück und versuchte, die Beine übereinander zu schlagen, um es sich etwas bequemer zu machen.

„Du bist wohl kein Fußballfan, was?“, tönte es da von seinem rechten Nachbarsitz.

Boerne unterdrückte den Impuls, sich das Duzen zu verbitten, und wandte sich dem rothaarigen Fußballfan neben ihm zu, der jetzt offensichtlich einen zweiten Versuch unternahm, ihn in ein Gespräch zu verwickeln.

Zumindest lief er nun aber wohl keine Gefahr mehr, irgendwelche fußballerischen Fachtermini austauschen zu müssen. „Nein, ich bin in der Tat kein Fußballfan“, bestätigte Boerne. „Ich interessiere mich eher-“

„Das habe ich mir schon gedacht“, unterbrach ihn der Mann.

„Wieso?“

Sein Sitznachbar zeigte auf sein Hemd und seine Hose. „Du siehst aus wie jemand, der lieber ins Theater geht. Oder ins Ballett.“

„Eigentlich ziehe ich die Oper vor.“

Der Mann lachte. „Dann sind die Fangesänge hier wohl nichts für dich.“

Tatsächlich hatte der Gesang wieder eingesetzt und nahm an Lautstärke zu.

„Nein, der Pilgerchor ist das wahrhaftig nicht“, antwortete Boerne und fügte, als er den verständnislosen Blick des anderen bemerkte, hinzu: „Aus ,Tannhäuser'.“

„Mmh, mmh“, machte der Mann und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Spiel, das an Tempo gewonnen zu haben schien.

Viele Spieler liefen hektisch vor dem gegnerischen Tor hin und her, und rings um Boerne herum sangen alle Fans lauthals das Lied, das sie schon vor dem Anpfiff intoniert hatten - mehr schlecht als recht und meist einen Halbton daneben.

Nur direkt links neben ihm war es merkwürdig still. Boerne betrachtete Thiel, der ein bisschen steif auf seinem Platz saß, die Hände ineinander verknotet hatte und nicht mehr so enthusiastisch wie noch einige Minuten zuvor wirkte.

„Warum singst du nicht mit?“

Thiel guckte ihn an. Er sah aus, als wüsste er nicht, ob er tatsächlich antworten sollte, aber schließlich murmelte er etwas, das wie „Och, da ist mir nicht nach“ klang.

Boerne runzelte die Stirn. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass er gerade auf dem besten Weg war, Thiel den Nachmittag zu vermasseln. Er merkte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg, als ihm dämmerte, dass Thiel sich seinetwegen zurückhielt. Er beugte sich zu ihm hinüber, zupfte an dem Fanschal um Thiels Hals und fragte: „Du singst doch sonst mit, oder?“

Thiel nickte langsam.

„Dann mach' es jetzt auch.“

Thiel zögerte kurz, aber letztlich stimmte er doch mit ein. Erst leise, dann lauter und zuletzt, nachdem er sich wieder dem Spiel zugewandt hatte, ebenso hemmungslos und schief wie alle anderen.

Boerne lächelte.

* * *

„Nein, das ist kein Abseits, Boerne.“ Mit einer Mischung aus Humor und Verzweiflung sah Thiel ihn an.

Die restlichen Minuten bis zur Halbzeitpause hatten sich gezogen wie Johann Strauss' „Fledermaus“. Trotzdem hätte man aufgrund der entrückten Reaktion des Publikums bei jeder Ballberührung den Eindruck gewinnen können, dass sich auf dem Rasen ein wahrer Psychothriller abgespielt hatte. Dabei war immer noch kein Tor gefallen - noch nicht einmal für die andere Mannschaft.

Boerne hatte sich an Thiel orientiert. Er hatte dorthin gesehen, wo Thiel hingesehen hatte, und genau wie Thiel jeden Schritt und jeden Schuss auf dem Spielfeld verfolgt. Sogar ein, zwei Bemerkungen hatte er eingeworfen und dafür ein Lächeln von Thiel geerntet.

Außerdem hatte er eine Frage gestellt, und Thiel hatte jetzt schon den zweiten Anlauf genommen, sie ihm zu beantworten.

Boerne sah ihn scharf an. „Wieso ist mein Beispiel kein Abseits? Du hast doch gerade selbst gesagt, dass der Spieler nicht vor dem Ball stehen darf.“

Thiel schüttelte den Kopf. „Ganz so einfach ist das nicht. Die Regel lautet, dass ein Spieler im Abseits steht, wenn er der gegnerischen Torlinie näher ist als der Ball und der vorletzte Gegenspieler.“

Boerne nickte und versuchte, sich diese Spielsituation auf dem Platz vor Augen zu führen, was allerdings komplizierter als gedacht war, weil er nicht wusste, wer der vorletzte Gegenspieler war. „Und dann gibt es eine Rote Karte.“

Thiel schüttelte schon wieder den Kopf. „Eine Rote Karte gibt es schon mal gar nicht. Wenn der Schiedsrichter in diesem Fall eine Strafe verhängt, dann einen indirekten Freistoß.“

„Wieso wenn? Ich denke, ein Abseits ist ein Regelverstoß“, hakte Boerne nach und ignorierte dabei die Tatsache, dass er nur eine vage Vorstellung davon hatte, was ein indirekter Freistoß sein könnte.

Thiel wiegte seinen Kopf hin und her. „Nicht unbedingt. Ein Vergehen ist es erst dann, wenn der Spieler in der Abseitsstellung aktiv am Spiel teilnimmt, während der Ball von einem Mitspieler berührt oder gespielt wird.“ Thiel blickte ihn an. „Klar?“

Jetzt schüttelte Boerne seinen Kopf, obwohl er ihn stattdessen am liebsten gegen eine Wand geschlagen hätte. Eigentlich hatte er doch nur nach der Abseitsregel gefragt, um Thiel einen Gefallen zu tun, was ihm, wenn er Thiels leuchtende Augen betrachtete, auch gelungen war. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass er die Regel tatsächlich nicht verstehen würde. Er seufzte resigniert. „Vielleicht könntest du mich in der zweiten Spielhälfte auf ein Abseits aufmerksam machen, falls sich eine passende Situation ergeben sollte.“

Thiel lachte. „Die wird sich ganz bestimmt ergeben“, sagte er, bevor er sich ein wenig zu Boerne hinüberbeugte und seine Hand nahm. „Danke.“

Boerne zog die Augenbrauen hoch. „Wofür?“

„Für's Fragen“, antwortete Thiel leise und drückte kurz seine Hand.

Boerne spürte, wie er schon wieder rot wurde. Thiel hatte ihn immer leichter durchschaut, als ihm lieb war, aber seitdem sie zusammen waren, war Thiels Beobachtungsgabe noch ausgeprägter geworden.

Sie sahen sich für einen langen Moment an und beinahe hätten sie die Rückkehr der Spieler ins Stadion versäumt, wenn nicht unbändiger Jubel aufgebrandet wäre.

* * *

Tatsächlich ergab sich gleich zu Beginn der zweiten Halbzeit ein Abseits, aber obwohl Thiel ihn sofort darauf hinwies, konnte Boerne es nicht erkennen, weil die Spieler viel zu schnell weiterliefen und ihre Positionen änderten.

Ihn beschlich der überraschend deprimierende Gedanke, dass es ihm wahrscheinlich auch dann noch so erginge, wenn Thiel ihn noch auf Dutzende Abseitsstellungen aufmerksam machte. Und danach stand ihm so gar nicht der Sinn. Denn wer wurde schon gern permanent daran erinnert, dass er etwas nicht begriff.

Boerne stand auf, und Thiel drehte sich hastig zu ihm um.

„Wie wäre es, wenn ich uns noch ein Bier hole? Einverstanden?“

Thiel nickte erfreut.

Boerne guckte sich um. „Wo muss ich denn da hin?“

„Nur am Ende der Sitzreihe ein paar Stufen runter. Dann siehst du den Kiosk schon“, erklärte Thiel, den Blick bereits wieder aufs Spielfeld gerichtet.

„Bis gleich“, sagte Boerne und ging rasch nach links durch die Reihe.

Er brauchte nur ein paar weitere Schritte zu machen, bevor er den Verkaufsstand etwas unterhalb erblickte. Die Schlange davor war recht lang, aber die Wartenden wurden rasch bedient. Kaum hatte er sich eingereiht, konnte er schon ein Stück vorrücken.

Boerne betrachtete das verwaschene braune Shirt des Mannes vor sich. Dessen Aufdruck erinnerte offensichtlich an ein denkwürdiges Spiel von St. Pauli gegen Bayern München, und es schien ihm so, als ob Thiel ebenfalls so ein T-Shirt besaß.

Er lachte leise auf. Noch vor ein paar Wochen wäre es undenkbar gewesen, dass er so etwas gewusst hätte. Genauso undenkbar wäre es gewesen, dass er ein Fußballspiel besucht hätte. Oder mit Thiel nach Hamburg gefahren wäre. Oder sich mit ihm ein Hotelzimmer teilen würde. Oder sich darauf freuen würde, mit Thiel ins Museum zu gehen und durch die Stadt zu bummeln.

Denn Boerne hatte darauf bestanden, dass sie am zweiten Tag ihres Aufenthaltes etwas Kulturelles unternahmen. Ihm hatte ein Besuch der Hamburger Kunsthalle vorgeschwebt, aber da hatte Thiel gestreikt. Schließlich hatten sie sich auf das Museum der Arbeit geeinigt. Anschließend wollte Thiel ihm St. Georg zeigen, aber da er nur vage etwas über viele Cafés vor sich hin genuschelt hatte, war Boerne sich nicht sicher, was ihn in dem Stadtteil erwartete.

„Und, was soll es sein?“

Erstaunt sah Boerne dem Verkäufer ins fragende Gesicht und stellte fest, dass er bis zum Beginn der Schlange vorgerückt war. „Zwei Bier, bitte.“

„Zwei Bier“, wiederholte der Verkäufer und griff nach zwei vorgezapften Bechern, auf denen schon fast kein Schaum mehr war.

Aber bevor Boerne dies reklamieren konnte, schallten euphorische Schreie zu ihnen hinüber. Er wandte den Kopf, aber seine Sicht aufs Spielfeld war versperrt. Doch als sich die Anfeuerungsrufe wenige Sekunden später in ein kollektives Aufstöhnen verwandelten, bestand kein Zweifel, dass kein Tor gefallen war.

„Nochmal Glück gehabt. Wäre ja auch zu ärgerlich gewesen, wenn Sie jetzt ein Tor verpasst hätten“, sagte der Verkäufer.

Boerne nickte, obwohl ihm ein Tor für St. Pauli ganz egal war. Aber ihm war plötzlich klar, dass es ihm in der Tat leid getan hätte, wenn er Thiels Freude und seinen Jubel über ein Tor verpasst hätte.

Er nahm das Wechselgeld entgegen und hastete zurück zu seinem Platz.

„Du hast die bisher beste Tormöglichkeit verpasst“, sagte Thiel, seine Wangen vor Aufregung noch ganz erhitzt, kaum dass Boerne sich hingesetzt hatte.

„Ich weiß, ich habe die Schreie gehört“, sagte Boerne und reichte einen der Becher an Thiel weiter. „Wie stehen denn die Chancen, dass sie vielleicht doch noch ein Tor machen?“

Thiel sah ihn entgeistert an. „Gut, sehr gut. Wir lassen die anderen doch nicht mit drei Punkten nach Hause fahren“, sagte er mit Bestimmtheit, und wie zur Bestätigung nahmen die Fangesänge und das Johlen um sie herum wieder zu.

* * *

Die nächsten Minuten waren quälend langsam verstrichen, was die Fans aber nicht davon abgehalten hatte, weiter zu singen und ihre Fahnen zu schwingen.

Jetzt tat sich allerdings etwas auf dem Rasen. Einer der St. Paulianer war umgefallen, nachdem er mit einem gegnerischen Spieler kollidiert war, und humpelte nun mitleidheischend auf dem Platz umher.

„Das ist höchstens eine Prellung“, konstatierte Boerne, „aber wenn man ihn so sieht, soll man wohl glauben, dass er eine Ruptur der lateralen fibulotarsalen Bänder hat.“

„Das war ein klares Foul“, kam es ein bisschen barsch sowohl von Thiel als auch von seinem rechten Sitznachbarn.

„Aber dem fehlt doch gar nichts. Wenn seine Außenbänder wirklich gerissen wären, würde er jetzt keinen Schritt-“

„Dafür gibt es einen Strafstoß“, unterbrach ihn Thiel.

„Einen Strafstoß?“

„Einen Elfmeter“, erklärte Thiel, und schon fingen die Spieler an, sich aufzustellen. Der Schütze platzierte den Ball und trat langsam ein paar Schritte zurück, während sich einige Spieler beider Mannschaften in einer Art lockerem Halbkreis um ihn gruppierten.

Plötzlich war es ganz ruhig im Stadion, und erneut fühlte Boerne sich an die Atmosphäre in einem Opernsaal erinnert: Wenn die Zuschauer im Kollektiv gespannt den Atem anhielten und, ohne den geringsten Laut zu machen, zusahen, wie Tristan und Isolde nach der Karaffe mit dem Todestrank griffen.

Nur dass hier die Stille nicht lange anhielt. Ein Pfiff ertönte, der Schütze nahm Anlauf, schoss … Und als der Torwart ins Leere hechtete und der Ball die Torlinie überquerte, brach ein Inferno aus.

„Jaaaa“, schrie Thiel ihm ins Ohr, bevor er genau wie alle anderen Fans neben und vor Boerne von seinem Sitz aufsprang. Arme wurden in die Höhe gereckt und Fahnen geschwenkt, sodass Boerne vollkommen die Sicht genommen war und er ebenfalls aufstehen musste.

„Tooor! Tooor!“, ertönte es ekstatisch von allen Seiten. Dann setzte plötzlich ein Schlagzeug vom Band ein, und die Fans auf den Stehplätzen vor ihnen begannen, rhythmisch auf und ab zu springen. Und als dann einige Takte später mehr als Zwanzigtausend Menschen „Woohoo“ riefen, wusste Boerne, dass er schon immer Recht gehabt hatte. Fußballfans waren verrückt.

„Woohoo!“

Boerne reckte den Hals. Tatsächlich schien sich das gesamte Stadionpublikum mit Ausnahme der kleinen gegnerischen Fangruppe erhoben zu haben.

„Woohoo!“, rief auch Thiel mit im Chor und wirbelte seinen Schal so energisch durch die Luft, dass er nur knapp Boernes Brille verfehlte.

Boerne schnappte nach einem Ende des Schals, um Schlimmeres zu verhüten, und Thiel hielt inne und blickte ihn mit einem strahlenden Lachen an.

Langsam ließ der Lärm ein wenig nach. Zusammen mit all den anderen Zuschauern nahmen Boerne und Thiel wieder Platz.

Thiel sah ihn immer noch glückselig lachend an. Seine Augen glänzten, seine Wangen waren rot, und für einen Moment verschlug der Anblick Boerne fast den Atem.

Thiel nahm ihm das Schalende aus der Hand und schlang ihm den Schal vorsichtig um den Hals.

Boerne wehrte sich nicht, sondern beugte sich ohne nachzudenken vor, um es Thiel leichter zu machen. Erst als er das synthetische Material im Nacken spürte und die beiden Enden vor seiner Brust baumeln sah, begriff er, dass Thiel ihn gerade zum St. Pauli-Fan gekürt hatte. Doch komischerweise verspürte er nicht das reflexhafte Verlangen, den Schal sofort wieder abzunehmen, sondern lächelte.

Er sah nur noch Thiel, der zurück lächelte, dessen Augen immer noch strahlten und dessen Hand kurz nach seiner griff. Alle Geräusche um ihn herum waren merkwürdig dumpf, und die Fangesänge drangen wie aus der Ferne zu ihm.

Dann vernahm er Thiel von weitem. „Ist alles in Ordnung?“

Boerne nickte.

„Wirklich? Du sieht ein bisschen blass aus.“ Diesmal klang Thiel lauter, und mit einem Schlag war der Lärm wieder da, und er hörte den Schiedsrichter pfeifen und die Fans protestieren.

„Sie spielen schon längst wieder“, sagte Boerne mit einer ungewöhnlich rauhen Stimme, obwohl er den Eindruck hatte, dass er eigentlich etwas ganz anderes sagen sollte. Er wusste nur nicht was.

Thiel blickte ihn einen langen Moment an. Dann lächelte erneut, als ob er ihn genau verstanden hätte, bevor er sich wieder zum Spielfeld umdrehte.

* * *

Wie lange das restliche Spiel dauerte und was genau auf dem Rasen geschah, bekam Boerne kaum mit. Stattdessen betrachtete er Thiel. Thiel, der sich auf seinem Sitz konzentriert nach vorn lehnte, wenn die Situation auf dem Platz brenzlig wurde; Thiel, der sich enttäuscht zurück gegen seine Rückenlehne warf und die Hände vor das Gesicht schlug, wenn der Ball am Tor vorbei flog; Thiel, der „St. Pauliiii“ schrie und zum jubilierenden Sprung bereit auf seinem Platz saß, wenn es so aussah, als ob ein zweites Tor fallen würde.

Boerne war fasziniert. Zwar hatte er Thiels Begeisterungsfähigkeit und seine Leidenschaft schon oft erlebt - vor allem auch bei ihrer gemeinsamen Arbeit, aber erst in den letzten Wochen ertappte er sich immer wieder dabei, dass er Thiel einfach nur zusah, wenn dieser sich mit vollem Einsatz in einen Fall stürzte, wenn er mit hochrotem Kopf von einem Streitgespräch mit Herbert erzählte oder wenn er in der Küche mit Eifer Gemüse für ihr gemeinsames Abendessen würfelte.

Aber jetzt war Thiel eigenartig still geworden. Die gesamte Stimmung im Stadion war mit einem Mal angespannt, und nur vereinzelt waren verhaltene Sprechchöre zu hören. Thiel rutschte auf seinem Sitz hin und her und guckte ständig auf seine Uhr. Irgendetwas schien ihm Sorgen zu machen, und auch die anderen Fans wirkten beunruhigt.

„Was ist los?“, fragte Boerne.

„Die zweite Halbzeit ist jeden Moment vorbei“, antwortete Thiel, guckte aber weiter stur auf das Spielfeld.

Boerne runzelte die Stirn. „Aber ist das denn nicht gut? St. Pauli liegt doch vorn.“

„Das Problem ist die Nachspielzeit. Je nach dem wie lang sie ist, haben wir keine Chance, das Ding noch zu drehen, wenn die anderen jetzt in letzter Sekunde doch ein Tor machen“, sagte Thiel, ohne den Ball aus den Augen zu lassen.

Das klang logisch, aber so richtig verstand Boerne es trotzdem nicht, denn dasselbe würde doch wohl auch für die letzten Minuten eines Spiels gelten, wenn es keine Nachspielzeit gäbe. Aber wenn er sich so Thiels zusammengebissene Zähne und geballte Fäuste anguckte, war es sicherlich besser, bis zum Abpfiff keine Bemerkungen mehr zu machen.

Noch zweimal bewegte sich der Ball in die gegnerische Hälfte, noch einmal in die von St. Pauli, was bei allen Fans den Atem still zu stehen lassen schien.

Dann ertönte der Abpfiff, und die Anspannung im Innenraum entlud sich in einem orkanartigen Triumphgeschrei. „St. Pauli, St. Pauli“, schallte es von allen Seiten über den Platz.

Thiel sprang hoch, packte Boerne und riss ihn halb von seinem Sitz.

Auch alle anderen Fans waren aufgestanden. Sie lagen sich vor Freude in den Armen, genauso wie die Spieler von St. Pauli auf dem Rasen, während die Gegner etwas verloren umherliefen.

Langsam kristallierte sich aus den Jubelschreien eine Melodie heraus, die Boerne vage an einen alten Popsong erinnerte. Außer dem Vereinsnamen konnte er aus dem kakophonischen Gesang jedoch keinen Liedtext heraushören. Erst als Thiel, der seinen Arm um seine Taille geschlungen hatte, mit einstimmte und mit Inbrunst „Allez St. Pauli, oh St. Pauli“ sang, realisierte er, dass es keinen nennenswerten Text gab. Nichtsdestotrotz stimmten die Fans die zwei Zeilen immer wieder von neuem an und schwenkten dabei ihre Fahnen und Banner, bis die St. Paulianer schließlich winkend auf ihre Kabine zustrebten.

Das war anscheinend das Signal für die Zuschauer, auch endlich das Stadion zu verlassen. Der Gesang ebbte ab, sämtliche Fanutensilien wurden eingesammelt, und die Menschenmasse rollte auf die Ausgänge zu.

„Wollen wir?“, fragte Thiel.

Boerne nickte. Er warf einen letzten Blick auf die sich leerenden Ränge, dann folgte er Thiel in Richtung Stadionausgang.

* * *

So lange es gedauert hatte, ins Stadion hineinzukommen, so schnell waren sie wieder draußen und standen am Heiligengeistfeld. Auf dem riesigen Platz verflüchtigte sich die Menschenmenge mit verblüffender Geschwindigkeit, und es dauerte nur wenige Minuten, bis Boerne und Thiel fast allein am Rande des Platzes standen.

Trotzdem hatte Boerne den Eindruck, dass immer noch eine bedeutungsvolle Stimmung über dem Stadtteil lag.

Das schien auch Thiel zu spüren, denn er rührte sich nicht von der Stelle, sondern sah zurück zum Stadion, als wolle er diesen Anblick für immer in sein Gedächtnis brennen. Ganz still stand er da. Nur die Plastiktüte aus dem Fanshop an seinem Handgelenk bewegte sich ein wenig, was Boerne an den Schal um seinen Hals erinnerte.

„Ich denke, den wirst du noch für viele Spiele brauchen“, sagte er leise, wickelte ihn ab und hielt ihn Thiel hin, der ihn gedankenverloren nahm und sich wieder umschlang.

Dann sah Thiel auf, geradewegs in Boernes Augen, und in seinem Ausdruck lag eine Intensität, die es Boerne unmöglich machte, seinen Blick abzuwenden.

„Du wärst nicht mitgekommen, wenn wir nicht zusammen wären, oder?“, fragte er.

Boerne nickte, denn Thiel anzulügen, um ihn nicht zu verletzen, würde genau das Gegenteil bewirken. Alles andere, als jetzt die Wahrheit zu sagen, würde ihre Beziehung herabsetzen. „Zumindest hätte ich alles versucht, um mich irgendwie herauszuwinden.“

Thiel lächelte. „Wenn wir nicht zusammen wären, hätte ich darauf bestanden, dass du mitkommst. Ich hätte dich auf keinen Fall einen Rückzieher machen lassen.“

Boerne stutzte. „Und jetzt hättest du nicht darauf bestanden?“

Thiel lächelte noch immer. „Wenn du jetzt partout nicht hättest mitkommen wollen, hätte ich dich nicht gezwungen. Ich wäre allein gefahren.“

Für einen Moment schnürte irgendetwas Boerne den Hals zu, und er wusste nicht, was er sagen sollte.

„Aber ich bin sehr froh, dass du mitgekommen bist“, fand Thiel stattdessen die richtigen Worte.

„Ich bin auch sehr froh“, antwortete Boerne mit heiserer Stimme und spürte, wie sich ein warmes Gefühl in seinem Körper ausbreitete, als ihm klar wurde, dass er selten etwas so ernst gemeint hatte.

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