Weiße Schlange Teil 2

Dec 03, 2012 00:19


Fandom: Viewfinder
Pairing: Mikhail/Fei Long
Warnungen: M/M, Yaoi
Fortsetzung zu Taifun und Russisches Roulette.



Teil 1

Als Mikhail am nächsten Tag die Augen aufschlug, stand die Sonne bereits tief am Himmel. Er brauchte einen Moment, bis er sich in der Realität einfand und sich gänzlich aus der unwirklichen Traumwelt lösen konnte, in der er sich bis eben noch befunden hatte.

Eine Traumwelt, in der sich alles vermischt hatte- die vereinzelten Fragmente der Realität, die trotz des Schlafes zu ihm durchgedrungen waren. Fei Longs Duft, die zarte Haut an seiner, das lange, seidige Haar, das überall zu sein schien, sein ruhiges, gleichmäßiges Atmen. Dann die Erinnerung an ihre nicht enden wollenden Vereinigungen- wie er wieder und wieder in ihn eindrang, seine lusterfüllte Schreie hörte, die Fingernägel spürte, die sich in seinen Rücken gruben, kräftige Beine, die sich um seine Hüften schlangen und ihre Körper verschmelzen ließen. Er sah das wunderschöne Gesicht, in Ekstase verzerrt, hörte seinen Namen aus dem Mund des Anderen. Und dann waren da weiter entfernte, längst vergangene Bilder. Der stolze Drache der Baishe, mit hoch erhobenem Haupt, seine Waffe auf Asami gerichtet, die Augen voller Hass. Sein lachendes Gesicht, an diesem Tag in Macao in der Frühlingssonne. Ihr leidenschaftlicher Kuss in dem von der Abendsonne durchfluteten Zimmer weit entfernt von hier. Das Kaleidoskop drehte sich unaufhaltsam.

Sein Blick wanderte von dem abgedunkelten Zimmer, das nur von einigen Sonnenstrahlen, die sich durch die zugezogenen Vorhänge mogelten, spärlich erhellt wurde, zu dem Mann neben ihm.

Er erinnerte sich kaum an den Morgen nach ihrer gemeinsamen Nacht damals in Hong Kong. Doch er konnte es wohl kaum an Schönheit mit diesem aufnehmen.

Die langen Strähnen des losen schwarzen Haares lagen wie Schlingpflanzen über das Kissen verteilt und bedeckten teilweise das ebenmäßige und unwirklich schöne Gesicht. Es war unglaublich, wie vollkommen Liu Fei Long war. Seine Gesichtszüge schienen wie gemeißelt, das Werk eines perfektionistischen Künstlers. Die vollen Lippen waren leicht geöffnet und gaben schwache, ebenmäßige Atemzüge von sich.

Langsam, um ihn nicht zu wecken, rückte Mikhail näher an den schlafenden Körper heran und umschlang ihn vorsichtig mit seinen Armen. So etwas hatte er seit Ewigkeiten nicht mehr getan, doch die Welle an Zuneigung, die ihn mit einem Mal überkam, weckte auf einmal dieses Verlangen. Sofort wurde er wieder erfüllt von Fei Longs Duft und er vergrub seine Nase in dem dichten Haar, während er zärtlich mit den Fingern durch die seidigen Strähnen fuhr.

Wieder überkamen ihn die Erinnerungen an die letzte Nacht. Fei Longs wilde, verzweifelte Leidenschaft hatte ihn überrascht und er hatte sich nicht gewehrt- wie hätte er auch gekonnt?- aber zur gleichen Zeit hatte er das Gefühl, dass Fei Long ein Stück weit wieder dieselbe Zuflucht gesucht hatte wie damals. Die Heftigkeit, mit der er sich ihm hingegeben hatte, ließ Mikhail erschauern, wenn er daran zurückdachte.

Seidiges, duftendes Haar, das sanft auf seine Brust gefallen war, als Fei sich sitzend auf ihm niedergelassen hatte, Mikhail tief in ihm, seine Hände fest in sein Gesäß gekrallt. Der kleine Leberfleck über seinem linken Schlüsselbein, Mikhails Lippen auf dieser Stelle, genau dort, saugend, von Lust übermannt. Der schlanke Körper, der sich aufbäumte, Schmerz in Mikhails Schultern, als sich Fingernägel fest in seine Haut gruben. Leise Schreie, aus dem vollen, wundgeküssten Mund, immer wieder, dann sein Name.

Mikhail…

Wach nicht auf, Fei, dachte Mikhail und presste sich innig an den warmen Körper neben sich. Wach nicht auf, lass uns für immer hier liegen bleiben. Bleibe der, der du heute Nacht warst, der sich mir hingibt, der mir alles von sich gibt.

Doch noch während er diesen stillen Wunsch äußerte begannen die Glieder zu zucken, die mit seinen verfangen waren, und Fei Long rührte sich benommen in seiner Umarmung.

„Mikhail?“

Es schien einen Moment zu dauern, bis er verstand, wo er war und mit wem. Damals, nach dem Taifun, war es genauso gewesen- gefolgt von einem abgeklärten Blick in dem ein ganzes Stück Ernüchterung lag, vielleicht sogar Bereuen. Mikhail bat bei sich darum, diesen Blick nicht wieder sehen zu müssen.

Doch es folgte nichts dergleichen, lediglich ein sanftes Lächeln stahl sich auf seine Lippen.

„Morgen.“

Nein, und diesmal konnte Fei Long ihn nicht einfach wegschicken und ihn für Wochen ignorieren. Sie waren hier zusammen und konnten beide nicht fliehen. Vielleicht hatte er sie deshalb hierher gebracht, weil er dies gewusst hatte, und weil er sich selber kannte, mit seinen Befürchtungen und seinen Zweifeln.

„Morgen“ gab Mikhail zurück und strich ihm zärtlich über die Wange. „Hast du gut geschlafen?“

Es waren Klischeewörter, Wörter, die ein Mann zu seiner Frau sagt, ein Freund zu seiner Freundin oder umgekehrt. Wörter, die von tausenden Liebenden vor ihnen gesprochen worden waren, die sich aber nicht minder gut anfühlten. Und tröstlich.

„Nun ja“ entgegnete Fei mit einem vielsagenden Grinsen. „Abgesehen davon, dass mir alles wehtut…“

„Das war nicht meine Absicht“ entgegnete Mikhail besorgt.

„Komm schon, nachdem wir es gestern so heftig getrieben haben, habe ich nichts anderes erwartet.“ Fei Long lächelte und Mikhail bemerkte erleichtert, dass er keineswegs verärgert darüber zu sein schien. „Aber es war zu gut um aufzuhören.“

Einen Moment lang lagen sie da und hingen ihren Gedanken nach. Fei Longs Arme schlangen sich dann auch um Mikhail, zeichneten kleine Kreise auf seiner Haut. Mikhail wagte kaum, sich zu bewegen, so zerbrechlich wirkte der Moment, so vollkommen, dass er nicht lange dauern konnte.

„Wie viel Uhr ist es denn?“ kam es schließlich von Fei Long und Mikhail erhob sich seufzend, um auf seine Armbanduhr zu sehen, die auf dem Nachttisch lag.

„Kurz vor elf.“

Auf einmal kam Bewegung in Fei, entsetzt löste er sich von Mikhail und sprang aus dem Bett.

„Verdammt, so spät? Ich muss sofort los, ich habe einen Termin.“

Mikhail richtete sich verwirrt auf. „Jetzt schon?“

„Ja, zum Mittagessen!“ rief Fei Long, der bereits im Badezimmer verschwunden war. Seufzend sank Mikhail zurück in die Kissen, während das Wasser zu rauschen begann. Er fühlte sich immer noch müde und ausgelaugt. Wie lange hatten sie es wohl getan und wann hatten sie geschlafen? Drei Uhr? Vier Uhr? Fünf?

Er driftete in einen seltsamen Halbschlaf ab. Normalerweise schlief er nicht sehr viel, fünf bis sechs Stunden pro Nacht mussten genügen, mehr konnte er sich nicht leisten. Nun war er ziemlich froh, dass er ein freies Wochenende hatte, es schien Ewigkeiten her zu sein, seit er sich das letzte Mal so einen Luxus gegönnt hatte. Vielleicht, dachte er bei sich, war das der Grund, warum die Menschen so erpicht darauf waren, einen Partner zu haben- weil man gezwungenermaßen das Leben genießen musste. Durchgevögelte Nächte, Vormittage im Bett, ausführliche Abendessen mit Wein und mehreren Gängen… Küsse am Wasser…

Er erwachte aus seiner Trance, als sich warme Lippen auf seine Wange legten. Verwirrt blinzelnd drehte er sich um und blickte in Fei Longs lächelndes Gesicht.

„Ich muss los. Ich bin heute Nachmittag wieder zurück. Mach dir einen schönen Tag.“

Mikhail lächelte. „Das werde ich. Viel Glück bei deinen Geschäften.“

Fei Longs Gesicht verzog sich einen Moment lang aber er konnte die Gemütsregung nicht lesen, die sich darauf wiederspiegelte.

„Danke. Bis später.“

Die Tür fiel ins Schloss und Mikhail vergrub sein Gesicht in den Laken, atmete den Duft ein, den sein Liebhaber hinterlassen hatte.

###

Mikhail musste feststellen, dass er nicht mehr wusste, wie man sich entspannte. Die Begeisterung über seinen Freiraum schwand rasch, als Fei Long gegangen war und er einem ganzen, ereignislosen Nachmittag entgegensah.

Erst drehte er einige Runden im Swimmingpool des Hotels, dann ließ er sich massieren. Aus Langeweile unterhielt er sich einige Zeit mit den Masseusen, die jedes Mal in lautes Gekicher ausbrachen wenn er ihnen ein oberflächliches, nicht ganz ernst gemeintes Kompliment machte. Es irritierte ihn, wie wenig es ihm Spaß machte, mit ihnen zu flirten- obwohl sie beides äußerst attraktive Frauen waren. Es war ihm bereits vorher aufgefallen, dass seit er angefangen hatte, mit Fei Long zu verkehren, alle anderen Menschen im Vergleich niveaulos und uninteressant erschienen. Der Chinese war alles, was für ihn Eloquenz, Herausforderung und Verführung verkörperte und niemand schien es damit aufnehmen zu können. Sie waren alle nur ein Abklatsch seiner Attraktivität.

Etwas entspannter schlenderte er am See herum, trank Kaffee und versuchte, seine Gedanken nicht andauernd zu Fei Long wandern zu lassen, was ihm kaum gelang. Schon jetzt sehnte er sich wieder mit jeder Faser seines Körpers nach dem anderen Mann, etwas, was er mit keinem anderen Menschen je erlebt hatte. Er war eigentlich Anderes gewohnt- kurze, bedeutungslose Affären, die ihm schnell langweilig wurden. Ab und an hatte er eine Frau für längere Zeit in sein Leben gelassen, nur um festzustellen, dass sie ihn nur für kurze Zeit festhalten konnten.

Doch auch nachdem er von Fei Long bekommen hatte, was er zunächst gewollt hatte, erschien ihm dies lange nicht genug. Noch immer verlangte es ihm nach mehr.

Sogar der See schien nur wie ein müde Imitation des Sees, den er am Abend zuvor erlebt hatte- fahl und farblos, ohne das Funkeln der Lichter, ohne die Schönheit, die Fei Longs Anwesenheit ihm verliehen hatte.

Unruhig kehrte Mikhail ins Hotel zurück und fuhr dort seinen Laptop hoch, um sich online über seine Aktien zu erkundigen, doch eigentlich musste er sich eingestehen, dass er nur auf Fei Longs Rückkehr wartete. Es war mittlerweile fast drei Uhr und noch immer keine Spur von ihm. Hatte er nicht behauptet, es wäre ein Mittagessen? Erfahrungsgemäß zogen sich chinesische Geschäftsessen gerne in die Länge, das wusste er- doch dies erschien ihm doch etwas lang. Ging es womöglich um etwas richtig Großes?

Schließlich ließ er sich auf dem Bett nieder, zog sich vorher das Hemd aus, da es schon wieder unglaublich warm geworden war, und ließ sich abermals von der trägen Müdigkeit übermannen, die ihm schon den ganzen Tag anhaftete. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er endlich die schrille Klingel vernahm und aus dem Halbschlaf schreckte.

Benommen richtete er sich auf und wankte zur Tür. Wie er es erhofft hatte, stand Fei Long vor ihm. Mikhails Blick wanderte über sein Gesicht, das müde wirkte, müde und besorgt. Es war nicht der gleiche Ausdruck, den er am Morgen getragen hatte und Mikhail erkannte, dass irgendetwas geschehen sein musste, was den schönen Drachen schwer beschäftigte.

„Du bist wieder da“ stellte er fest und strich mit einer Hand sanft über eine seiner Wangen. Fei Long schloss seufzend die Augen, als er die Berührung fühlte und wenigstens ein wenig von der Anspannung schien von ihm abzufallen.

„Kann ich reinkommen?“ fragte er.

„Ist das eine Frage? Mi casa es tu casa.“

Er trat zur Seite, so dass Fei Long eintreten konnte und folgte ihm ins Wohnzimmer. Der Chinese ließ sich mit einem Seufzen auf dem Sofa nieder. Er schien sich noch umgezogen zu haben, denn er trug einen bestickten Qipao, wie nur zu besonderen Anlässen. Mikhail setzte sich auf einen der Sessel, denn er hatte das Gefühl, dass Fei Long noch zu weit entfernt war, um sich auf körperliche Nähe einzulassen.

„Du scheinst besorgt“ sagte Mikhail schließlich vorsichtig, als er merkte, dass Fei Long nicht von sich aus sprechen würde.

„Es ist viel passiert heute.“

„Ist dein Geschäftsessen nicht gut verlaufen?“

Endlich hob sein Gegenüber den Blick und sah ihn direkt an. Seine Augen verriet auf einmal viel mehr als zuvor und nun lag auch ein wenig Schmerz darin.

„Wie hast du deinen Nachmittag verbracht?“ fragte er, anstatt seine Frage zu beantworten.

„Ich war spazieren, dann habe ich mich um meine Geschäfte gekümmert. Aktien vor allem.“

„Läuft alles gut?“

Mikhail schüttelte den Kopf, einerseits irritiert von Fei Longs Smalltalk, anderseits mit dem wachsenden Bewusstsein, dass der Andere dies brauchte, um Zeit zu gewinnen und sich in ein Gespräch einzufinden. So schwer Fei Long zu lesen war, langsam verstand er einige seiner Verhaltensmuster.

„Nein, leider nicht so rosig gerade. Aber du kennst die Situation, im Moment kann man nur schnellstmöglich verkaufen und das Schlimmste verhindern.“

Fei Long nickte, er war mit dem gegenwärtigen Aktienmarkt sicher mehr als vertraut.

„Aktien“ schnaubte er dann. „Das Leben läuft aus dem genau gleichen Grund in die falschen Bahnen, aus dem die Leute falsch kalkulieren. Wir haben so genaue Vorstellungen, setzen auf Wahrscheinlichkeit und Vernunft. Was wir dabei aber völlig vergessen, ist die Vorliebe des Lebens für das Unwahrscheinliche… ist es nicht so?“

„Und woher nun diese philosophischen Worte?“ fragte Mikhail, leicht spöttisch, obwohl er dies nicht beabsichtigt hatte. „Hat das mit deinem Essen zu tun? Noch ein Geschäft, bei dem du dich verkalkuliert hast?“

„Kein Geschäft.“ Fei Long schlug die Augen nieder. „Ganz und gar kein Geschäft.“

Mikhail sah ihn überrascht an. „Worum ging es denn dann?“

Fei Long strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Heute trug er das Haar einmal wieder offen und es gab ihm jenes majestätische Aussehen, das die meisten Leute einschüchterte. Obwohl Mikhail wusste, dass dieses kühle, unnahbare Auftreten nur Fassade war, so musste er zugeben, dass er seine Rolle bis zur Perfektion beherrschte.

„Es ging um meine Familie“ flüsterte Fei Long schließlich.

„Deine Familie? Hast du nicht gesagt…“

„Ich war nicht ganz ehrlich. Ich war bis zum letzten Moment nicht sicher, ob ich wirklich hingehen soll… aber heute Morgen, als ich aufgewacht bin, da habe ich gefühlt… dass es richtig ist. Dass ich gehen kann. Und muss.“

Mikhail hatte die Information immer noch nicht verarbeitet. „Du hast Familie hier?“

„Verwunderlich, nicht wahr?“ entgegnete Fei Long und lehnte sich kopfschüttelnd zurück. „Bis vor wenigen Wochen wusste ich davon selbst nichts.“

„Ich dachte, deine Familie wäre aus Hong Kong.“

„Die Familie meines Vaters, ja. Die Familie seiner Frau, die ich die meiste Zeit meines Lebens ‚Mutter‘ nennen musste, ebenfalls. Aber meine richtige Mutter, meine leibliche Mutter- sie ist von hier.“

„Ich habe davon gehört“ murmelte Mikhail, fast beschämt darüber, dass er dem Klatsch und Tratsch, der ihm über Fei Long zu Ohren gekommen war, so viel Beachtung geschenkt hatte. „Dass du ein uneheliches Kind bist…“

Fei Long nickte leicht abwesend, in Gedanken versunken. Als er sprach, schien er mehr zu sich selbst zu sprechen.

„Wie hätte ich das vergessen können… Yan Tsui hat mich beinahe täglich daran erinnert.“

„Was ist mit deiner Mutter passiert?“ Mikhail stellte die heikle Frage geradeheraus, wie es seine Art war. Er dachte bei sich, dass Fei Long, wenn er bis hierhin beschlossen hatte, ehrlich mit ihm zu sein, nicht weiter schweigen würde.

„Sie ist gestorben, als ich noch klein war. Die Umstände ihres Todes… sind ungeklärt. Manche Leute behaupten, sie wäre einigen Leuten zu unbequem geworden, weil sie die Gunst meines Vaters zu sehr beanspruchte. Vor allem natürlich meiner Stiefmutter…“ Fei Long seufzte. „Ich bin damit aufgewachsen, die Wahrheit nicht zu kennen und ich habe mich damit abgefunden, sie eventuell nie zu erfahren. Ich will meiner Stiefmutter nichts unterstellen, sie war stets gut zu mir. Sie hat versucht, mich zu lieben, so gut sie konnte.“

Mikhail sah ihn gebannt an, während er sprach. Fei Long redete und er spürte förmlich, wie ein Damm zwischen ihnen brach, der so vieles aufgehalten hatte.

„Doch das Problem war, dass meine Mutter, als sie starb, keinerlei Informationen von sich hinterließ. Nicht einmal mein Vater wusste, woher sie kam.“

„Wie konnte er denn so etwas nicht wissen?“

„Sie kam aus China nach Hong Kong, weil sie… nun ja, reich werden wollte, berühmt, was weiß ich. Dabei hat sie ihre Herkunft verschleiert.“

„Ging das denn damals so einfach?“

„Eben nicht. Es war ein Risiko für sie, sie hatte keinen Pass, keine Papiere. Sie war keine legale Bürgerin am Anfang und selbst nachdem mein Vater alles für sie arrangiert hatte, weigerte sie sich stets, ihm zu sagen, woher sie gekommen war. Vielleicht fürchtete sie auch um ihre Familie in China, wenn jemand davon erfahren würde, wer weiß. Mein Vater hat sehr darunter gelitten, dass er so wenig von ihr wusste- er hatte das Gefühl, sie würde ihm nicht vertrauen. Was sie womöglich auch nicht hat. Sie war sehr begabt mit Sprachen, also hat sie in kürzester Zeit akzentfrei Kantonesisch gesprochen, nicht einmal ihr Akzent verriet ihre Herkunft. So blieb sie die mysteriöse, rätselhafte Schönheit, die ihm sein Leben lang fern blieb.“

„Hat sie keinen Kontakt aufgenommen? Briefe geschrieben?“

„Nur einen“ antwortete Fei Long und hob auf einmal einen Umschlag hoch, von dem Mikhail zuvor nicht einmal wahrgenommen hatte, dass er ihn in der Hand hielt. „Das ist der erste und letzte Brief, den meine Mutter nach China schickte. Ich nehme an, mein Vater hat sie beschatten lassen, aber sie war zu klug, hat nie etwas getan, was sie hätte verraten können.“

„Und wie kommt es, dass du geschafft hast, was deinem Vater ein Lebtag nicht gelungen ist?“ hakte Mikhail skeptisch nach und betrachtete den Umschlag in Fei Longs Hand, den er hochhielt wie eine Trophäe.

Fei Long seufzte. „Heute ist vieles einfacher, die Kommunikation mit dem Festland läuft über weniger Hindernisse. Es ist leichter, Leute aufzustöbern und Informationen zu bekommen. Früher gab es viele Barrieren zwischen Hong Kong und China- heute gehören sie zumindest formell zusammen. Es hat mich mehrere Wochen gekostet, viel Anstrengung und viel Geld, aber ich habe es endlich geschafft. Ich habe die Familie gefunden, zu der meine Mutter gehörte, bevor sie sie verließ. Ich habe das Rätsel gelöst, das meinen Vater jahrzehntelang beschäftigt hat.“

Mikhail sagte nichts, die Information überwältigte ihn. Und gleichzeitig wurde ihm klar, was Fei Long sein ganzes Leben lang für eine Last getragen haben musste. Nicht zu wissen, woher man kam, wer seine Eltern waren, musste für einen Menschen sicherlich schwer sein. Und nicht einmal vom eigenen Vater erfahren zu können, woher die Frau stammte, die einen geboren hatte, war sicher nur schwer erträglich.

„Und nun?“ fragte er schließlich, nachdem er das Gesagte einigermaßen verdaut hatte. „Hast du sie besucht? Warst du bei ihnen?“

Fei Long nickte langsam. „Ja“ sagte er dann und begann zu erzählen.

###

Es war eine einfache Wohnung, in einem der zahlreichen Hochhäuser. Fei Long blickte auf das Gebäude, während er versuchte, das Rasen seines Herzen zu ignorieren.

„Ist es hier?“ fragte er zweifelnd.

„Das ist die Adresse, die Sie mir genannt haben, Sir“ entgegnete der Fahrer.

Fei Long seufzte tief und schaute weiterhin zu dem Gebäude auf. Noch konnte er umkehren. Vielleicht wäre es das Beste, dachte er bei sich, vielleicht würde er besser daran tun. Was für einen Sinn hatte es schon, in der Vergangenheit zu wühlen? Was vorbei war, war vorbei- er war der, der er war und kein Anderer. Kein emotionaler, nostalgischer, sinnsuchender Weichling. Er sollte erst sein gegenwärtiges Leben auf die Reihe bekommen, bevor er sich auf die sinnlose Suche nach seinen Wurzeln machte. Wenn überhaupt.

Dennoch, etwas in ihm hinderte ihn daran, wegzulaufen. Obwohl er kurz davor war, dem Fahrer die Anweisung zu geben, zurück zu fahren, wieder ins Hotel, zu Mikhail um ein sorgloses Wochenende mit ihm zu verbringen, hielt ihn etwas davon ab. Er wusste, er würde wieder einmal das Gefühl haben, gescheitert zu sein. Ein Gefühl, mit dem er nicht mehr leben wollte.

„Warten Sie hier auf mich“ wies er also den Fahrer an. „Suchen Sie einen Parkplatz und warten Sie auf meinen Anruf. Ich weiß nicht, wie lange es dauert.“

„Sehr wohl, Sir.“

Der Mann stieg aus und ging um den Wagen herum, um Fei Long die Tür zu öffnen. Dieser schluckte und ballte seine leicht schwitzigen Hände zu Fäusten. Was tat er hier nur?

Er stieg aus der Limousine und merkte, wie er die Blicke in dieser gewöhnlichen Gegend auf sich zog. Seltsamerweise irritierte es ihn, obwohl er es gewohnt war, angestarrt zu werden. Lag es daran, dass er eigentlich das Gefühl hatte, hierher gehören zu müssen? Wollte er etwas von sich selbst in diesem Ort wiedersehen, aus dem ein Teil von ihm stammte?

Gleichzeitig ärgerte er sich- warum machte ihm das hier so viel Angst? Warum hatte er sich die ganze Nacht an Mikhail geklammert und kaum Schlaf gefunden, er, der den mächtigsten Mafiabossen der Welt furchtlos gegenüber trat, der seinen Widersachern ohne mit der Wimper zu zucken ein Ende bereitete, der keine Skrupel kannte, alles für sich zu beanspruchen, was er wollte? Er benahm sich wie ein kleiner Junge. Schluss damit. Er richtete sich auf, nahm die stolze, selbstbewusste Haltung an, die er gewohnt war und ging entschlossenen Schrittes auf das Gebäude zu. Nur, dass es diesmal mehr galt, sich selbst zu überzeugen als seine Gegenüber.

Es war Ewigkeiten her gewesen, seit er in einem normalen Wohnhaus gewesen war- früher hatte er öfter mal irgendwelche Schulden eintreiben oder mit einzelnen Unterhändlern ein Hühnchen rupfen müssen, jedoch gab er sich, seit er selbst zum Oberhaupt aufgestiegen war, kaum mehr mit solchen Lappalien ab. Er fühlte sich abgestoßen von dem dreckigen Treppenhaus, wollte die Knöpfe des Aufzugs kaum berühren. Im Aufzug herrschte ein muffiger Geruch und er war froh, dass die Wohnung sich lediglich im 3. Stock befand.

Vor einer großen Türe mit metallenem Gitter blieb er stehen. Hier war es. 318. Er verglich die Nummer mit der auf dem Zettel, den er aus seiner Hosentasche geangelt hatte und nervös umklammert hielt.

Die letzte Möglichkeit, umzukehren. Würde er sich dies verzeihen? Er traf die Entscheidung instinktiv, dachte einfach nicht mehr nach. Klopfte an der Tür, holte tief Luft und zwang sich, die Augen offen zu halten.

###

„Hast du vorher mit ihnen Kontakt aufgenommen?“ fragte Mikhail.

Fei Long lachte kurz auf. „Natürlich. Es wäre ein wenig seltsam, wenn ich einfach so an ihre Tür klopfen würde. ‚Guten Tag, ich bin ihr verlorener Sohn… Sie kennen mich nicht, aber ich habe gedacht ich, schaue einmal vorbei.‘ Nein, ich habe meinen Sekretär anrufen lassen.“

„Anrufen lassen? Du hast ihnen nicht selbst angerufen?“

Fei Long sah ihn betreten an und Mikhail bemerkte den Anflug von Scham in seinem Ausdruck. „Entschuldige“, beeilte er sich zu sagen. „Das war sicher nicht leicht für dich.“

Das schöne Wesen schüttelte vehement den Kopf. „Du hast recht. Ich hätte selbst anrufen können, aber… ich war feige. Ich habe die Konfrontation hinausgezögert. So kam der Moment der Wahrheit erst, als ich vor ihrer Tür stand.“

##

Es war eine ältere Frau, die ihm öffnete. Sie war winzig, sicherlich noch nicht einmal 1,60 groß und hatte kinnlanges, graues Haar, obwohl sie noch nicht wirklich alt wirkte, knapp fünfzig vielleicht. Trotz ihrer Statur hatte sie eine aufrechte Haltung, die sie zu jemandem machte, den man nur schwer übersehen konnte. Sie trug eine schwarze Hose und ein Oberteil im chinesischen Stil, mit glitzernden Paletten besetzt.

Fei Long starrte sie an und sah in ihren Augen das, was er fühlte- eine aufgeregte, ungeduldige Spannung. Seine Hand krallte sich immer noch um das Papier mit der Adresse.

„Fei Long?“ fragte sie mit brüchiger Stimme und starrte ihn mit riesigen Augen an, als hätte sie einen Geist gesehen.

Er nickte. „Tante Yu“ sagte er und konnte das Zittern in seiner Stimme genauso wenig zurückhalten. Instinktiv wusste er, dass er der Schwester seiner Mutter gegenüberstand.

Einen Moment lang sahen sie sich an und Fei Long wusste nicht, was er fühlen sollte. Er zitterte kaum merklich. Dann löste sich die kleine Frau endlich aus ihrer Starre, kam auf ihn zu und fasste ihn bestimmt am Arm. „Wir haben so lange gewartet. Komm rein, Fei, komm rein.“

Immer noch wie in Trance ließ er sich in die Wohnung ziehen, fühlte die fremde Berührung der Frau. Sie traten ins Wohnzimmer, in dessen Mitte ein riesiger Esstisch stand, auf dem sich zahlreiche Teller mit allerlei Speisen türmten.

„Fei Long ist hier!“ rief sie aufgeregt und deutete auf ihn. „Ah Meis Sohn!“

Alle Anwesenden sprangen sofort auf und eilten auf ihn zu. Es waren ein älterer Mann anwesend, eine junge Frau, ein jüngerer Mann und zwei kleine Kinder. Eines davon war noch ein Baby, das andere ein Mädchen von vielleicht vier Jahren. Fei Long fühlte sich verwirrt und überrumpelt, als einer nach dem anderen nach seiner Hand griff, sie drückte und sich vorstellte.

„Das ist meine Tochter Xu Lin“ stellte Tante Yu die junge Frau vor. „Ihre Tochter Yueyue und der kleine Youyou. Und das ist Ming, ihr Mann.“

Fei Long betrachtete die junge Frau, seine Cousine. Sie war schlank und hochgewachsen, trug eine absurde Kombination von einer weiten, grünen Hose und einem weißen, enganliegenden T-Shirt. Ihr Gesicht wirkte hart, die Wangenknochen hervorstehend, die Augen groß und fragend.

„Gege* “ redete sie ihn an. „Wir haben viel von dir gehört. Wie gut du aussiehst! Anscheinend hat deine Seite der Familie die ganze Schönheit abgekriegt.“

Alle lachten. Xu Lins Mann Ming klopfte ihm auf die Schulter. Er war ein wenig kleiner als seine Frau und hatte ein fröhliches, herzliches Gesicht. Die kleine Yueyue gab ihm brav die Hand und starrte ihn herausfordernd an.

„Hallo, Waiguo Shushu** “ grüßte sie ihn und wieder lachten alle. Fei Long fühlte ein wenig von der Spannung von sich abfallen. Er fühlte nichts von dem, was er gefürchtet hatte, aber auch nicht das, was er sich erhofft hatte. Keine Vorwürfe oder Anfeindungen von der Familie, vor der er sich so lange versteckt gehalten hatte, aber auch keine tiefere, innere Verbindung zu ihnen. Es war eine absurde, irreale Situation.

„Er ist kein Ausländer“ erklärte Yueyues Mutter. „Er kommt aus Hong Kong.“

„Er sieht aus wie ein Ausländer“ beharrte das Mädchen.

„Aiyaa“ klagte Tante Yu. „Bring ihr Manieren bei, sie ist so frech wie eh und je.“

Der ältere Herr wurde ihm als Tante Yus Mann Xieyuan vorgestellt. Er klopfte Fei Long aufmunternd auf die Schulter und bot ihm an, sich zu setzen.

„Du trinkst bestimmt Tee?“ fragte er.

Fei Long nickte benommen, immer noch überwältigt von der befremdlichen Situation. Er bemerkte, wie ihn alle verstohlen musterten, als wären sie sich nicht sicher, was sie von ihm halten sollten. Dies war eine der wenigen Situationen, in denen er sein einschüchterndes Äußeres verfluchte- normalerweise leistete es ihm gute Dienste, vor allem, um das zu bekommen, was er wollte. Nun jedoch verspürte er den verzweifelten Wunsch, anders auszusehen, normal, um diesen Menschen zu ähneln, denen er offenbar angehörte. So jedoch fühlte er sich wie ein Fremdkörper, ähnelte doch diese Frau, die die Schwester seiner Mutter sein sollte, kaum dem einzigen Foto, das dem Brief beigelegen hatte, den er mit großer Mühe ergattert hatte.

Xieyuan schenkte ihm Tee ein und Fei Long nahm höflich einen Schluck, während er dem kleinen Mädchen zulächelte, das sein Misstrauen gegenüber dem Ausländer offenbar noch nicht abgelegt hatte. Dann erhob sich Tante Yu plötzlich.

„Ich schaue nach.“

Ihr Mann warf ihr einen skeptischen Blick zu. „Hältst du das für eine gute Idee? Sie hat doch schon gesagt, was sie von der Sache hält.“

Tante Yu schüttelte den Kopf. „Sie macht nur wieder auf stur. Eigentlich will sie ihren Enkel kennenlernen, da bin ich mir sicher.“

Fei Long sah Xieyuan fragend an. „Deine Großmutter“ erklärte dieser. „Sie weigert sich, dich zu treffen, offenbar… hegt sie immer noch einen Groll auf… deine Mutter.“

Tante Yu seufzte hinter ihm. „Ah Mei ist damals gegangen, ohne jemandem Bescheid zu sagen. Von einem Tag auf den nächsten war sie verschwunden… wir wussten nicht, wohin, und haben immer gehofft, sie würde eines Tages zurück kommen. Bis zu diesem Brief wussten wir noch nicht einmal, wohin sie gegangen ist. Wir haben versucht, sie zu finden, aber vergebens- bis du uns geschrieben hast und gesagt hast, dass sie tot ist. Mama hat das nie verkraftet.“

In diesem Moment erklang ein keifendes Gezeter hinter einer der Türen. Fei Long wusste nicht, ob es die schrille Tonlage war oder der Dialekt, aber er verstand so gut wie nichts von dem, was die Person von sich gab. Er war jedoch dankbar, dass sie das laufende Gespräch unterbrach, denn er wusste nicht wirklich, was er darauf antworten sollte. Was wollte er eigentlich hier? In den Wunden dieser einfachen, friedlichen Familie stochern und ihre Welt aus den Fugen heben nur für seine eigenen emotionalen Anfälle? Was hatte er sich erhofft? Ein nettes Kaffeekränzchen und munteres Plaudern über alte Zeiten?

Tante Yu gab keifend etwas zur Person hinter der Tür zurück, das er ebenfalls nicht verstand. Offenbar stand ihm die Verwirrung ins Gesicht geschrieben, denn seine kleine Nichte gab grinsend von sich: „Du verstehst kein Hangzhou hua***, oder?“

„Fei Long kommt aus Hong Kong, da spricht man Kantonesisch“ klärte sie ihre Mutter auf und versuchte wohl, zuversichtlich zu lächeln um die Situation zu entschärfen.

„Ich weiß“ entgegnete Yueyue die Augen verdrehend.

„Mama wird schon noch kommen“ meinte Tante Yu in diesem Moment seufzend. „Lass uns essen!“

Sie ließ sich auf den Stuhl neben Fei Long sinken und drückte ihm ein Paar Stäbchen in die Hand. „Iss!“

Fei Long wäre ihrem Wunsch gerne nachgekommen, doch seine Kehle war wie zugeschnürt. Obwohl alles köstlich duftete und er selten die Gelegenheit hatte, selbst zubereitetes Essen zu sich zu nehmen, musste er sich zu jedem Bissen zwingen.

„Erzähl uns von dir“ forderte Xu Lin ihn auf, während sie ihrer Tochter Essen auf den Teller legte. „Was arbeitest du? Wie lebst du? Wir sind Cousin und Cousine und ich kenne dich überhaupt nicht! Was auch immer ich Mama über dich gefragt habe, sie konnte nicht antworten.“

Fei Long schluckte und sein Hals wurde noch enger. Wie konnte er diesen Menschen die Wahrheit sagen? Dass er Boss einer milliardenschweren kriminellen Organisation war, dass er Verbrechen beging für sein Geld, tötete und mit Drogen handelte für sein luxuriöses Leben?

„Ich habe die Firma meines Vaters geerbt“ sagte er zögernd und seine Stimme klang viel zu unsicher, viel zu krächzend.

„Du verdienst sicher gut!“ lachte Xieyuan. „Uns hat alle der Schlag getroffen, als du herein kamst. So schick und gutaussehend. Man sieht, dass du viel Geld machst.“

„Papa, du machst ihn noch ganz verlegen.“

„Meine Lehrerin sagt, in Hong Kong haben alle Leute Geld“ kam es von Yueyue und alle begannen zu lachen. Auch Fei Long rang sich ein Lächeln ab.

„Also, also“ unterbrach sie Xu Lin entrüstet. „Fei Long arbeitet auch sicher viel für sein Geld.“

„Von wegen!“

Auf einmal durchdrang die schrille Stimme den Raum, die Fei Long bereits gehört hatte. Erst konnte er sie nicht einordnen, doch dann erblickte er eine kleine, runzlige, grauhaarige Frau, die sich an einen Stock klammerte und bebend im Raum stand. Offenbar hatte sie niemand hereinkommen hören. Ihr Mandarin war stark gefärbt, doch dass sie nicht mehr Dialekt sprach, sagte Fei Long, dass sie offenbar wollte, dass er sie verstand.

„Mama“ rief Tante Yu erschrocken aus und sprang auf, um die alte Frau an den Tisch zu führen. „Komm schon, führ dich nicht auf, iss mit uns.“

„Hong Kong, alles reiche Schnösel da!“ keifte sie jedoch weiter. „Die Nase ganz weit oben und immer Extrawürste! Aber Ah Mei wollte unbedingt da hin, ich hab’s mir ja immer gedacht, dass sie nach Hong Kong abgehauen ist.“

„Mama, bitte. Beruhige dich.“

Tante Yu bugsierte sie auf den letzten freien Stuhl und drückte ihr ebenfalls Stäbchen in die Hand. „Ich habe keinen Hunger!“ rief Fei Longs Großmutter aus und starrte den Eindringling eindringlich an.

"Ausgerechnet nach Hong Kong ist sie, Schauspielerin werden wollte sie, jaja. Und was kommt dabei raus? Sie heiratet irgendeinen Mafiaboss und Jahre später kommt dieser schnieke Bengel hier an in seinem teuren Anzug und bringt Schande über uns.“

Fei Long spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. Er hatte schon einiges an Beleidigungen ertragen müssen in seinem Leben und hatte es stets weggesteckt- oder den Urheber kaltgemacht. Von seiner Großmutter jedoch derart angeredet zu werden, ließ ihn einen Stich in der Magengrube fühlen. Er erhob sich rasch und legte die Stäbchen ab.

„Vielleicht sollte ich gehen!“

„Aber nein!“ rief Tante Yu verzweifelt und Xu Lin erhob sich rasch, ihre Hand umfasste Fei Longs Arm.

„Geh nicht, Oma ist nicht einfach, aber das liegt nicht an dir“ sagte sie auf Kantonesisch.

Fei Long sah sie überrascht an. „Warum sprichst du…?“

„Ich habe in meiner Jugend ständig Serien aus Hong Kong geschaut“ flüsterte sie lächelnd. „Dabei habe ich das eine oder andere an Kantonesisch aufgeschnappt.“

In diesem Moment überflutete Fei Long eine Welle der Verbundenheit mit seiner Cousine. Er konnte nicht erklären, woher dies kam, aber es schien eine seltsame Vertrautheit zwischen ihnen zu herrschen, die er nicht verstand. Fühlte es sich so an, vom gleichen Blut zu sein?

Zögernd setzte er sich wieder und Tante Yu fuhr fort, ihre Mutter zurechtzuweisen.

„Hör mal, es ist das erste Mal, dass Fei Long uns besucht und wenn du dich weiter so aufführst wird es das letzte Mal sein! Er ist Ah Meis Sohn und egal wie du darüber denkst, er gehört zur Familie. Also finde dich damit ab.“

Die alte Frau starrte ihn immer noch mit durchdringendem Blick an, der nicht durchblicken ließ, was sie dachte.

„Also gut“ kam es schließlich von ihr. „Aber essen werde ich nichts.“

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Fei Long hätte nicht gedacht, dass seine Großmutter auftauen würde, doch so war es. Gegen Ende akzeptierte sie doch das Essen, das Tante Yu auf ihre Schale legte, nannte Fei Long mehrmals „gutaussehend“ und drückte ihm zu guter Letzt den kleinen Youyou in die Arme, den er verlegen mehrere Male hin- und her wiegte, bevor er zu schreien begann.

„Deine Mutter war schon immer unser Sorgenkind“ begann sie dann klagend, als alle mit vollen Bäuchen die Stäbchen weglegten und Xieyuan wieder begann, Tee aufzugießen. „Ständig hat sie ihre Wünsche geändert, ständig wollte sie dieses, dann jenes. Und geträumt hat sie die ganze Zeit, von anderen Ländern. Sie wollte immer fort von hier. Doch damals war das nicht so einfach, man konnte nicht einfach aus China hinaus spazieren wie heute. Wir hatten viele Auseinandersetzungen, Ah Mei und ich. Ich habe immer gedacht, das ist normal zwischen Mutter und Tochter. Oft hat sie mir angedroht, abzuhauen, aber ich hätte nie gedacht, dass sie es wirklich tut…“ Ihr runzliges Gesicht verzog sich sorgenvoll. „Ich habe immer gehofft, sie noch einmal zu sehen…“

„Ich habe ihren Brief mitgebracht, den ihr mir geschickt habt“ unterbrach Fei Long sie und zog das Kuvert aus der Tasche. Er legte es vor sich auf den Tisch und starrte darauf, nicht wissend, was er fühlen sollte.

„Wir dachten, du willst ihn vielleicht haben“ sagte Tante Yu leise und griff nach dem Papier, um es unentschlossen in ihren Händen zu drehen. „Immerhin hat ihn deine Mutter geschrieben.“

Fei Long schüttelt nur den Kopf. „Ich habe viele Fotos von mir und meiner Mutter. Und das, was darin geschrieben steht, kann ich auswendig.“

„Ich auch“ flüsterte Tante Yu. „Der erste und einzige Brief meiner Schwester… als ich ihn las, wusste ich sofort, was für ein Mensch dein Vater war, auch wenn sie es nicht direkt gesagt hat. Und dass du seine sogenannte ,Firma‘ geerbt hast, macht mir Sorgen. Ah Mei und ich sind zusammen aufgewachsen, wir haben Wege zu kommunizieren, die bloße Worte übersteigen. Mama weigerte sich, den Brief zu lesen und als ich ihr sagte, Ah Mei sei mit einem Kriminellen verheiratet, wollte sie nicht einmal das Foto sehen, das sie beigelegt hatte.“

„Und ich habe mir geschworen, diesen Mann und sein Kind niemals in meinem Haus willkommen zu heißen“ kam es tonlos von der alten Frau, die keine Miene verzog, sondern träge auf ihrem Stuhl hin und her rutschte. Fei Long überkam wieder der überwältigende Wunsch zu fliehen, doch ein besänftigender Blick von Xu Lin ließ ihn sitzenbleiben. Ihm war bewusst, dass es keine gute Idee wäre, ihnen auch noch zu sagen, dass seine Eltern nie verheiratet gewesen waren.

„In ihrem Brief hat sie ständig betont, dass sie nun viel Geld hat und wie glücklich sie ist. Doch ich erkannte, dass das nicht ganz stimmte- etwas bedrückte sie. All die Jahre habe ich mich gefragt, wie meine Schwester lebt und was aus dem kleinen Jungen geworden ist, den sie geboren hat.“

Tante Yu sah auf und blickte Fei Long mit tränenverhangenen Augen an und er war überwältigt von so viel Trauer über seine Mutter, die er kaum gekannt hatte.

„Du hast ihre Schönheit geerbt, Fei Long, zweifellos, und sicher noch mehr. Ich hoffe, wir haben Gelegenheit, uns besser kennenzulernen. Es war gut, dass du uns kontaktiert hast. Wir alle sind froh, dass du hier bist. Auch Mama- sie weiß es bloß noch nicht.“

Fei Long sah hinüber zu seiner Großmutter, die nun reglos auf ihrem Stuhl saß, eine Schale mit Tee in der Hand, den Blick starr auf die Tischplatte gerichtet. Er dachte an seine Mutter, wie sie nach Hong Kong gekommen war um ihr Glück zu suchen. Hatte sie es je gefunden? Hatte Tante Yu recht und sie war nie wirklich glücklich gewesen? Er wusste es nicht und es gab nichts und niemand, der ihm dies hätte sagen können. Wie diese Frau, die sein Vater Lin Mei nannte, gelebt hatte, wie sie gestorben war- es gab niemanden mehr, der dies bezeugen konnte. Es gab nur noch Ah Mei, die junge Frau, die aus Hangzhou geflohen war und die Erinnerung an sie.

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Schließlich verabschiedete sich Fei Long, er sah auf die Uhr und erinnerte sich daran, dass er Mikhail mehrere Stunden alleine gelassen hatte.

„Du gehst schon morgen nach Hong Kong zurück?“ fragte Xu Lin, nachdem sie sich herzlich von ihm verabschiedet hatte. „Wir dachten, du bleibst ein paar Tage.“

„Ich muss arbeiten“ entschuldigte Fei Long sich verlegen, so viel Herzlichkeit nicht gewohnt.

„Es wird nicht wieder wie vorher werden, oder, Fei Long?“ fragte seine Tante sorgenvoll und drückte seine Hand. „Schreib uns, wir beantworten alle deine Briefe. Wenn du frei hast, komm ab und zu und besuche uns. Wir sind deine Familie, dies ist dein Zuhause.“

„Auf jeden Fall“ stimmte Fei Long zu, auch wenn er sich nicht sicher war. Vielleicht würde er, sobald er dieses Haus verlassen hatte, es vorziehen, diese Familie wieder zu vergessen, so wie seine Vergangenheit. Er würde in seinen alten Trott zurückverfallen und es bereuen, hergekommen zu sein. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht wollte er diese Verbindung aufrecht erhalten, die er heute geknüpft hatte.

Als er sich von Yueyue verabschiedete, drückte sie ihn herzlich, wie nur kleine Kinder es tun und er musste überrascht feststellen, dass es ihn rührte.

„Tschüss, Waiguo Shushu“ murmelte sie und flüsterte dann, so dass nur er es hören konnte: „Ich werde dir ganz oft schreiben. Es ist egal ob du antwortest oder nicht.“

Unter den erstaunten Blicken seiner Cousine und Mings, die ihn nach unten geleitet hatten, stieg er schließlich in die Limousine. Er konnte das mulmige Gefühl nicht abschütteln, das ihm folgte. Warum war er gekommen? Würde er endlich frei sein von den Dämonen seiner Vergangenheit? War er dieser abstrakten Person, die seine Mutter gewesen war, näher gekommen?

Vielleicht ein wenig, dachte er bei sich und als er nach einer Weile das Wasser des Westsees erblickte, beschloss er für sich: „Wenn Yueyue mir schreibt, werde ich jeden Brief beantworten.“

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Mikhail sagte zunächst nichts, doch Fei Long erkannte an der Intensität seines Blickes, dass er verstand, was dieser Moment für sie bedeutete.

„Warst du deshalb gestern so unruhig?“ fragte er schließlich.

Fei Long lachte kurz. „Natürlich. Ich wusste nicht, was mich erwartet. Ich hatte schreckliche Angst, etwas zu entdecken, was ich nicht entdecken wollte.“

„Und, hast du?“

Fei Long schüttelte den Kopf.

„Ich weiß nicht. Aber es war ein Teil von mir, vor dem ich Angst hatte. Der Teil, der aus einer ganz gewöhnlichen Familie kommt, der mir so fremd ist. Mein Leben lang wurde ich bevorzugt behandelt, aber gleichzeitig war mir irgendwie bewusst, dass nicht alles von mir dorthin gehört.“

Mikhail nickte langsam. Er verstand nun einiges besser- Fei Longs Zerrissenheit, sein Zögern, sich zu öffnen, seine seltsame Faszination mit dem Leben und den Gepflogenheiten gewöhnlicher Menschen. Er erinnerte sich an sein eigenes Verwundern, als er an diesem Tag in Macao darauf bestanden hatte, die Fähre zu nehmen. Wie er es genossen hatte, in einem gewöhnlichen Restaurant zu essen, fern von jedem Luxus. Er selbst hatte nie das Verlangen gehabt, sich wie jemand zu verhalten, der weniger Geld oder Status hatte- er verstand es als reine Zeitverschwendung. Doch für Fei Long, so verstand er, war es seine Art gewesen, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen, mit der Herkunft, die ihm bis heute ein Mysterium gewesen war.

„Verstehst du jetzt? Wie sollte ich mich mit dir einlassen, ohne zu wissen, wer ich selber bin?“ fragte Fei Long und fuhr sich gedankenverloren durch das lange Haar.

Ein Lächeln huschte über Mikhails Gesicht und er rückte näher, um liebevoll seine Fingerspitzen über Fei Longs Wange wandern zu lassen. Die Nähe berauschte sie beide und der zerbrechliche Moment ließ sie den Atem anhalten.

„Weißt du jetzt, wer du bist? Liu Fei Long?“ fragte Mikhail leise und Fei Long sah nichts mehr außer seinen blauen Augen.

„Nein… aber ich bin ihm nun ein ganzes Stück näher“ flüsterte er, bevor sich ihre Lippen trafen.

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Sie liebten sich still und langsam, kein Vergleich zu der verzweifelten Heftigkeit der Nacht davor. Mikhail fühlte sich vollkommen überwältigt von den einzelnen Fragmenten ihrer Vereinigungen, die ihm zu kostbar erschienen- der Moment, in dem sich seine Finger zum ersten Mal auf Feis zarte Haut legten, in dem sein Name zum ersten Mal seine Lippen verließ. Der feine Schmerz auf seinem Rücken von seinen Fingernägeln, die heißen Lippen auf seinen, sein heißes Inneres, die dunklen, mandelförmigen Augen, die sich lustvoll verdrehten.

Es war heiß und ihr Schweiß vermischte sich, als ihre Körper miteinander verschmolzen, Mikhail über ihm, in ihm, Fei Longs Augen geschlossen, die Hände auf seinen Schultern. Er wusste, dass es mittlerweile nicht mehr Schmerz war, der den Drachen zum Schreien brachte und das Wissen erregte ihn umso mehr.

Und dann, als sie atemlos nebeneinander lagen, immer noch nicht ganz von der Heftigkeit ihrer Lust erholt, glitt Fei Longs Hand langsam über seinen schweißnassen Rücken glitt und legte sich auf seinen Hintern, so dass Mikhail sofort begriff was er wollte. Der auffordernde Blick bestätigte es.

Mikhail hätte nicht behaupten können, dass ihm der Gedanke kein Unbehagen bereitete, doch wie schon hunderte vor ihm konnte er sich nicht wehren gegen den Blick des Raubtiers, der keinen Widerstand duldete. Und hatte ihm Fei Long nicht schon so viel gegeben? Hatte er ihm nicht sein ganzes Vertrauen geschenkt, seine Ehre aufs Spiel gesetzt, indem Mikhail gegenüber so viel preisgegeben hatte? Es war an ihm, dieses Opfer zu würdigen. Also wehrte er sich nicht, als Fei Longs Finger, mit Gleitgel benetzt, in ihn drangen.

Der Schmerz war aushaltbar, doch er erinnerte sich noch genau an den Ausdruck in Fei Longs Gesicht, als er ihn das erste Mal genommen hatte, in dieser Nacht des Taifuns in Hong Kong, die so weit entfernt von hier schien. Deshalb wappnete sich Mikhail gegen größeren Schmerz als Fei Long zwischen seine Beine glitt und sie anhob.

Doch plötzlich hielt er inne und Mikhail musterte das wunderschöne Gesicht, umrandet von losen schwarzen Strähnen, von denen er eine ergriff und sie langsam um seinen Finger wickelte. Er hob seinen Kopf um die weichen Lippen seines Liebhabers zu küssen, die den Kuss nur zögernd erwiderten.

„Was ist los, Liebling?“ fragte er in leicht spöttischem Tonfall und hob sein Becken, um seine Erektion gegen die Fei Longs zu bringen. Der Chinese stöhnte dunkel auf.

„Willst du das hier, Mikhail Arbatov?“

„Ich kann nicht leugnen, dass es mich ein bisschen nervös macht“ entgegnete Mikhail ernst und legte seine Hand auf Fei Longs Wange. „Aber ich habe mich mit dir bereits auf ein Terrain begeben, das ich noch nie betreten habe. Wieso sollten wir also nicht auch dies hier tun?“

Fei Long fragte nicht nach, was er damit meinte, er schien voll und ganz zu verstehen. Nach einem weiteren Kuss ließ er sich auf Mikhail sinken und brachte sich in Position, dann begann er langsam, in den Körper unter sich zu dringen.

Mikhail schloss die Augen und spürte, wie das fremde Glied in ihn drang, ein Gefühl, das er so nicht kannte. Ein Stöhnen entkam ihm. Eine nie gekannte Erregung durchfloss seinen Körper wie Lava. Den Duft Fei Longs in der Nase, das sanfte Kitzeln seines seidigen Haares auf seinem Gesicht, öffnete er die Augen und sah in die dunklen, mandelförmigen seines Gegenübers. Feuer loderte in ihnen.

„Gott“ entkam es Fei Long und sein Körper erbebte, als er sich vollkommen in Mikhail geschoben hatte, dann vergrub er stöhnend das Gesicht an Mikhails Hals. „Ich will dich so sehr…“

Mikhails eigener Körper zitterte vor Leidenschaft und von einer Aufregung, von der er nicht gedacht hatte, dass er sie noch fühlen konnte. Seine Arme legten sich um den eleganten Körper auf seinem und er hauchte in sein Ohr: „Halte dich nicht zurück… ich bin nicht aus Glas. Und du kannst alles von mir haben, Fei.“

Im Stillen Mikhails Aufrichtigkeit bewundernd, der so ganz anders reagierte als er selbst damals, richtete Fei Long sich wieder auf. Der erste Stoß kam zögernd, doch gleich darauf versenkte er sich gekonnt und tief in ihm, so dass Mikhail nur noch Sterne sah. Er presste die Augen fest zusammen und stöhnte ohne Scham. Jeder andere Mann, der dies gewagt hatte, wäre einen qualvollen Tod gestorben, doch mit Fei Long ging es nicht um Sieg oder Unterwerfung, mit ihm war beides möglich, zur gleichen Zeit. Sie waren sich absolut ebenbürtig und wussten es, und das war der Grund warum sie sich einander hingeben konnte ohne sich zurückzuhalten.

Der Schmerz war da, gewiss, doch Fei Long wusste, was er tat, schließlich war Mikhail nicht der erste Mann, der von ihm genommen wurde. Doch für Eifersucht hatte er keine Zeit, alles, wozu er noch fähig war, war, sich von diesem neuen, überwältigenden Gefühl und der Lust zwischen ihnen überfluten zu lassen, Fei Longs atemlosen Stöhnen zu lauschen und es mit Küssen zu ertränken, als er schließlich kam. Dann hielt Mikhail seinen Drachen in den Armen und lauschte seinem abflachenden Atem, während ein leises Lächeln um seine Lippen spielte.

Egal, was noch kommen mag, Fei Long, nach heute gehören wir zusammen.

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Es war etwas Neues für Fei Long, etwas, das er noch nie gehabt hatte.

Einen Geliebten.

Denn obwohl Mikhail seine Worte nicht ausgesprochen hatte, so spürte Fei Long ihre Ausmaße dennoch, als sie sich am Tag darauf am Flughafen verabschiedeten. Sie hatten den Rest des Sonntages hauptsächlich im Bett verbracht, hatten diesen Traum nicht lösen wollen. Dieses Wochenende hatte sie verbunden. Was aus dieser Verbindung werden würde, wusste er ebenso wenig wie bei seiner Familie, denn genaugenommen machte sie ihm ebenso viel Angst. Doch im Moment war es ihm das wert für das Gefühl, in Mikhails starken Armen zu liegen uns von seinen Küssen geweckt zu werden.

„Eine gute Heimreise, mein Liebling“ sagte Mikhail und umarmte ihn fest. Fei Long spürte noch ein letztes Mal die Wärme, die von dem anderen Mann ausging.

Ja, es stand immer noch viel zwischen ihnen und er kannte den Russen immer noch zu wenig. Die Gefahr, verletzt und ausgenutzt zu werden, bestand nach wie vor- doch er fühlte sich nun anders als früher, mutiger. Er war bereit gewesen, seine Vergangenheit zu konfrontieren- warum sollte er es nicht auch wagen, sich furchtlos in etwas zu stürzen, so wie dieser blonde Mann, der in der Nacht des Taifuns bis auf die Knochen durchnässt, aber unerschrocken in sein Zimmer gestürzt war?

„Dir auch“ entgegnete er und küsste ihn. Er würde das Gefühl dieser warmen, weichen Lippen auf seinen vermissen.

„Wir sehen uns bald“ versprach Mikhail, nachdem sie sich voneinander gelöst haben. „In nur wenigen Tagen. Überarbeite dich nicht.“

„Du auch.“

Der Russe bedachte ihn ein letztes Mal mit einem warmen Blick, dann drehte er sich um und ging von dannen. Fei Long blickte ihm nach, dem starken, aufrechten Körper, der sich festen Schrittes von ihm entfernte.

Wenig später saß er im Flieger und sah die Stadt und den See unter sich kleiner werden. Ob und wann er wohl hierher zurückkehren würde? Er dachte an seine Mutter, wie sie ihre ersten Jahre hier verbracht hatte, erst als junges Mädchen, dann als junge Frau. Hätte sie gewollt, dass er zurückkam um nach seinen Wurzeln zu suchen? Hatte sie nicht alles getan, um jegliche Verbindung zu diesem Ort für immer zu durchtrennen?

Doch dann erinnerte er sich an einen Augenblick an diesem Morgen, ein Gespräch, das er mit Mikhail gehabt hatte, zwischen den endlosen Küssen,den Liebkosungen, den schönen Worten, dem Sex.

„Was ist mit Bai
Suzhen passiert?“ hatte Mikhail plötzlich gefragt, als sie völlig erschöpft dalagen, Fei Long in seinen Armen, den Kopf auf seiner Brust, das schwarze Haar auf seiner Haut verteilt. „Der weißen Schlange?“

Er hatte gelächelt, beeindruckt, dass Mikhail in der Lage war, sich chinesische Namen so gut zu merken.

„Nun ja, es ist eine Legende und es gibt unzählige Versionen. In einer davon werden Bai und Xu wiedergeboren und eine völlig neue Geschichte beginnt. In einer anderen wird Bai von ihrer Freundin, einer anderen Schlange, befreit. Dann gibt es noch die, in der Bai von Xu ein Kind bekommt, bevor sie in die Pagode verbannt wird… der Junge wächst heran und wird ein hoher Beamter. Als er erwachsen ist, kommt er zurück und sucht die Pagode auf, um seiner Mutter Respekt zu zollen. Als Belohnung für seine Pietät wird Bai aus ihrem Gefängnis befreit.“

Mikhail hatte gelächelt und ihn auf die Schläfe geküsst, während er zärtlich durch sein Haar strich. „Das ist die Version, die dir am besten gefällt, nicht wahr?“

Fei Long hatte ebenfalls gelächelt und seine Hand verflocht sich mit der anderen, die auf seinem Arm lag. „Du hast vollkommen recht. Woher wusstest du das nur?“

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Anmekungen:
Gege- chin. für "großer Bruder", wird aber auch oft bei Cousins verwendet
Waiguo Shushu- Waiguo- ausländisch, Shushu- Onkel
Hangzhou hua- hua: Sprache, Hangzhouer Dialekt

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