Originalgeschichte.
Zusammenfassung: Jo glaubt seinen Traummann gefunden zu haben: gutaussehend, reich und gut im Bett. Und er scheint seine Gefühle zu erwidern. Einziges Problem: Robert ist gut zwanzig Jahre älter als er, hat eine Frau und zwei Kinder...
Warnungen: Yaoi, M/M, 18+
Der Schmerz brauchte eine Weile, bis er ankam.
Eine Weile fühlte ich nur Leere und obwohl mir bewusst war, dass etwas anders war, so dauerte es einige Zeit, bis mir wirklich bewusst wurde, was das bedeutete.
Es waren Kleinigkeiten, Gewohnheiten.
Blicke aufs Handy, bis mir einfiel, dass ich nicht mehr auf seinen Anruf zu warten brauchte. Das leere Glas, aus dem er getrunken hatte, an unserem letzten gemeinsamen Abend, und das ich nicht wagte, wegzuräumen weil es wie ein Denkmal war, das abzureißen mir beinahe blasphemisch erschien. Der getrocknete Bierschaum klebte am Rand und das Muster erinnerte mich an Wellen, kleine, perlige Wellen.
Unser Zusammensein war stets heimlich und verboten gewesen, daher hatte es kaum Spuren hinterlassen. Nicht so wie bei einem Paar, das zusammen lebt und nach dessen Trennung der zurückgelassene Partner dann stets Spuren des Zusammenlebens findet. Robert hatte nichts hinterlassen, keine Gegenstände, nichts, außer diesem Glas, das ich irgendwann in den Mülleimer warf, weil ich mir nicht vorstellen konnte, jemals wieder daraus zu trinken. Nichts erinnerte mich daran, dass er je dagewesen war, genauso gut hätte er ein Traum gewesen sein können, eine Phantasie, und manchmal flüchtete ich mich in die Vorstellung, es sei so gewesen.
Aber er hatte etwas hinterlassen, eine riesige, nicht zu füllende Leere in mir. Obwohl alles noch so war wie zu dem Zeitpunkt, als er noch dagewesen war, alles genauso roch, alles genauso aussah, war da tief in mir ein Loch, das vorher nicht dagewesen war.
Einige Stunden, vielleicht sogar einige Tage befand ich mich in einer Art Schockzustand. Ich fühlte mich seltsam taub und die Traurigkeit wollte einfach nicht ankommen. Es ging alles auf einmal so einfach, als wäre nichts geschehen- nachdem sein Auto verschwunden war, kehrte ich in meine Wohnung zurück, legte mich schlafen, dachte nicht mehr nach. Einmal hatte ich gelesen, dass schwer Verletzte nach Unfällen oft die Ausmaße ihrer Verletzung nicht erkannten, mit abgetrennten Gliedmaßen versuchten, zu laufen und weiter Auto zu fahren, auf einem Bein zu hüpfen, während das andere am Straßenrand lag.
So war es auch bei mir.
Es dauerte lange, bis der Schmerz ankam. Und als ich das Ausmaß meiner Verletzung erkannte, als ich erkannte, wie gefährlich und schwerwiegend die Wunde war, die offen klaffte und blutete, war ich alleine.
Die Tränen begannen plötzlich in Strömen zu fließen. Ich wusste nicht, was es genau ausgelöst hatte, aber auf einmal wurde mir die Endgültigkeit der Situation bewusst.
Er war weg.
Er war endgültig weg. Und er würde nicht mehr kommen.
So lange der Schmerz gebraucht hatte, um anzukommen, mit solcher Wucht traf er mich nun. Aber seltsamerweise war es kein betäubender, lähmender Schmerz wie bisher, wenn ich tage- und wochenlang auf seine Anrufe gewartet hatte. Es war ein anspornender Schmerz und ich fühlte mich auf einmal in einer Art Rausch.
Zunächst putzte ich meine Wohnung so gründlich wie noch nie zuvor, dabei legte ich eine Wut und einen Eifer an den Tag, der mir völlig unbekannt gewesen war. Die ganze Zeit über weinte ich, vergoss wütende Tränen und hielt manchmal inne, um meine Frustration hinaus zu schreien.
Als ich fertig war, durchwühlte ich meinen Schrank, schmiss alle alten Klamotten hinaus, die ich nur aus Gewohnheit behalten hatte, schraubte endlich mein Regal an die Wand, das schon seit Wochen verschweißt in der Ecke gestanden hatte, kaufte eine neue Klobrille.
Gleich am nächsten Morgen, nachdem ich mit Robert Schluss gemacht hatte, hatte Paul mich angerufen und sich erkundigt, warum wir ohne ein Wort zu sagen so plötzlich verschwunden waren. Ich hatte nicht die Kraft gehabt, es ihm zu sagen. Stattdessen hatte ich ihm irgendetwas vorgeschwindelt von dem Bedürfnis, noch ein wenig Zeit zu zweit zu verbringen, bevor Robert wieder nach Hause gemusst hatte, und mich überraschte die Gelassenheit, mit der diese Lüge über meine Lippen kam.
So ließ er mich lange in Ruhe und ich erlebte den Wahn meines Liebeskummers gänzlich allein.
Er war lediglich erstaunt, als ich ihn eine Woche später anrief und darum bat, mit mir wegzugehen.
„Du wolltest noch nie von dir aus weggehen, seit du das mit Robert am Laufen hast“ meinte er misstrauisch. „Was ist los?“
Da erzählte ich ihm alles und die Worte wirkten seltsam befreiend. Ich berichtete von unserem Quickie auf dem Klo, dem Anruf von Roberts Frau und dem Unfall seiner Tochter und meiner Entscheidung daraufhin. Paul schwieg die ganze Zeit und schien nicht zu wissen, was er entgegnen sollte.
„Wow, das kommt unerwartet“ kam es schließlich zögerlich von ihm. „Er war irgendwie ein prima Kerl, ich hatte mich gerade damit abgefunden, dass du und er... aber ich meine, warum so plötzlich?“
Nun berichtete ich ebenfalls von den Gedanken, die mich bereits die ganzen Wochen vor dem Abend geplagt hatten und meine Erkenntnis, dem Ganzen nicht gewachsen zu sein. Davon, wie ich diese Überlegungen aufgeschoben hatte, um einen schönen, entspannten Abend mit Robert zu haben, um dann zu erkennen, dass man so etwas nicht aufschieben kann. Dass es Entscheidungen gab, die man einfach fällen muss, wenn die Zeit dafür gekommen ist.
Es war seltsam, dies alles auszusprechen, viel davon war mir selbst noch nicht ganz klar gewesen. Nun gewann alles an Struktur und ich erkannte auf einmal, warum ich alles getan hatte.
„Und wie geht’s dir jetzt damit?“ fragte Paul schließlich vorsichtig.
Ich seufzte, denn das war der Schwachpunkt an der ganzen Sache.
„Beschissen.“
Wir schwiegen einige Augenblicke und ich hörte Paul nach einer Weile tief seufzen.
„Brauchst du irgendwas? Soll ich vorbeikommen?“
„Ich will weggehen. Hab ich doch schon gesagt“ entgegnete ich ungeduldig.
„Bist du sicher, dass du das willst?“
„Ja. Natürlich.“
Natürlich war ich mir nicht sicher. Aber ich musste raus, raus aus dieser Wohnung, die mich wahnsinnig machte, weil sie mich immer wieder dazu brachte, an ihn zu denken. Obwohl er nichts Materielles hinterlassen hatte, so blieben doch die Erinnerungen. Hier in der Küche hatten wir Kaffee getrunken, in diesem Bett hatten wir Sex gehabt, auf der Couch hatten wir chinesisches Fastfood in uns hinein gestopft und sinnlose Talkshows geschaut.
Es führte alles zu dieser furchtbaren Gedankenspirale, der ich entkommen wollte.
Also raus, mit Paul und ein paar Anderen.
Zunächst schien es wie eine Befreiung. Ich schien wieder Luft holen zu können und spürte, wie mein altes Selbst langsam wieder zum Vorschein kam. Bis morgens um vier tanzte ich, trank einen Drink nach dem anderen und lag irgendwann taumelnd in fremden Armen.
Ich erfuhr nicht einmal seinen Namen, unser Sex war schnell, bedeutungslos und nicht wirklich gut. Am nächsten Morgen wachte ich in meinem leeren, kalten Bett auf, das gebrauchte Kondom lag neben mir und bot einen ekelerregenden Anblick, von dem Typ von letzter Nacht keine Spur.
Auf einmal spürte ich wieder dieses leere Gefühl, war von mir selbst angewidert und die Tränen liefen heiß über mein Gesicht. Was tat ich da? Wie kam ich auf den Gedanken, so etwas zu tun könnte mich ihn vergessen lassen? Umso mehr dachte ich an ihn, vermisste seinen Körper, seine Wärme, die Geborgenheit, die ich mit ihm gefühlt hatte. Ich merkte, dass jeder andere mir nie das würde geben können, was er mir gegeben hatte und dass ich keine Lust mehr darauf hatte, mit jemand anderem zu schlafen.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es jemals jemand anderen als ihn geben würde.
Das war der Moment, in dem ich wahrhaft zu weinen begann, und zwar nicht aus Wut und Verzweiflung, sondern wegen der tiefen Traurigkeit, die mich nun vollkommen und endgültig eingeholt hatte.
Nun saß ich hier auf den Trümmern meines Lebens, heulte mir die Seele aus dem Leib, weinte und weinte und klagte mein Leid mit dem verzweifelten Wunsch, irgendjemand würde es hören und lindern. Doch es gab nur noch mich und der einzige, der vielleicht ebenso fühlte wie ich, war weit von mir entfernt und würde nie wieder zu mir zurückkommen.
Bestimmte Szenen spielten sich in meinem Kopf ab, immer und immer wieder. Besonders schöne oder besonders schlimme Momente, die sich in mein Gedächtnis gegraben hatten, wurden vor meinem inneren Auge abgespult wie alte Filmrollen.
Der Moment, in dem ich ihn kennengelernt hatte, als er mich zum ersten Mal gesehen hatte. Sein verschlafenes Gesicht mit den zerzausten Strähnen in der Stirn kurz nach dem Aufwachen. Der verträumte Ausdruck in seinen Augen, wenn er einen Film sah, der ihn bewegte. Wie er mich zum ersten Mal geküsst hatte, in seinem Auto, in der Dunkelheit. Der Schmerz und die Trauer, als er mir zum ersten und zum letzten Mal gesagt hatte, dass er mich liebte. All das quälte mich, ließ mich nachts nicht schlafen. Und wenn ich aufwachte, war es das erste, was ich sah.
Tagsüber schleppte ich mich in die Uni, vermied es dort, mit irgendjemandem zu reden und ließ mir nichts anmerken. Zu meinem Glück standen die Prüfungen kurz bevor und jeder war mehr oder weniger mit sich selbst beschäftigt. So verschwanden die meisten nach dem Mittagessen sofort in der Bibliothek, um zu lernen und ich konnte unbemerkt nach Hause verschwinden, wo ich mich wieder in meinem Bett verkroch.
Immer, wenn Paul mich anrief, sagte ich ihm, er solle nicht vorbeikommen, doch er tat es trotzdem hin und wieder. Da ich ihm schlecht die Tür vor der Nase zuknallen konnte, ließ ich ihn dann doch herein und zeigte ihm wohl oder übel, was für ein Häufchen Elend ich geworden war.
Er sagte niemals ein ermahnendes Wort, bemerkte niemals, dass er mich ja gewarnt hatte und ich selbst schuld war, und ich war ihm dankbar dafür. Stattdessen kochte er für mich, nahm mich in den Arm, tröstete mich ohne Worte und seine bloße Präsenz wirkte auf mich beruhigender, als ich zuzugeben wagte. Irgendwann tolerierte ich seine immer häufiger werdenden Besuche und genoss sie sogar.
Ende Juli stand dann eine ganze Woche voller Prüfungen und ich hatte gottseidank kaum Gelegenheit, an etwas anderes zu denken. Obwohl der Schmerz über Roberts Abwesenheit so stark war wie eh und je, wurde er dennoch ein wenig aufgeschoben von dem ganzen Gerede der Professoren und Dozenten, die mich fast in den Wahnsinn trieben mit dem ganzen Lernstoff, den wir erst kurz vorher noch auf die Nase gedrückt bekamen.
Ich hatte mittlerweile begriffen, dass es keine Linderung gab für diesen Liebeskummer und dass es lange dauern würde, bis alles wieder so wäre wie vorher, wenn dies überhaupt möglich war. Das Einzige, was ich tun konnte, war, damit leben zu lernen und allmählich wurde dieser furchtbare, überwältigende Kummer zu einem allgegenwärtigen Brennen, das mir zwar die Seele schwer machte, aber meine Tränen langsam versiegen ließ.
Nur manchmal kamen sie noch, nachts. Einmal dachte ich an seine Tochter und fragte mich, wie es ihr wohl ging nach ihrem Unfall, und auf einmal kam mir der Gedanke, dass ich dies womöglich nie erfahren würde. Diese Gewissheit machte mich mit einem Schlag so traurig, dass ich kaum noch atmen konnte. Ein andermal erzählte mir Paul, dass Michi wieder bei Dennis zu Hause gewesen sei und dies überschüttete mich derart mit Erinnerungen, dass es kaum erträglich schien.
Ich glaube, es war der Moment in dem es in jeder einzelnen Faser meines Körpers, in jeder kleinsten Synapse meines Gehirns angekommen war, als ich mich meinem Schicksal hingab und seltsam ruhig wurde: Als ich endgültig erkannt hatte, dass es keinen Robert mehr gab in meinem Leben und nichts, was mit ihm zu tun gehabt hatte.
Als ich dies begriff, vollständig, endgültig, kam etwas in mir zum Stillstand, was zuvor gebraust hatte und ich spürte, dass nun der Punkt war, an dem ich neu anknüpfen konnte.
Ich sollte jedoch bald merken, dass alles noch nicht ansatzweise vorbei war.
Die Prüfungen waren endlich vorbei und ich hatte in allem besser abgeschnitten als erwartet, trotz des inneren Tumults, der die ganze Zeit über in mir geherrscht hatte. Die vorlesungsfreie Zeit hatte einmal wieder begonnen und ich freute mich auf mehrere Wochen Nichtstun.
Es war furchtbar heiß an diesem Tag, der Sommer war endgültig angekommen und die ganze Stadt brütete unter der Hitzewelle. Ich hatte den ganzen Abend im Café gearbeitet und war fix und fertig, dementsprechend hing ich entkräftet auf dem Sofa. Paul war einmal wieder vorbeigekommen und saß neben mir, ein kühles Bier in der Hand, so wie ich auch. Als er gemerkt hatte, dass ich mich langsam von meinem Schock erholt hatte, waren seine Besuche seltener geworden, hin und wieder war ich auch bei ihm gewesen und mein soziales Leben kam langsam wieder ein wenig in die Gänge.
„Puh“ stöhnte Paul. „Jetzt hatten wir die ganze Zeit so Scheißwetter, es hat die ganze Zeit geschifft wie nur was und jetzt auf einmal haben wir pralle Sonne und vierzig Grad im Schatten.“
„Dreißig“ korrigierte ich ihn grinsend. Ich kannte seinen Hang zu dramatischen Übertreibungen.
„Gefühle vierzig. Gibt’s nichts dazwischen? Irgendwas Angenehmes?“
Ich zuckte mit den Achseln. „Offenbar ist uns die Perfektion nicht vergönnt und wir müssen uns mit dem zufriedengeben, was es gibt. Sei froh, dass du nicht den ganzen Tag in dieser prallen Sonne herumrennen musstest und schön auf deinem Balkon hocken konntest.“
Paul wurde von seinen Eltern finanziell unterstützt, so dass er es absolut nicht nötig hatte, in seiner freien Zeit zu arbeiteten. Ich versuchte immer, ihm dies zu gönnen, aber gerade in solchen Situationen stieg in mir doch hin und wieder der bittere Neid auf, vor allem, wenn er sich noch beklagte.
Er seufzte. „Heute wäre ich lieber nicht mit Dennis auf dem Balkon gesessen.“
Ich sah ihn verwundert an. Paul hatte sich noch nie in irgendeiner Weise negativ über Dennis geäußert.
„Wieso? Was ist denn los?“
„Er will ausziehen, hat er mir heute gesagt.“
„Will er mit Denise zusammenziehen?“
Paul nickte nur stumm und starrte auf den Boden.
„Hey“ murmelte ich mitfühlend und klopfte ihm ermutigend auf die Schulter. „Das wird schon. Setz doch einfach eine Anzeige ins Internet, im Oktober kommen doch wieder jede Menge Erstis und suchen was. Du kannst die Leute richtig casten, das wird sicher lustig.“
Er grinste lustlos und mir wurde auf einmal bewusst, dass es das erste Mal seit Wochen war, dass ich ihn aufmunterte und tröstete und nicht umgekehrt.
„Toll“ meinte er in genervtem Ton, während er die Augen verdrehte. „Dann muss ich allen in einem Einstiegsgespräch verklickern, dass ich schwul bin und dann reduziert sich das auf mindestens die Hälfte.“
„Ach komm“ widersprach ich. „Da werden doch sicherlich jede Menge Mädels dabei sind, die ganz scharf drauf sind, deine neue Fag Hag zu werden.“
„Na super“ entgegnete er wenig begeistert. „Ich glaube, ich ziehe auch um, in ne Einzimmerwohnung.“
„Hm, ist keine schlechte Idee“ meinte ich und sah mich in meinem eigenen kleinen Reich um. „Du hast immer deine Ruhe, keinen nervt es, dass du schwul bist, du kannst vögeln wen du willst und wann du willst.“
„Als ob das Dennis jemals gestört hätte...“ Paul setzte sich auf und sah mich an. „Ich wohne nun mal nicht gerne alleine. Ich mag es, wenn Leute um mich sind und ich mit jemandem reden kann, wenn ich nach Hause komme oder ab und zu ein Bier trinken.“
„Ich kann ja verstehen, dass dich das nervt, aber ich fürchte, du musst da durch.“
Paul seufzte tief, als würde alles Unglück dieser Welt auf ihm lasten. Hätte er sich nicht die letzten Wochen so gut um mich gekümmert, wäre ich jetzt sicher furchtbar genervt gewesen, aber mir war bewusst, dass er nun einiges an Meckereien bei mir gut hatte.
„Das wird schon. Ich helf dir auch beim Umziehen, falls es nötig sein sollte.“
„Ach ja“ rief Paul da auf einmal. „Da fällt mir was ein... am Freitag feiert Dennis seinen Geburtstag und er hat gemeint, ich soll dich auch einladen. Ich hab’s ganz vergessen, weil ich mir gedacht hab, du hast sicher sowieso keine Lust und verkriechst dich lieber wieder in deinem Bett, aber ich hab’s dir hiermit gesagt.“
Ich nickte und lehnte mich zurück. An sich wäre mir sogar gerade danach gewesen, einmal wieder ein bisschen unter die Leute zu kommen, aber da gab es ein winziges Problem.
„Wer kommt denn alles?“
Paul kicherte ziemlich unmännlich.
„Keine Sorge, das habe ich schon für dich abgecheckt, ganz unauffällig natürlich. Michi wird nicht da sein, er ist verhindert. Deswegen habe ich auch gedacht, ich reiche die Einladung weiter, also keine Sorge. Er ist auf nem anderen Geburtstag eingeladen.“
„Und wie hast du das alles ,unauffällig‘ rausgekriegt?“ hakte ich genervt nach.
„Hey, keine Sorge, Dennis weiß nichts von Robert und deinem ganzen Techtelmechtel. Ich habe das ganz elegant aus ihm herausgepresst, ganz beiläufig.“
„Wie kann man denn so etwas ,beiläufig‘ herauspressen?“
„Hey“ entgegnete Paul leicht entrüstet. „Das war ganz einfach. Ich habe nur damit angefangen, ob jemand von seiner Handballmannschaft kommt und er meinte, der einzige, mit dem er sich so gut versteht, dass er ihn zu seinem Geburtstag einladen würde, sei Michi und noch so ein anderer Kerl. Beide haben aber keine Zeit und daher hätte sich das erledigt.“
Ich seufzte etwas erleichtert. Bei Paul wusste man nie, wie weit man seiner Verschwiegenheit trauen konnte.
„In Ordnung, ich überlegs mir.“
„Was?“ Paul sah mich überrascht an. „Im Ernst? Wow...“ Er klopfte mir breit lächelnd auf die Schulter. „Sieht so aus, als ob du langsam zu den Lebenden zurückkehrst.“
Ich versuchte, ebenfalls zu lächeln, obwohl mir nicht wirklich danach war.
Freitag war ich drauf und dran, wieder abzusagen und mich in meinem Bett zu verkriechen. Irgendwie war mir nicht nach Menschen, nachdem ich wieder den ganzen Tag im Café gearbeitet hatte, aber schließlich entschloss ich mich doch dazu, zu Dennis‘ Geburtstag zu gehen. Ich beruhigte mich mit dem Gedanken, ich könne jederzeit gehen und hätte dennoch anstandshalber mal vorbeigeschaut. Also hievte ich meinen schmerzenden Körper unter die Dusche und stylte zum ersten Mal seit Wochen wieder anständig meine Haare. Irgendwann begegnete mir im Spiegel wieder ein halbwegs zivilisationstaugliches Gesicht und ich rief tief durchatmend Paul an, um mich nach den Details für den Abend zu erkundigen.
„Wow, Jo... ich hätte nicht gedacht, dass du allen Ernstes kommst!“ rief Paul begeistert. „Man, wie lange habe ich drauf gewartet, mal wieder was mit dir zu unternehmen... Dennis‘ meinte, die Leute können ab acht irgendwann antanzen und es wäre ganz nett, wann du was zu trinken mitbringen würdest. Irgendwann später gehen wir dann noch weg, wegen den Nachbarn.“
Also ging ich noch schnell in den Supermarkt und kaufte eine Flasche Wein, um nicht ohne etwas da zu stehen. Ich machte mich erst um zehn auf zu Paul und Dennis nach Hause, da ich nicht einer der Ersten sein wollte. Mein Instinkt hatte mich richtig geleitet, denn als ich ankam, war die Party schon im Gange und meine Anwesenheit fiel nicht besonders auf- genau das, was ich wollte. Paul und Dennis begrüßten mich begeistert, Dennis hatte ich schon seit Wochen nicht mehr gesehen. Ich kannte nur weniger der Leute und war froh, dass ich mich wenigstens mit Paul unterhalten konnte. Es waren hauptsächlich Freunde aus Dennis Studiengang, die so in ihrer Materie aufgingen, dass es nicht einfach war, sich in ein Gespräch beiläufig einzubringen.
Schließlich wurde ich doch von einem sehr geschwätzigen Mädchen in ein Gespräch verwickelt, die mir ihr ganzes Leben in Kurzform erzählte. Sonderbarerweise fand ich das ganz angenehm, es war schön, nur zuhören und nicht aktiv am Gespräch teilnehmen zu müssen. Abgesehen davon war sie ziemlich sympathisch und ich lauschte in einer Art Trance ihren Ausführungen. Sie hieß Lisa und war zwei Jahre älter als ich, war im Schach- und im Reitclub, hatte Eltern mit Geld und war daher so ziemlich überall einmal gewesen und hielt nicht viel von Treue in einer Beziehung, wie sie mir lang und breit erklärte. An diesem Punkt begann ich dann doch wieder nervös nach Paul zu äugen, denn auf derlei Konversationen war ich im Moment absolut nicht scharf. Doch er schien sich, angetrunken wie er war, nur allzu gut mit einem ziemlich gutaussehenden Typen zu verstehen und ich wollte hinterher nicht als Spielverderber dastehen. Also opferte ich mich und ließ mir von Lisa weiterhin erklären, warum sie es nicht verwerflich fand, ab und zu einen kleinen One-Night-Stand zu haben, auch wenn sie fest vergeben war.
Ich war ziemlich erleichtert, als Dennis dann um halb zwölf zum Aufbruch blies, denn ich hatte vor, dies als Entschuldigung zu nehmen, mich zu verdrücken. Als wir gerade alle unsere Schuhe anzogen, kam Paul auf mich zu.
„Ich geh dann mal“ murmelte ich, während ich mir mein Jäckchen überzog. Trotz der Jahreszeit war es ziemlich kühl zur Zeit.
„Was?“ Paul zog mich etwas zur Seite. „Ich dachte, du hast Spaß... hast dich doch ganz gut unterhalten, oder?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Schon ok alles, aber ich bin jetzt ziemlich müde und möchte gerne heim.“
„Ach komm schon, Jo, das ist das erste Mal seit Wochen, dass wir mal wieder zusammen weggehen können. Und das nur in nen ganz normalen Club ohne dass du dich nachher beschweren kannst, ich hätte irgendwen abgeschleppt und mich nicht um dich gekümmert.“
Ich musste leicht lächeln. „Und dein überaus hübscher Gesprächspartner?“
Paul sah mich überrascht an. „Der? Der ist doch schon seit Jahren vergeben. Ich glaube, Dennis kennt ihn nur, weil er mit der Freundin seiner Freundin zusammen ist. Wollte dich nur nicht nerven und die ganze Zeit an dir kleben. Aber ich bin schon dafür, dass du jetzt noch mitkommst.“
„Was ist denn los?“ fragte Dennis, der auf einmal neben uns stand. „Jo, du bist doch noch am Start, oder?“
Ich sah ihn etwas verlegen an. „Ehrlich gesagt...“
„Er hat gemeint, er möchte heim“ unterbrach mich Paul. „Aber ich finde, das ist keine gute Idee und deswegen bin ich grade dabei, ihn zu überreden, noch mitzukommen.“
„Ja, ohne Witz, das wäre echt schade, wenn du schon gehst“ stimmte Dennis wie auf Kommando mit ein. „Du machst dich in letzter Zeit echt rar... was ist denn los? Ich hab dich schon ewig nicht mehr gesehen, da kannst du doch nicht gleich wieder abhauen. Außerdem ist es erst halb zwölf...“
„Nur noch ein bisschen.“ Paul sah mich bettelnd an. Ich seufzte tief und sah von Paul zu Dennis und von Dennis zu Paul, die mich beide wie kleine Welpen anschauten und mich damit zum Lachen brachten.
„Also schön“ gab ich nach. „Aber nur noch ein bisschen. Ich bin echt total k.o., hab den ganzen Tag gearbeitet.“
Die beiden strahlten ob ihrer Überredungskunst und ich dackelte hinter Paul her zur Straßenbahn.
Ich bereute meine Entscheidung sofort, als ich den Club betrat. Es war viel zu viel los und man konnte sich kaum bewegen, zudem war die Musik schlecht und überhaupt nicht mein Ding. Normalerweise tanzte ich auf alles, aber es gab Ausnahmen. Vor allem Oldies fand ich in solchen Situationen unerträglich, aber der DJ schien momentan seine Kindheit wiederbeleben zu wollen und quälte mich in einem fort mit Madonna, Britney Spears und derlei Scheußlichkeiten.
Ich holte mir einen Drink an der Bar, denn das war alles, was mir noch einfiel. Paul kannte mich gut genug, um zu merken, wie genervt ich war und gesellte sich sogleich mit einem entschuldigenden Blick zu mir.
„Sorry“ meinte er etwas zerknirscht. „Ist nicht so dein Ding, ich weiß... meins auch nicht, ehrlich gesagt.“
„Na ja, jetzt sind wir ja schon hier...“ brummte ich nur und nuckelte an dem schon ganz zerkauten Röhrchen.
„Ey, sorry, ich war hier schon lange nicht mehr... außerdem kommt hier immer mal wieder andere Musik, man weiß nie, wie es ist. Wenn du willst, gehen wir beide gleich einfach weiter ins Odeon, was meinst du?“
Ich schüttelte den Kopf. „Ne, wie ich schon gesagt hab, ist mir nicht wirklich nach Weggehen heute. Ich trinke jetzt aus, dann gehe ich nach Hause.“
„Ach, komm...“
„Du hast mich schon hierher geschleppt und es war blöd, dass ich überhaupt mitgekommen bin...“
„Aber im Odeon ist die Musik doch immer gut. Und früher hast du immer gerne getanzt. Ich verspreche dir auch, es wird ein Männerabend, nur wir beide, die Tanzfläche, und nichts sonst. Ich gucke keinem einzigem Arsch hinterher. Versprochen.“
„Paul“ entgegnete ich mahnend. „Nein heißt nein. Ich glaube kaum, dass meine Laune heute noch besser wird und fit bin ich auch nicht mehr. Wenn du magst, tanze ich noch ein kleines bisschen mit dir, wenn ich leer getrunken habe, aber dann mache ich mich auf den Heimweg, aus, Schluss, basta.“
Paul seufzte. Ich schien ihn etwas geknickt zu haben, denn er murmelte etwas von: „früher“ und „nicht mehr der Alte.“ Solche Worte taten mir auch weh, aber ich sagte nichts und starrte stoisch vor mich hin, während sich das Glas vor mir allmählich leerte. Was sollte ich auch machen? Schließlich waren die Dinge nicht von jetzt auf nachher wieder beim Alten. Irgendwie tat es mir ja auch leid für ihn, dass ich so eine Spaßbremse war und ehrlich gesagt war ich von mir selbst genervt. Doch konnte ich nicht einfach einen Schalter umlegen und gute Laune haben, das ging beim besten Willen nicht.
Etwas versöhnlich meinte ich schließlich zu ihm, dass ich noch kurz auf die Toilette wolle, bevor ich mit ihm tanzen würde und er nickte immer noch ziemlich missmutig.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich mich zum Klo durchgequetscht hatte und ich fühlte mich wie nach einem Boxkampf. Nachdem ich mich in die Schlange eingereiht hatte, durfte ich noch mehrere Minuten warten, bis ich schließlich meine Blase erleichtern konnte.
Beim Händewaschen erwog ich, sofort zu verschwinden. Mir war auf eine seltsame Art schwindelig und ich merkte, wie wohl es tat, einigermaßen sauerstoffhaltige Luft zu atmen. Drinnen war es so stickig und heiß, dass mein Magen sich sofort verkrampft hatte, nun fühlte ich mich ein wenig ruhiger und die leise Jazzmusik, die im Hintergrund lief, ließ meine Nerven ein bisschen weniger flattern.
Ich spritzte mir etwas Wasser ins Gesicht und dann richtete ich mich auf.
Plötzlich sah ich in ein bekanntes Augenpaar.
Ich fühlte mich, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen. So unerwartet war der Anblick, dieses Gesicht, dass ich nicht anders konnte, als ihn einige Sekunden lang perplex anzustarren, als sei er ein Teeniestar.
„M... Michi?“ stotterte ich verwirrt, während mir immer noch die Wassertropfen übers Gesicht bis zum Kinn rannen.
Er schien zunächst erstaunt, aber dann erkannte er mich wohl. Ich hatte zunächst einen sehr verwirrten Ausdruck, dann wandelte sich dieser innerhalb von Sekunden in Erkenntnis und schließlich in etwas anderes, was ich nicht definieren konnte.
„Jo“ sagte er kühl.
Wir starrten uns einige Sekunden nur an und in meinem Kopf brach ein wahres Gewitter an Gefühlen los. Da war einmal dieses ewige Schuldgefühl, das ich immer gespürt hatte, wenn ich mit Robert zusammen gewesen war, dann natürlich die Überraschung, warum ich ihn ausgerechnet hier traf. Und natürlich die Trauer, denn Michi war Roberts Sohn. Robert, den ich verlassen hatte. Robert, den ich liebte. Robert, an dessen Abwesenheit ich mich immer noch nicht gewöhnt hatte.
Doch ehe ich diesen Tumult in mir auch nur ansatzweise ordnen konnte, wurde ich von ihm am Arm gepackt und zur Seite gezogen.
„Ich muss mit dir reden“ sagte Michi, dabei sah er mich nicht an. Ich war so perplex, dass ich mich nicht wehrte, sondern nur hinter ihm herlief. Während wir uns durch die Menschenmenge schlängelten, überlegte ich seltsamerweise nur, wo er mich hinbringen würde, darüber, was genau er mir denn jetzt sagen wollte, dachte ich gar nicht wirklich nach. Wahrscheinlich hatte der Alkohol mein Gehirn schon so weit lahmgelegt, dass ich nicht mehr in den üblichen Bahnen dachte.
Wir gingen nach draußen, vorbei an den Türstehern und in eine kleine Seitengasse neben dem Club, die menschenleer war. Ich begann sofort zu frösteln, da ich meine Jacke drinnen hatte und außerdem ein leichter Schweißfilm meine Haut überzog.
Kaum waren wir zum Stehen gekommen, sah sich Michi kurz nach rechts und links um. Ich sah ihn direkt an und wartete darauf, dass er zu sprechen begann, doch noch ehe ich einen klaren Gedanken fassen konnte, spürte ich auf einmal einen harten Schlag mitten ins Gesicht. Er war so kräftig, dass ich sofort an der Wand zu Boden ging.
„Verdammt....“ krächzte ich nur und tastete nach meiner Nase, aus der sofort das Blut zu laufen begann. Meine Finger färbten sich rot. Verwirrt blickte ich zu Michi auf, der mich nun am Kragen packte und nach oben zerrte. Ich starrte in sein wutverzerrtes Gesicht und seine blitzenden Augen und auf einmal wurde mir klar, dass er es wusste.
„Du fickst mit meinem Vater, was? Du billige Nutte.“
Ich erwartete wieder einen Schlag und kniff die Augen fest zusammen. Doch nichts kam. Stattdessen ließen seine Hände mich los und ich sackte wieder nach unten. Der Alkohol zusammen mit der Überraschung machten mich völlig wehrlos.
„Michi, das... es ist nicht so...“
„Halt’s Maul!“ schrie er. „Erzähl mir doch nichts. Denkst du, ich bin blöd? Dass er das denkt ist klar, aber du auch? Hm? Du auch?“
Er hatte getrunken, das war klar. Auch er schien sich absolut nicht mehr unter Kontrolle zu haben und deshalb war er wohl völlig ausgetickt, als er mich gesehen hatte. Diesen logischen Gedanken brachte mein völlig vernebeltes Gehirn noch zustande.
„Michi, beruhige dich“ schaffte ich es zu sagen.
„Du Hure. Du dreckige Hure.“
Abgesehen davon, dass seine beleidigenden Worte mir wirklich wehtaten, hatte ich in diesem Moment plötzlich Angst. Mir wurde bewusst, in was für einer Situation ich war. Wir waren hier in einer Seitengasse, niemand hier außer uns, ich, angetrunken und körperlich unterlegen und er, in seinem Alkoholrausch absolut cholerisch. Er hätte mich totprügeln können, wenn er es gewollt hätte. Er lief hektisch hin und her, schien selbst nicht ganz zu verstehen, was er hier tat.
Ich atmete tief durch und zwang mich, Ruhe zu bewahren.
„Ich verstehe, dass du wütend bist, aber...“
„Warum? Bist du vollkommen bescheuert? Er ist doch uralt, verdammt! Hast du es so nötig oder was?“
Er war stehengeblieben und starrte mich an wie ein seltsames Tier. Der Schmerz pulsierte in meinem Gesicht und ich drückte mich kraftlos ein wenig an der Wand hoch.
„Woher weißt du es?“ fragte ich ihn heißer und blickte in seine wilden Augen. Er wirkte wie ein angeschossener Tiger in Rage.
Auf meine Frage hin lachte er laut und freudlos.
„Ihr wollt mich wohl verarschen. Das ist doch sonnenklar! Schon an dem Tag, als meine Mutter mit deinem Perso in mein Zimmer gekommen ist und mich gefragt hat, ob das einer meiner Freunde ist, war mir klar, was da läuft, obwohl ich mich immer wieder davon zu überzeugen versucht habe, dass ich total paranoid bin. Ich habe sie angelogen. Ich habe ihn noch gedeckt, diesen perversen Arsch. Ich habe ihr gesagt, ich würde dich kennen, du wärst ein Schulfreund von mir.“
Ich sah ihn erschrocken an. Mich überraschte das Ausmaß seiner Wut mehr als alles andere. Natürlich war es verständlich, dass er wütend war, aber trotz allem fand ich die Schimpfwörter, die er uns an den Kopf warf, überaus heftig.
„Und dann, an diesem Tag in der Wohnung“ fuhr er fort. „Man, wie offensichtlich das war! Du sahst aus, als hätte er dich gerade frisch durchgevögelt und er hat dich die ganze Zeit mit diesem Blick angesehen, als ob... mein Gott, ich glaube, das war das Widerlichste, was ich je gesehen habe.“
Mittlerweile hatte ich es geschafft, wieder zum Stehen zu kommen. Keuchend lehnte ich an der Wand und versuchte, den Blutfluss zu stoppen, der immer noch nicht zum Stillstand gekommen war. Michi schien dies nicht zu kümmern. Ich erinnerte mich an das erste Mal, als ich ihn gesehen hatte und wie sanft und gutmütig er mir da vorgekommen war.
„Seitdem kann ich ihn nicht mehr sehen. Immer wieder stelle ich mir vor, wie er mit dir… Oh Gott!“ heulte er an dieser Stelle auf. „Mein eigener Vater. Ein perverser, schwuler, alter Sack. Ich fasse es nicht.“
Seine Augen richteten sich wieder mit diesem unkontrollierten Ausdruck auf mich und mein Herz schlug mir bis zum Zerbersten gegen die Brust, als er auf mich zukam und mich erneut packte.
„Mach Schluss mit ihm, bitte“ zischte er durch seine Zähne. Ehe ich etwas entgegnen konnte, ließ er mich schon wieder los und brachte einige Schritte Abstand zwischen uns.
„Meine Familie ist das reinste Wrack“ begann er und seine Stimme klang auf einmal brüchig, als wäre er ihrer nicht mehr Herr. „Meine Mutter hat Depressionen, aber richtig. Sie schluckt Tabletten dagegen, und wenn sie sie schluckt, dann geht es ihr wieder besser. Aber nur dann. Ohne die Pillen liegt sie manchmal tagelang im Bett und heult und keiner weiß, warum.“
Er sah mich an und auf einmal war alles an Wut und Hass aus seinen Augen verschwunden, nur noch eine bittere Verzweiflung lag darin. Die Straßenlaternen erhellten die ganze Szene gespenstisch.
„Das hat er dir nicht erzählt, hm?“ flüsterte er heißer und fuhr dann fort. „Meine Schwester ist total magersüchtig. Meine Mutter kümmert es nicht, sie ist so stolz auf ihre hübsche, kleine, schlanke Baletttochter. Manchmal sitze ich am Tisch und frage mich, ob ich der Einzige bin, der das krank findet, dass sie zum Mittagessen nur einen Apfel ist und zum Abendessen eine Scheibe Brot mit ein bisschen Gurke drauf. Findest du das normal?“
Er wartete nicht auf meine Antwort sondern schüttelte nur heftig den Kopf.
„Er war der Einzige, der halbwegs die Nerven behalten hat. Klar, er ist die ganze Zeit arbeiten, zumindest dachten wir das immer. Aber er hat zumindest nicht irgendwelche komischen Anfälle, hat immer die Ruhe bewahrt und hat als einziger noch manchmal ein Ohr für meine Probleme gehabt... und dann kriege ich raus, warum das alles so ist. Weil ihn das alles gar nicht interessiert. Weil er seinen kleinen Liebhaber hat und wenn ihm alles zu viel wird, geht er und fickt ihn und er scheißt drauf, wie es uns allen geht.“
Ich setzte an, etwas zu sagen, aber er fiel mir ins Wort, ehe ich begonnen hatte.
„Mach Schluss mit ihm, bitte.“
„Du kommst zu spät“ schaffte ich es nun herauszupressen. „Ich habe vor ein paar Wochen alles beendet. Es ist aus.“
Eine betretene Stille folgte auf diese Worte, in denen er mich nur ansah und offenbar versuchte, zu verarbeiten, was ich gesagt hatte. Dann sagte er leise: „Du und er... ihr seid also nicht mehr...“
„Ich habe ihn seit Wochen nicht mehr gesehen.“
Ich wusste nicht, ob es Erleichterung war, die über sein Gesicht huschte oder eine plötzliche Ernüchterung, auf jeden Fall schienen seine Züge weicher und eine gewisse Spannung verließ seinen Körper.
Er richtete sich aus seiner zusammengesunkenen Haltung auf und musterte mich einige Sekunden lang, als müsste er sich über etwas klar werden, wahrscheinlich darüber, ob ich die Wahrheit sagte. Dann schien ihm auf einmal bewusst zu werden, was er getan hatte. Hektisch kramte er in seiner Hosentasche und hielt mir kurz darauf ein Taschentuch hin. Einen Moment lang erwog ich, es zu ignorieren und einfach wieder zum Club zurück zu laufen, aber so wie ich aussah, hätten mich die Türstehen wahrscheinlich sowieso nicht hinein gelassen. Also griff ich nach dem Tempo, ohne „danke“ zu sagen und begann, mein Gesicht zu säubern. Das Blut schien überall zu sein, sogar auf mein T-Shirt war es getropft.
„Oh man“ flüsterte ich unbewusst. Es drehte sich alles. Wie war ich nur in diese Situation geraten? Mir kam auf einmal alles so unwirklich vor und ich musste kämpfen, aufrecht auf meinen Füßen stehen zu bleiben.
Michis Blick war unstet geworden, er starrte auf einmal auf den Boden. Eine unangenehme Stille schlich sich ein, nicht unangenehmer als seine Worte zuvor, aber dennoch nicht angenehm. Ich räusperte mich und spuckte auf den Boden, um den metallischen Geschmack in meinem Mund loszuwerden.
Auf einmal überkam mich eine seltsame Welle von Mitleid ihm gegenüber. Wie er so vor mir stand, ein einziges Häufchen Elend, konnte ich gar nicht anders. Obwohl er mir gerade mit voller Wucht ins Gesicht geschlagen hatte, obwohl er mich beleidigt, mich als dreckige Hure beschimpft hatte, war alles, was ich ihm gegenüber empfand, nur Mitleid. Nicht einmal mehr Angst. Ich begriff, dass es eine Kurzschlussreaktion gewesen war, dass er nicht gewusst hatte, was er tun sollte, dass er völlig verzweifelt und hilflos war.
„Wie geht es deiner Schwester?“ murmelte ich schließlich, um die Stille zu durchbrechen.
„Was?“ fragte er misstrauisch und hob den Blick.
„Sie... sie hatte doch einen Unfall.“
Seine Augen verengten sich ein wenig, als wäge er ab, ob er mir überhaupt antworten solle.
„Ganz gut“ sagte er dann leise. „Sie hat irgendwas mit den Bändern und... wir wissen nicht, wann sie wieder tanzen kann. Aber sie lebt, immerhin. Ihre Freundin ist gestorben und sie ist ziemlich fertig deswegen.“
Er holte tief Luft und drehte sich dann von mir weg.
„Es tut mir leid, ich habe überreagiert. Vergiss einfach, was ich gesagt habe.“
Ich sah ihm völlig durcheinander nach, wie er in der Nacht verschwand. Eine Weile stand ich einfach nur da, ich wusste nicht, wie lange, ob zehn oder fünfzehn Minuten oder noch länger. Meine Wange pulsierte schmerzhaft, aber ich achtete kaum darauf. Zu sehr war ich damit beschäftigt, zu verarbeiten, was gerade passiert war.
Irgendwann raffte ich mich auf, zum Club zurück und verhandelte mit dem Türsteher, dass ich noch kurz meine Jacke holen durfte, denn wie erwartet wollte er mich mit blutverschmiertem Gesicht und sicherlich bereits blauen Auge nicht mehr hinein lassen. Zum Glück fand ich Paul relativ schnell, der mich entsetzt anstarrte.
„Verdammt, was ist dir denn passiert? Wo warst du so lang und was...“
„Ich gehe. Wenn du mitkommst, erzähle ich dir, was passiert ist, aber ich habe genug für heute.“
„Warte, ich sag nur kurz Dennis Bescheid.“
Ich wartete vor dem Club auf ihn, bis er nach einer Weile zu mir nach draußen kam.
„Scheiße, wie siehst du denn aus?“ begann er sofort, als wir uns auf den Weg machten.
Matt begann ich ihm von der Begegnung mit Michi zu erzählen, die mir bereits jetzt seltsam unwirklich vorkam. Er hörte mir völlig gebannt zu und schüttelte dann den Kopf.
„Oh man, das ist ja... ist der Typ vollkommen bescheuert?“
Er strich mir leicht mit dem Finger über die schmerzhaft gespannte Haut, woraufhin ich vor Schmerz zusammenzuckte. „Das sieht total übel aus.“
„Na ja“ meinte ich achselzuckend. „Was würdest du machen, wenn dein Vater ne Affäre mit einem Mann hätte?“
„Na, sicher nicht dem Typ eine runterhauen, wenn dann meinem Vater. Wahrscheinlich hätte es gereicht, wenn er ein ernstes Wörtchen mit ihm geredet hätte. Aber dich so zuzurichten...“
„Er war total betrunken“ unterbrach ich ihn. „Ich glaube, er hat gar nicht überlegt, er hat eben überreagiert. Hinterher hat er sich sogar entschuldigt...“
„Sag mal, was ist denn mit dir los?“ fragte mich Paul und verdreht die Augen. „Der Wichser schlägt dich grün und blau und du verteidigst ihn noch?“
„Ich verteidige ihn nicht“ gab ich zurück. „Ich finds ja auch total daneben... aber ich verstehe ihn trotzdem irgendwie.“
Ich hatte Paul jedes Detail unseres Gesprächs erzählt, auch den Teil von Michis Mutter und seiner Schwester. Doch dies schien bei Paul wohl auf taube Ohren zu stoßen.
„Weißt du was, ich glaube, du hast einfach dieses schlechte Gewissen, das dich total weich werden lässt. Sicher ist es nicht gerade ehrenhaft, mit einem verheirateten Mann zu schlafen... aber dass er verheiratet ist, ist ja sein Ding. Das muss er mit seinem Gewissen vereinbaren, nicht du. Wenn die Ehe in Ordnung wäre, hätte er das ja nicht getan... auf jeden Fall hat er keinen Anlass, dich für seine kaputte Familie verantwortlich zu machen.“
Ich seufzte. „Schon klar. Aber er tut mir trotzdem irgendwie leid.“
Paul schüttelte leicht den Kopf. „Irgendwie scheinst du nicht zu verstehen, dass du total der Arsch in dieser ganzen Geschichte bist. Robert benutzt dich die ganze Zeit als nette kleine Ablenkung, um seiner kranken Familie zu entkommen und dann wirst du von seinem Sohn zusammengeschlagen, weil er meint, du bist schuld daran. Und alles, was du tust, ist, dafür eine Entschuldigung zu finden, als ob das vollkommen normal wäre. Am Ende fühlst du dich noch schuldig für alles.“
„Jetzt übertreibst du aber. Er hat mich nicht zusammengeschlagen, das ist schon mal falsch. Und Robert hat mich immer gut behandelt, ist immer ehrlich gewesen und hat mir gesagt, was Sache ist. Ich wusste die ganze Zeit, dass er eine Familie hat und dass er sie wegen mir nicht verlassen wird und dass ich mich darauf eingelassen habe, geht auf meine Verantwortung.“
„Jaja, alles wunderbare, gute Menschen.“
„Ach Paul, komm schon. Lassen wir diese Diskussion. Ich will einfach niemandem hier die Schuld geben, es ist einfach... eine blöde Situation. Für alle. Gut, dass es jetzt vorbei ist.“
Diese Worte streuten Salz in meine gerade zu heilen beginnende Wunde, aber ich wusste tief in mir, dass es wahr war. Robert wurde von seiner Familie gebraucht und immerhin musste ich nicht mehr mit dieser Schuld leben, ihn davon abzuhalten, seinen Pflichten nachzukommen. Vor allem jetzt, da ich wusste, was dort wirklich los war.
Paul seufzte und blieb stehen, da wir an der Stelle angekommen waren, an der sich unsere Heimwege trennten.
„Du bist einfach zu gut für diese Welt“ meinte er und nahm mich kurz in den Arm. „Ruf mal an in nächster Zeit, ok? Auch wenn es heute scheiße gelaufen ist... verkriech dich nicht wieder so.“
„Ok“ antwortete ich nickend. „Ich versuch’s.“
Ich drehte mich um und war wenige Schritte gegangen, als mir auf einmal etwas einfiel und ich mich umdrehte.
„Wieso war Michi überhaupt da? Ich dachte, er ist auf einem anderen Geburtstag“ rief ich Paul hinterher.
Er zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Wahrscheinlich ein blöder Zufall.“
Nachdenklich ging ich durch den dunklen Park nach Hause. Meine schmerzende Wange sollte mich noch tagelang an diesen Abend erinnern. Die Erinnerung an Michis verzweifeltes Gesicht blieb noch länger.
Die Semesterferien waren lang und heiß.
Tagsüber arbeitete ich meistens im Café, was furchtbar anstrengend war, mich aber schön vom Nachdenken abhielt. Während der Arbeit hatte ich gar keine Zeit, mir über etwas anderes Gedanken zu machen und wenn ich abends fix und fertig nach Hause kam, schaffte ich es gerade noch, zu essen und dann hundemüde ins Bett zu fallen.
Zweimal zwang ich mich dazu, mit Paul und Christoph auszugehen und beides Mal war es absolut enttäuschend. Zu Paul nach Hause traute ich mich nicht mehr aus lauter Angst, Michi könne mal wieder bei Dennis aufkreuzen. Immerhin waren beide schon auf Wohnungssuche, da Dennis Ende Anfang September mit seiner Freundin zusammenziehen wollte.
Ab und zu begleitete ich Paul bei seinen Wohnungsbesichtigungen und war froh, dass ich es nicht war, der sich den kritischen Fragen und Musterungen unterziehen musste. Am Ende schaffte er es, in einer WG mit zwei Frauen unterzukommen, eine davon war bereits berufstätig und die andere machte eine Ausbildung. Natürlich half ich ihm zusammen mit ein paar anderen Freunden beim Umzug und war heilfroh, ab September bei ihm vorbeischauen zu können, ohne Angst zu haben, wieder eine unliebsame Begegnung zu durchleben.
Laut Paul hätte ich mir diesbezüglich aber gar keine Sorgen machen brauchen, denn seit Dennis‘ Geburtstagsparty, so meinte er, sei Michi kein einziges Mal mehr bei ihnen zu Hause aufgetaucht.
Dennis hatte offenbar keine Ahnung, weshalb Michi an diesem Abend in dem Club gewesen war. Paul konnte ihm natürlich nichts von meiner Begegnung mit ihm erzählen und behauptete deshalb, er habe ihn nur kurz zu Gesicht bekommen. Daraufhin vermutete Dennis gleich, er hätte sich sicher geirrt und das Thema kam nicht mehr zur Sprache.
Ich dachte natürlich Tag und Nacht an diese Begegnung. Obwohl ich eifrig versuchte, mich abzulenken, konnte ich doch diese Nacht nicht vergessen, den Schlag ins Gesicht, die Anschuldigungen, die Offenbarungen. Mit einem Mal verstand ich den Druck, unter dem Robert die ganze Zeit gewesen sein musste, den ganzen Stress bei sich zu Hause und die Sorgen, die ihn geplagt haben mussten. Er hatte mir die ganze Zeit über kein Wort davon gesagt, ob er mich nicht damit hatte belasten wollen oder ob er einfach nicht genug Vertrauen zu mir gehabt hatte, das wusste ich nicht. Aber auf einmal schien dieses sorgenvolle, schlafende Gesicht voller Falten plausibel, auf einmal war alles sichtbar, was ihn bedrückt hatte. Und ich verstand seine überstürzte Flucht an unserem letzten Abend.
Gleichzeitig machte ich mir Gedanken über Michi, der so außer Kontrolle gewesen war. Alles, was Robert mir je von ihm berichtet hatte, war gewesen, dass er sich auf irgendwelchen Partys herumtrieb, anstatt auf sein Abitur zu lernen. Dieses durfte er mittlerweile hinter sich haben, aber wie er abgeschnitten hatte, würde ich ebenfalls nie erfahren.
Was mich am meisten beschäftigte war die Tatsache, dass ich, obwohl ich geglaubt hatte, Robert und sein Leben vollkommen hinter mir gelassen zu haben, mich nun tiefer als jemals zu vor damit verbunden fühlte.