"DAFÜR HABEN WIR DEN KUMMERKASTEN!"

Sep 25, 2015 10:21

“As a director you have to put yourself in your movies, and I’m white and gay“, erklärte der deutsche Regisseur Roland Emmerich, warum er die historische Geschichte des Stonewall-Aufstandes aus der Sicht eines erfundenen weißen, möglichst „hetero-wirkenden“ Protagonisten, mit dem sich das hetereosexuelle Publikum identifizieren kann, erzählt. Diese Aussage ist natürlich Unsinn, ein Regisseur sollte sich mit seinem Stoff identifizieren können, aber er muss sich nicht selbst in die Geschichte befördern - Spielberg zum Beispiel brauchte ja auch keine weiße männliche Figur, um Die Farbe Lila zu erzählen. Aber sie steht vor allem symptomatisch für etwas, dass ich im deutschen Film- und Fernsehbetrieb immer wieder erlebe: Den Verantwortlichen fällt es schwer, aus ihrer eigenen Erfahrungswelt auszubrechen, und sie trauen dem breiten Publikum nicht zu, sich auch für Stoffe zu interessieren, in denen es nicht um die übliche Mann-Frau-Pärchenbildung geht.

Vor ein paar Jahren saß ich einmal mit dem Unterhaltungschef eines deutschen Fernsehsenders beim Mittagessen und versuchte ihn für meine Fernsehfilmidee zu begeistern: Ein 15jähriges Mädchen, das ihre Familie und Freunde damit überrascht, dass sie ab sofort als Junge leben möchte, und sich selbst damit überrascht, dass sie sich kurz darauf in einen neuen Mitschüler verliebt.
Ich hingegen war überhaupt nicht überrascht, dass ich mit diesem Stoff auf Desinteresse stieß - die großen deutschen Sender machen so gut wie gar keine Jugendstoffe, da „Teenager kein Fernsehen mehr schauen“, wie man mir bereits mehrmals sagte, und es für die Sender natürlich leichter ist, vor YouTube zu kapitulieren statt etwas zu entwickeln, dass jüngere Menschen vielleicht wieder zurück zum Fernsehen locken könnte.
Nein, die Überraschung war die Begründung, die ich für die Absage bekam: Die Identitätsfindung von Jugendlichen ist als Stoff nicht besonders interessant, da alle Jugendlichen heutzutage so locker drauf wären, was Gender und Sexualität angeht. Es gäbe einfach keine Fallhöhe. („Fallhöhe“ ist ein Begriff, den man in Drehbuchkursen und Redaktionen pausenlos zu hören bekommt. Er hat in vielen Fällen sogar eine Berechtigung.) Wenn man schon etwas zum Thema Transgender machen möchte, so argumentierte er, wäre es doch zum Beispiel viel interessanter und dramatischer, wie ein Mann, vielleicht ein hohes Tier bei der Bundeswehr, damit umgeht, wenn seine Frau ihm plötzlich eröffnet, dass sie ein Mann sein will.
Und er hat recht, dieser Ansatz ist tatsächlich viel dramatischer als meiner, und mindestens genau so interessant. Es ist allerdings auch ein Ansatz, der wieder einmal nur die erwachsene, männliche, heterosexuelle Figur in den Mittelpunkt stellt, eine Figur wie dieser Unterhaltungschef selbst. Die Selbstfindung der Ehefrau spielt weniger eine Rolle als die Frage, was diese für ihren Mann, den eigentlichen Protagonisten, den „Normalo“ bedeutet. Und das passiert so gut wie immer, wenn man sich in Deutschland den Themen Sexualität und Identität nähert. Die erfolgreichsten „schwulen“ Filme in Deutschland sind nach wie vor eine 20 Jahre alte Komödie, in der es letztendlich nur um die Beziehung von Til Schweiger und Katja Riemann geht, und eine zehn Jahre alte Sci-Fi-Klamotte, in der Klischeeschwuchteln den eigentlichen, durch und durch heterosexuellen Helden Til Schweiger anhimmeln.



Selbst in ansonsten hervorragenden Teeniekomödien wie dem letztjährigen Doktorspiele ist der von Jannis Niewöhner gespielte Bobby die einzige Figur ohne Sexleben und Charakterentwicklung, über dessen Interessen und Hobbies wir nichts erfahren, bis er sich am Ende kurz outet, um dem Helden den Weg zu dessen Traumfrau frei zu räumen. Aber zumindest kann man ihm zugute halten, überhaupt eine wichtige schwule Figur zu erzählen, die sucht man nämlich gerade in deutschen Jugendstoffen eher vergeblich. (Und ja, natürlich kenne ich Sommersturm, aber wenn das einzige nennenswerte Gegenargument bereits elf Jahre alt ist, bestätigt dies eher die Regel.)
Im selben Jahr, in dem ich das Gespräch mit dem Unterhaltungschef hatte, bekam ich von einer Redakteurin in der Besprechung einer Mysteryserie zu hören, dass keine der Figuren schwul sein dürfte, da die Hauptzielgruppe zwischen 13 und 19 Jahren läge und die Jungen dann nicht einschalten würden. Auf meinen Einwand, dass dafür die schwulen Jungs und wahrscheinlich die meisten Mädchen deswegen nicht abschalten würden, bekam ich nur als Antwort „Mädchen gucken kein Mystery.“ Ich könnte jetzt eine Genderdiskussion starten, aber bleiben wir lieber beim Thema und merken uns: Dies sollte eine Serie für Jungs sein. Aber nur für heterosexuelle Jungs. Und das war die offizielle Anweisung ihres Chefs, teilte mir die Redakteurin mit: „Pass auf, dass dies nicht die erste schwule Serie unseres Senders wird.“ Warum eigentlich nicht?
Das konnte mir auch die Redakteurin des öffentlich-rechtlichen Kinderfernsehens nicht sagen, als ich sie fragte, warum die jugendliche Gastrolle einer Serie, an der wir zusammen arbeiteten, nicht schwul sein dürfte. „Anweisung von oben“, sagte sie mir, aber es war ihr anscheinend nie wichtig, nachzuhaken. Warum sollte sie auch, sie hatte ja keinen Grund, sich mit solchen Fragen auseinander zu setzen. Wie bereits anfangs von Roland Emmerich erwähnt, es ist schwer, etwas anderes zu sehen als die eigene Erlebniswelt, und wir alle wollen am liebsten auch nur uns selber sehen oder zumindest das, was uns beschäftigt, also kämpft auch niemand, den es nicht unmittelbar betrifft, um mehr Repräsentation von LGBTQ-Themen. „In unserer Serie wird das Thema Homosexualität nicht behandelt, dafür gibt es auf unserem Sender andere Programmplätze", fügte sie hinzu. Auf meine Nachfrage, welche das denn seien, bekam ich als Antwort: „Na, zum Beispiel der Kummerkasten.“ Natürlich ist es lobenswert, dass homosexuelle Jugendliche eine Ratgebersendung als Anlaufstelle habe, aber es ist verdammt traurig, wenn Homosexualität eben nur dort stattfindet, und nur als ein zu lösendes Problem.
„Wir haben in unserer Serie auch niemanden im Rollstuhl, warum regst du dich darüber nicht auf?“ warf mir die Redakteurin stattdessen vor. Wir können nicht alle Minderheiten erzählen, also erzählen wir am besten gar keine, war anscheinend die Regel. Gespräche wie dieses führe ich oft in deutschen Redaktionen und Produktionsfirmen, egal ob es sich um Kinder- oder Erwachsenenfernsehen oder um Kinostoffe handelt. Alles andere als Heteronormativität ist erst mal unerwünscht, man will das Massenpublikum erreichen. Als Autor heißt das für mich, dass ich genau das tun muss, was ich im Privatleben nie tun will: Ich muss mich verstellen. Im Gegensatz zu einem Roland Emmerich kann ich mich nicht selber in meine Stoffe einbringen, mir fällt es schon schwer, mich mit ihnen zu identifizieren. So entsteht gefälliges Konsensfernsehen, aber nicht unbedingt aufregendes oder gutes.
Dabei sind diese "Anweisungen von oben" gar nicht in Stein gemeißelt: Als ich für den Kinderkanal die dritte Staffel der Teenserie Sturmfrei schrieb, konnte ich es trotz anfänglicher Bedenken der zuständigen Redaktion durchsetzen, dass zwei Jungen in einem Park Händchen halten durften; die Szene wurde gedreht und ausgestrahlt, ohne dass der Kika den Sendebetrieb einstellen musste oder irgendjemand gefeuert wurde. Ich war zuerst extrem stolz auf meinen Erfolg, bis mir dann bewusst wurde, wie traurig es eigentlich ist, dass zwei Statisten, die im Hintergrund für ein paar Sekunden Händchen halten dürfen, heutzutage immer noch als Fortschritt gezählt werden müssen.



Aber leider ist das immer noch der Normalfall: Jenseits von wenigen Ausnahmen wie dem schwulen Tom in Herzensbrecher und (der Vollständigkeit halber erwähnt, nicht um mich selber zu loben) der lesbischen Becky in Dating Daisy bleiben homosexuelle Teenager in deutschen Fernsehserien unsichtbar. Aber auch den erwachsenen homosexuellen Figuren ergeht es nicht besser. Wir werden zwar gerne in Reality Shows vorgeführt, aber in der fiktiven Serie herrscht das selbe Motto wie auf dem Schulhof: NO HOMO! Eine Handvoll darf Gastauftritte haben oder sogar im Schatten der heterosexuellen Hauptfiguren leben, aber nur einzeln und bitte kein Sex! Wenn tatsächlich mal zwei schwule Männer als größere Nebenfiguren auftauchen dürfen, wie Dr. Eisner und sein Lebensgefährte Patrick in der ZDF-Serie Doktor Klein, dann werden sie vorab im Pressetext als „Exoten“ bezeichnet und eine intime Szene zwischen den beiden im Piloten wird verschämt von der anderen Straßenseite aus durch ihr Fenster gefilmt, und bevor es zu sexuellen Handlungen kommt, wird schnell auf eine heterosexuelle Fickszene in Großaufnahme geschnitten. Zum Glück muss das Heteropublikum keine Angst mehr davor haben, vom Anblick zwei sich küssenden Männnern überrascht zu werden, Dr. Eisner wurde mittlerweile per Autounfall aus der Serie geschrieben. Und für frauenliebende Frauen sieht die Situation leider nicht besser aus, wie der Blog Rosalie und Co letztes Jahr erst fest stellen musste. Homosexualität im deutschen Fernsehen findet hauptsächlich in Daily Soaps statt, und Bisexualität, vor allem männliche, existiert quasi nicht einmal.
Interessanterweise bekomme ich trotzdem ständig zu hören, wir wären überrepräsentiert. „Das schwule Thema ist durch“, sagte letzten Monat erst ein Producer zu mir, als wir über romantische Komödien sprachen. Ich habe keine Ahnung, was genau er damit meinte, aber vermute, dass seiner Meinung nach der Flop von Coming In, ein Film über einen homosexuellen Friseur, der sich in eine Frau verliebt, beweist, dass schwule Filmfiguren nicht als Kinohelden taugen. Und ein Autorenkollege, dem ich letztes Jahr von Beckys Coming-Out-Storyline in Dating Daisy erzählte, rollte nur mit den Augen und meinte dann „Na, wenigstens ist es zur Abwechslung mal ein Mädchen“, so als ob es bereits mehr als genug Coming Out-Geschichten von Jungen im Fernsehen geben würde.

Die gibt es auch, allerdings finden sie hauptsächlich in ausländischen Serien statt. MTV hat Erfolg mit Serien wie Teen Wolf und Faking It, die Jugendliche mit allen möglichen sexuellen Orientierungen erzählen, letztere behandelt sogar das Thema Intersexualität. Das britische E4 hatte jahrelang Skins im Programm und die BBC zeigte bereits 2008 zwei Staffeln lang in Beautiful People eine schwule Jugend in den 90ern. FOX verdiente Millionen mit Glee, und die ABC Family-Serie The Fosters über ein lesbisches Paar und ihre Pflegekinder, darunter ein 13jähriger Junge, der sich in seinen besten Freund verliebt, wurde gerade erst von der Television Critics Association zum besten Jugendprogramm des Jahres ausgezeichnet.



Ähnlich interessante Projekte sucht man hier in Deutschland noch vergebens. Auch Serien mit erwachsenen homosexuellen Hauptfiguren, ein deutsches Looking (USA), Grandma's House, Cucumber, Banana (alle UK) Outland oder Please Like Me (Australien) gibt es nicht, und von der Selbstverständlichkeit, mit der in massentauglichen Serien wie How To Get Away With Murder oder Mr. Robot schwuler Sex einfach dargestellt wird, sind wir auch noch weit entfernt, ganz zu schweigen von einem pansexuellen Experiment wie die Netflix-Serie sense8. Deren Co-Creator J. Michael Straczynski schrieb zu recht auf Twitter:

Weirdest recurring comment #sense8 isn't for everyone. Of course it's not. Wasn't meant to be. Something for everyone is nothing for anyone
- JMichael Straczynski (@straczynski) 31. Juli 2015

Aber hier hat man immer noch Angst davor, dass alles, was nicht den heteronormativen Standards entspricht, die Masse überfordern oder gar abschrecken würde. Ist das wirklich so? Ich habe mein Leben lang heterosexuelle Geschichten gesehen und konnte mit ihnen mitfiebern, mitlachen und mitweinen; ich wende mich auch nicht mit Ekel ab, wenn ich eine heterosexuelle Sexszene sehe. Wenn ich die Liebe zwischen Rose und Jack in Titanic verstehe, warum sollte es Heteros schwer fallen, der Geschichte von Jack und Ennis in Brokeback Mountain zu folgen? Oder sich in Brandon Teenas Schicksal in Boys Don't Cry hinein zu versetzen? Und überhaupt, muss man eigentlich wirklich mit jeder Geschichte die heterosexuelle Masse erreichen? Die vom Quotendruck regierten Privatsender vermutlich schon, aber ich kann nur darüber mutmaßen, warum es der ARD und dem ZDF wichtiger ist, homophobe Zuschauer nicht zu verschrecken anstatt ein Zeichen zu setzen.
Momentan ziehen die Öffentlich-Rechtlichen alle drei Monate eine Zwangsgebühr von mir ein, um mich weiter tot zu schweigen, oder - noch schlimmer - nur in einer so genannten „Themenwoche Toleranz“ anzusprechen. Es ist das Jahr 2015, und ich bekomme von Heteros immer und immer wieder gesagt, dass „inzwischen doch keiner mehr ein Problem hat mit Schwulen, also stell dich nicht so an“. Es wäre schön, wenn dies nicht nur tatsächlich so wäre, sondern wenn zumindest die Programmverantwortlichen das so sehen würden. Ich will nämlich auch nichts anderes, als mich selbst einzubringen und von meiner Erlebniswelt zu erzählen, so wie alle anderen auch, egal mit wem sie ins Bett steigen.

Nachtrag 28.09.: Wie ich so eben erfahren habe, ist Sylvester Groth gerade im Polizeiruf 110 mit einem Verdächtigen ins Bett gestiegen und spielt damit jetzt den ersten schwulen Sonntagabend-Kommissar in der ARD. Ein Riesenfortschritt ist das aber leider nicht, denn sein derzeitiger, erst vierter Auftritt in der Rolle ist auch sein letzter. Aber immerhin ist es vielleicht ein Anfang.

shut up!

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