Na, wie ist das Leben in einer WG voll von durchgeknallten Psychopathen? Beschissen.
Zumindest wenn man von einer nicht ganz glatt gelaufenen Mission nach Hause kommt.
Und übermüdet ist. Und Adrenalin und Testosteron noch dermaßen dick in der Luft hängen
dass die ganze, winzige Wohnung stinkt.
Herrgott nochmal. Lieber Brad, sei doch das nächste Mal ausnahmsweise nicht ganz so geizig
und spendier wenigstens zwei Hotelzimmer...
~
Laut Murphys Gesetz ging manchmal alles schief was schiefgehen konnte.
Und laut Nagis Erfahrung gab es zwei Arten von Unglück.
Einmal die nervende, zermürbende Art unglücklicher kleiner Umstände, die zwar für sich allein genommen nicht allzu tragisch waren, sich aber im Laufe der Zeit zu einer Basis von allgemeiner Angepisstheit formierten. Und dann war da noch diese andere Art von Unglück. Diese Art bei dem man morgens aufwachte und einen schon beim Frühstück das Leben hasste. Diese Art von Unglück die einen überfiel wie ein Fluch und bei der schon ab der morgendlichen Dusche an alles nur noch bergab ging.
Es war jetzt fünf Uhr dreißig, morgens, in irgendeiner Etagenwohnung in Tokyo. Noch hatte keiner von ihnen geduscht. Irgendwie hatte diese zermürbende Mission diese Nacht dermaßen lange gedauert, dass in stillschweigender Übereinkunft erst gefrühstückt wurde, weil sie alle einfach zu ausgehungert waren. Und deshalb saßen sie jetzt auch ausnahmsweise alle gleichzeitig um diesen viel zu kleinen, klapprig runden Frühstückstisch in der Wohnung.
Leises Geklapper von Besteck, verhaltenes Seufzen und Aufatmen, lastendes Schweigen. Im Hintergrund brodelte mit leisem aber nicht weniger obszönem Schlürfen, Sprotzen und Schnaufen die viel zu alte Kaffeemaschine.
Neben Farfarello und Crawford zu sitzen, hatte nur einen Vorteil- man hatte nicht auch noch Schuldig als Nebensitzer. Trotzdem war man gut beraten, das was man haben wollte möglichst gleich an sich zu reißen, weil es garantiert noch jemand anderen gab, der es auf das selbe Zeug abgesehen hatte. Und sei es auch nur um einen zu ärgern.
Nagi platzierte mit sorgfältiger Bewegung, mit kleinen Augen und äußerst gedämpfter Stimmung durch fehlenden Schlaf und den ganzen letzten Tag Internetentzug, seinen Toast auf dem Teller.
Als er aufsah, stutzte er kurz.
Wie der heilige Gral stand das Objekt der Begierde heute vor ihm, da war es, strahlte ihn an, da, genau vor seinem Teller. Er musste nur noch die Hand ausstrecken, nur ein paar Zentimeter, dann hatte er doch tatsächlich so viel Nutella wie er nur-...
Farfarello schoss von seinem Platz hoch wie ein Krokodil aus dem Wasser, warf sich auf das Nutellaglas und rammte Nagi damit durch seine schiere Wucht so kräftig beiseite, dass der vor lauter Schreck zurückkippte, umsonst nach der Tischplatte griff und mitsamt Stuhl krachend zu Boden ging. Ein kleiner Schmerzenslaut drang unter dem Tisch hervor.
Brad hielt mitten im Kauen inne und krümmte gereizt eine Augenbraue ohne Anstalten zu machen, seinem Mündel aufzuhelfen. Schuldig schlug sich auf die Schenkel und lachte aus vollen Hals, wobei er Krümel über den halben Tisch spuckte. Farfarello schraubte in triumphalem Genuss den Deckel vom Glas und genoss seine Beute.
Ohne weiteren Kommentar rappelte Nagi sich auf.
Man lernte früh, einzustecken, in einer solchen Lebensgemeinschaft.
Aber verdammt, das hatte weh getan. Seine Schulter pochte und schmerzte, sein Knie und sein Kopf-... aua. Das würde blaue Flecken geben. Sein dunkler Haarschopf tauchte über der Tischplatte auf, er zog seinen Stuhl heran und versuchte die Haare zu glätten, was Schuldig dazu brachte, in seine nächste, hyänenartige Lachsalve auszubrechen.
Charmant wie immer...
Nagi warf ihm einen beleidigten Blick zu, als Crawford plötzlich die flache Hand auf die Tischplatte klatschte und sie alle damit zusammenzucken ließ.
“Zur Hölle”, sagte er sehr leise und sehr gereizt, “Kann man nicht mal in Ruhe frühstücken. Musst du jeden Dreck so lustig finden, dass es normalen Leuten den letzten Nerv raubt?”
Nagi wich mit ungutem Gefühl auf seinem Platz zurück. Farfarello sah mit gelbem, glimmenden Auge fasziniert auf, auch wenn klar war, dass die Diskussion ab sofort nur noch zwischen Crawford und Schuldig stattfinden würde. Letzterem schien das Lachen vergangen zu sein, stattdessen ging er zu empörter Verteidigung über. Wie immer natürlich...
Na das fing ja gut an.
“Bist du sexuell frustriert oder so?”, schnappte der Mann mit der roten Mähne zurück, “Was hab ich denn gemacht? Darf ich beim Frühstück jetzt nur noch Laute von mir geben wenns dir auch passt, oh großer Meister?”
Crawford unterdrückte spürbar ein Knurren, griff sich stattdessen in typischer Bewegung mit der Hand an die Schläfe und schüttelte nur leicht den Kopf.
“Ich habe heute keinerlei Lust mehr, mich primitiver Volksfestfröhlichkeit anzuschließen, also sei so gut und halt einfach die Klappe, ja?”
Jetzt war es an Schuldig, auf die Tischplatte zu schlagen.
“Ich soll die Klappe halten? Halt du doch die Klappe! Ooh, was denn, hast du wieder aua-aua? Fick dich, Brad! Weißt du noch wie ich das letzte Mal Kopfweh hatte, und zuhause bleiben wollte, und es ging dir am Arsch vorbei? „Reiß dich zusammen Schuldig, wir haben eine Mission“- ja, reiß du dich zusammen, sonst kanns passieren dass ich das nächste Mal auch ungemütlich werde, wenn du mich so annölst!“
Crawfords Schultern strafften sich, er öffnete dunkle Augen, wurde lauter, die Stimme rutschte in dominante Basslagen:
“Wag es nicht, mir zu drohen, Schuldig!”
Der Deutsche packte mit grimmigem Griff neben seinen Teller und schleuderte Crawford sein Frühstücksmesser entgegen, dem dieser glücklicherweise leicht auswich. Dann sprang er vom Tisch auf und warf seinen Stuhl um.
“Wag DU es nicht, mich zu beleidigen!”, brüllte er, “Nenn mich nochmal primitiv und ich zeig dir mal was primitiv ist! Und bild dir nicht ein, du könntest mich einschüchtern, versuch es doch!”
Das Frühstück war damit vorzeitig beendet, oder besser gesagt-... Nagi und Farfarello zogen sich zurück, um die beiden Anderen ihren Streit ausfechten zu lassen. Es ging um nichts. Und Nagi ging davon aus dass die Beiden das auch sehr gut wussten. Vermutlich waren sie nur extrem müde, vielleicht war es eine kranke Art Vorspiel, irgendwas. Jedenfalls wollte er nicht viel damit zu tun haben. Nagi räumte seinen Teil des Frühstücks ab und verzog sich auf den Flur. Was dringend angeraten war, denn wenn Schuldig in Rage geriet flogen mehr Dinge durch die Gegend, als wenn Nagi sich aufregte.
Man hörte Beide in der Küche heftig streiten. Es polterte, klirrte, wurde noch lauter und unbeherrschter. Also alles wie immer, eigentlich. Nagi wollte gern eine Dusche und dann endlich ins Bett, aber Farfarello war ihm zuvor gekommen. Er überlegte, gleich in sein Zimmer zu gehen und sich dort zu verkriechen, aber besser er blieb in Hörweite, falls doch noch irgendjemand etwas von ihm wollte, bevor sie sich nach der ganzen Zickerei womöglich doch noch zusammen in ein Schlafzimmer zurückziehen würden. Wenn er nicht die ausdrückliche Erlaubnis bekommen hatte zu verschwinden und dann doch weg war, war wieder der Teufel los...
Verdammt, war er müde.
Er gähnte verhalten.
Weil er etwas sinnlos vor dem abgeschlossenen Badezimmer im Flur stand, drehte er um und schlurfte zurück. Vor ihm kam Schuldig aus der Küche gerauscht, die Schultern gespannt, die Haare zerzaust, mit ein bisschen Phantasie sah er aus wie ein streunender Kater, dem man auf den Schwanz getreten war.
“Lass dir mal den Kalk aus dem Hirn pusten, Brad!”, fauchte er, und bohrte einen Zeigefinger ihrem Leader entgegen, der direkt hinter ihm zur Küche hinaus auf den Flur kam und eher etwas hundeartiges an sich hatte. Wie ein übel gelaunter Rottweiler.
“Es reicht!”, bellte der Amerikaner zurück, “Kannst du einmal vielleicht nicht anfangen sofort meine Autorität anzuzweifeln, sobald dir etwas nicht passt? Das würde uns so viel Ärger ersparen!”
Sie nahmen kaum Notiz von Nagi, Schuldig schien seinem eigenen Schlafzimmer entgegen zu streben, Brad stand jetzt unmittelbar vor ihm. Wenigstens würden ihn so keine fliegenden Gegenstände treffen. Nagi blinzelte schwer und wartete auf den passenden Moment um zu fragen, ob er schlafen gehen konnte.
“Du bist echt peinlich, manchmal! Hör auf deine beschissene Autorität sofort bedroht zu sehen, wenn wir mal nicht einer Meinung sind!”
“Pass auf was du sagst! Ich arbeite hier hart um uns allen den Arsch zu retten-...!”
Nagi war kein Orakel.
Und der Schlafmangel tat sein übriges dazu.
Dösig und ahnungslos hinter Brad zu stehen, wenn der sich aufregte, war keine gute Idee.
Der Amerikaner drehte sich halb zur Seite, riss in wütender Gestikulation seinen Arm zurück-... und Nagi wurde von der geballten Wucht des Ellenbogens gegen sein Jochbein zum zweiten Mal an diesem Tag auf die Bretter geschickt, er riss auf dem Weg nach unten sämtliche von Farfarellos Waffenzeitschriften auf der Kommode mit, die sich fröhlich über ihm verteilten.
Irgendwo durch Schmerz und brennende Tränen hörte er Schuldigs unterdrücktes Prusten und Kichern, und als er mühsam aufblinzelte sah er den völlig verdutzten Crawford, der ihn entsetzt und fassungslos anstarrte, bis er seine Sprache wieder fand.
“Was stehst du auch blöd in der Gegend rum!”, brüllte er ihn an.
... kein guter Tag. Oh nein.
~
Momente später war er mit Schuldig in Schuldigs Wagen.
“Wir können eh jetzt nicht schlafen, bis die anderen die dumme Dusche frei geben dauert es ja eine Ewigkeit. Und ich hab keinen Nerv mehr auf den Hormonspiegel seiner Hoheit. Wir duschen einfach im Schwimmbad, und fertig.”, mit diesen Worten trat Schuldig aufs Gas und schoss mit dem Sportwagen im dritten Gang aus der Tiefgarage.
Nagi musste telekinetisch den verschlafen vorbeituckernden rosa Blumentransporter beiseite schieben, als sie in Schussfahrt auf die Hauptstraße kamen, sonst hätte es noch ein Unglück gegeben.
Manchmal war es nicht schlecht, so einen zielorientierten Mitbewohner zu haben. Nagi hoffte nur, dass Crawford nie wieder Appartements mit nur einem Badezimmer mieten würde, es war einfach nur nervtötend nach einer Mission.
Das Schwimmbad war gleich um die Ecke. Zwei Minuten im Wagen, und sie waren da. Theoretisch hätten sie laufen können, aber man hatte nach einer schlaflosen Nacht umgeben von Vollidioten einfach keine Lust mehr, bei fröhlichem Vögleingezwitscher morgens zu Fuß durch die Stadt zu trotten.
Vor der Tür angekommen, folgte eine weitere Ernüchterung. Das Schwimmbad öffnete erst in einer Stunde. Schuldig war so genervt, dass er kurzerhand eine der Putzfrauen “überredete” sie herein zu lassen-... und ihr dabei fast das Gehirn pürierte.
Egal, sie mussten ja nur kurz duschen.
Ungerührt an der verstörten Putzfrau die nur noch Gurgelgeräusche von sich gab vorbeischlendernd gingen sie durch bis zu den Kabinen und danach den Duschen zu.
Nagi war insgeheim sehr erleichtert, dass sie zu früh dran waren.
Er hatte eine tiefe Abneigung gegen die Vorstellung, sich in der Öffentlichkeit zu entkleiden. Seine Badehose war schwarz und klein und nachdem er seine Sachen im Spind verstaut hatte schlang er verschämt und mürrisch die Arme um den bleichen Oberkörper, um seine Gänsehaut zu verdecken. Wenn Schuldig irgendeinen Kommentar über dünn sein oder Nippel machen würde... würde er mit Sicherheit ganz zufällig auf der Seife ausrutschen. Um das zu wissen brauchte er nicht einmal Brads Gehirn.
Sie stiegen die Treppen zu den Duschen hinauf. Es roch im ganzen Schwimmbad nach Chlor und Putzmitteln. Alles war still, bis auf das Rauschen von Wasser aus den Pumpen, das leise Surren der Lampen und das entfernte Zischen der Reinigungsschläuche.
Am Grund des größten Pools kroch eifrig ein runder Puztroboter dahin.
Schuldig sagte zum Glück nichts bis sie in der Herrendusche waren und das heiße Wasser prasselte. Vielleicht war er einfach auch nur müde.
Aber irgendeine schwelende Anspannung lag noch in der Luft. Vielleicht war es nur Nagis Sozialphobie, jedenfalls ahnte er ungutes und hoffte, Schuldig würde es hinbekommen sich zehn Minuten mal nicht von Blödsinn hinreißen zu lassen. Denn Spaß bedeutete, dass er ein Opfer brauchte, und in Ermangelung sonstiger Alternativen war die Auswahl da klar.
Sich in eine Einzelkabine zu verziehen wenn sie nur zu zweit waren, war allerdings auch etwas peinlich, und er nahm sich von Schuldigs mitgebrachtem Shampoo um die Haare einzuschäumen; beschloss, sich nichts anmerken zu lassen.
Mist, sein Jochbein tat immer noch weh.
Und dort an der Seite konnte er eine saftige Beule spüren.
Gar kein guter Tag. Er hoffte nur, dass sie hier schnell fertig waren, und Schuldig danach auch wirklich gleich wieder nach Hause fahren würde, damit sie endlich schlafen konnten.
Der Deutsche rollte die Muskeln und legte den Kopf unter prasselndem Wasser nach hinten, um die langen Haare gründlich von Schweiß, Staub und Blutspritzern auszuwaschen.
“Hey, Nagileinchen”, meinte er dann, mit tiefer, kehliger Stimme, “Hast du eigentlich... immer noch keine Häarchen da unten?”
Nagi sprang zurück, aber in dem Moment hatte Schuldig schon blitzschnell zugeschnappt, die schwarze Badehose klatschte aus Schuldigs Fingern wieder an Nagis Unterbauch.
“Autsch! Perverser Idiot!”
Schuldig lachte das nervende, meckernde Lachen, das er immer entwickelte wenn er etwas zum Spielen gefunden hatte, er schnappte wiederholt mit der Hand wie eine große Katze mit der Pfote, während Nagi zwangsläufig mit Schaum in den Haaren auswich, bis ihn kein Wasser mehr erreichte. Dann drehte er von seinem Standpunkt aus in grimmiger Wut telekinetisch das Wasser auf eisig kalt, so dass Schuldig auch gezwungen war, auszuweichen, was er aber fröhlich weiterlachend tat.
“Wichser!”, knurrte Nagi beleidigt, “Ich bin Japaner, okay? Ich bin eben nicht so behaart wie du!”
Schuldig prustete. “Wer weiß...? Vielleicht rasierst dus auch schon...?”
Nagi bemerkte, dass es schmerzhaft war, mit blauem Jochbein zu erröten, was seiner Laune nicht half. Schmollend und empfindlich in seiner Privatsphäre verletzt, schob er Schuldig telekinetisch auf Abstand und tappte wieder unter seine eigene Dusche, um den Schaum auszuwaschen.
“Natürlich hab ich Haare”, knurrte er beleidigt, “Ich bin kein Kind mehr, okay?”
„Oooh, Telekinese- Barriere? Komm schon, Nagilein, hast du Angst vor mir? Bist du ein Bibber-Bunny? Ich mach doch nur Spaß, du Sensibelchen!“
Ignorieren- das war das einzige was half. Zähne zusammenbeißen und ignorieren. Als er fertig war schnappte Nagi sich sofort sein Handtuch und war entschlossen, so schnell wie möglich die rettende Umkleide wieder zu erreichen.
“Hey Nagileinchen”, hörte er Schuldig hinter sich locken, “Was rennst du denn so, warte doch mal...! Wo wir schon hier sind, könnten wir doch-...”
Nagi erreichte die Treppe mit etwas zu viel Schwung. Schuldig schnappte im selben Moment die Badehose am hinteren Rand. Vermutlich nicht einmal aus purer Böswilligkeit. Einfach aus verspielt aufgedrehter bleib-noch-ein-bisschen-bei-mir- Stimmung, aber als Nagi den Stoff über nasse Hinterbacken abwärts rutschen spürte, machte sein Körper einen panischen Satz nach vorn. Er hatte noch die Sekunde, sich entsetzt über die Schulter hinweg umzusehen, dann fiel er haltlos nach unten. Er konnte sich telekinetisch abfangen, ja. Aber vor lauter Schreck und Schlafmangel, kam ihm der Gedanke erst, als er die Treppe polternd und mit untrainiert herumklatschenden Gliedmaßen abwärts gefallen war.
Schuldig blieb blinzelnd zurück an der obersten Stufe. Und nach der ersten Schrecksekunde, als Nagi schmerzverzerrt und desorientiert nur den Kopf hob, begann er so heulend und exzessiv über den Zwischenfall zu lachen, dass es klang, als würde er dabei ersticken.
„Eine Kamera!“, keuchte er, „Warum hab ich nur keine Kamera! Heute müsste man bloß auf dich draufhalten und hätte schon Stoff für eine ganze verdammte Folge von Pleiten, Pech und Pannen!“
Nagi war weniger zum Lachen zumute. Er lag auf den Steinfliesen, seine Lippe war aufgeschlagen, er blutete aus einer Platzwunde an der Schläfe und als er aufstehen wollte, biss ihm ein widerlicher Schmerz in den Fußknöchel.
“Au!”
“Naggles!”, heulte Schuldig mit Tränen in den Augen, “Heute ist echt nicht dein Tag, irgendwie...”
“Scheiße man, Schuldig!”, fauchte Nagi zunehmend unwirscher und ebenfalls den Tränen nahe- wenn auch aus anderem Grund-, “Ich glaub ich hab mir den Knöchel geknackst.”
“Ooch, Schätzchen! Willst du getragen werden, ja? Im Prinzessinnen-Stil?”
“Hör auf zu lachen, Mann, das ist überhaupt nicht witzig! Du bist so ein arschiger Wichser, das hält man im Kopf nicht aus! Scheiße...”
Nagi kämpfte die Tränen zurück und wischte sich Blut aus dem Auge, das von seiner Stirn fröhlich abwärts tropfte. Schuldig kam endlich ebenfalls die Treppen hinuntergeschlendert um seine Hand auszustrecken und zu ein paar unbeholfenen Scherzen Nagis Wange zu berühren, die der Jüngere empfindlich zusammenzuckend wegdrehen wollte. Aber Schuldig hielt ihn vorsichtig fest, und versuchte mit dem Daumen das Blut zur Seite zu wischen, was allerdings durch das viele Wasser, das noch aus Nagis Haaren sickerte und sich damit vermischte, kaum einen Sinn hatte.
“Du läufst ja aus”, kicherte er, eine gute Portion gutmütiger, fast entschuldigend. Nagi war nicht mehr in Stimmung, das anzuerkennen.
“Mir ist schwindelig”, murrte er, “Ich will nach Hause.”
“Lass uns rausgehen“, schlug Schuldig vor, und stützte die Hände in die Hüften, “sonst suppst du hier alles voll und infizierst unschuldige Leute mit dem Nerd- Syndrom.”
Nagi holte tief und frustriert Luft,
“Ich kann nicht gehen, du Vollhirn! Hab ich nicht eben gesagt, dass ich mir den Knöchel geknackst habe?! Ich würde ja fliegen, aber tut mir leid! Ich bin nur ein beschissenes Psychokind, nicht die Zahnfee!”
Wenig später war Brad verständigt.
Schuldig hatte den blutenden Jüngsten nach kurzer Ratlosigkeit unter dessen Protest auf den Arm genommen, und zur Umkleide getragen. Als sie angezogen nach draußen kamen, wartete ein übermüdeter, zwar sauberer aber sichtlich angefressener Brad mit dem Wagen am Tor.
Für den Knöchel fuhr er mit Nagi zur Notaufnahme wo die Warterei sich quälend hinzog, und der jüngste Schwarz versuchte die Blicke der Schwestern nicht zu sehr zu bemerken.
Oh ja, er musste einigermaßen erbärmlich aussehen.
Aufgesprungene Lippe, Beulen am Kopf, blaues Jochbein, Platzwunde, geprellte Schulter, blaue Flecken an Knie und Hüfte, geknackster Knöchel.
Kein guter Tag.
“Wie ist das denn passiert, Junge?”, fragte der Arzt besonders einfühlsam, und warf einen langen Blick auf Brad.
“Treppe runtergefallen”, murrte Nagi genervt, und hoffte innerlich, dass er von Sozialarbeitern verschont blieb.
Auf dem Weg nach Hause sagte Crawford kein Wort. Aber Nagi ging nach allem was bisher passiert war lieber vom Schlimmsten aus. Erst die blöde Mission und jetzt so ein Ärger. Sicher war er ein Dampfkochtopf, kurz vor der Explosion. Vielleicht suchte er nur die nächste Chance seiner Wut Luft zu machen und beherrschte sich gerade noch, bis sie weniger Zuschauer hatten. Selbst seine Kiefermuskeln waren angespannt, als Nagi ihn vorsichtig von der Seite her beäugte. Das sah nicht gut aus.
An der nächsten Tankstelle zog er kurzerhand den Wagen zur Seite um anzuhalten, und Nagi erstarrte vor Panik. War er dermaßen sauer? Wollte er ihn jetzt wirklich schlagen oder was? Hier, wo die Leute es sehen konnten? Als Crawford kommentarlos den Gurt löste wich ihm das Blut vom Gesicht, er verkrampfte sich, seine Schenkel begannen zu prickeln.
Aber der Ältere stieg nur aus, warf die Tür zu und ging in den Laden.
Vorsichtig wagte Nagi ein wenig auszuatmen und reckte den Kopf, um zu sehen was er im Kiosk wollte. Kurze Zeit später kam der Amerikaner zurück. Er öffnete mit eisigem Blick die Tür, brachte eine Wolke seines typischen, kühlen Männerparfüms mit als er wieder einstieg und warf Nagi ein längliches Päckchen auf den Schoß, bevor er sich mit grimmigem Blick wieder anschnallte und den Blinker anwarf.
Nagi blinzelte fassungslos auf das kleine, bunte Paket aus Plastik.
Es war ein großes Eis am Stil, nicht mal eins der billigsten.
Völlig ratlos hob er es auf und starrte hinüber zu Brad.
“Was denn?”, knurrte der, ohne zurück zu blicken, “Das heute Morgen war keine Absicht, okay?”
Nagi begann, mit verblüffter Dankbarkeit die glänzende Plastikverpackung von dem guten Inhalt zu schälen, und staunend die makellose Schicht weißer Schokolade zu bewundern.
“Schuldig lässt ausrichten, dass es ihm leid tut”, knurrte Crawford zwischen den Zähnen hervor, “Sollte es auch, dem Idioten... hat nur wieder zu viel Hemmungen es selbst zu sagen. Pff. Typisch.”
Nagi spürte, wie sich der Knoten in seiner Brust langsam löste. Die Hemmungen waren nur nachvollziehbar- wenn Schuldig je vorgehabt hätte, sich ständig wieder zu ent- schuldigen, hätte er sich auch Pumuckel nennen können.
Aber jetzt sickerte nach all dem Schreck und dem Unglück an diesem Tag überraschter Trost und Genugtuung irgendwo hinter seine Rippen, und er knackte behutsam die Schokoschicht mit den Zähnen, um an das cremige Innere zu kommen. Mmh... verstohlen leckte er dünne Lippen. Das war wirklich gut...
“Schmeckts?”, wollte Crawford bemüht unbeteiligt wissen, als sie an einer roten Ampel standen, „Wehe du tropfst auf den Sitzbezug, dann muss ich dich doch übers Knie legen.“
Nagi hob anbietend den Arm zu ihm hinüber.
“Mal probieren?”
Brad sah irritiert zu ihm herüber, schüttelte leicht den Kopf, seine Mundwinkel zuckten.
“Vielleicht wenn wir ein bisschen privater sind.”, er justierte mit typischem Handgriff seine Brille, die gleißend das Licht reflektierte, “Sonst buchten die uns noch ernsthaft ein.”
Nagi grinste mit, lutschte an seinem Eis und rollte die Augen über sein unmögliches Leben.
Dann senkte er mit Knopfdruck das Fenster auf seiner Seite, hielt den zerbeulten Kopf in den Fahrtwind und ließ sich mit zusammengekniffenen Augen und leicht gerümpfter Nase die Haare zausen.
Sonne brach durch die Wolken, brachte feuchten Asphalt nach dem Regen der Nacht zum Glitzern.
Was für ein Tag.
Die Art von Unglück die einen überfiel wie ein Fluch, hatte ihren Tribut gefordert und ihn in den Boden gestampft wie eine Horde Eishockeyspieler. Aber zum Glück war es jetzt bald vorbei. Und dann würde er nochmal ganz von vorne anfangen.
Denn Morgen war verdammt nochmal erst, wenn er ausgeschlafen hatte.
--ENDE--