Adventskalender 2012: 18.12. - Zeitzeugen (TO Wiesbaden)

Dec 18, 2012 00:48

Raiting: P12
Genre:  Drama; Freundschaft
Warnings: Nun ja, es ist Wiesbaden. Aber ich tue ihm nichts Schlimmeres an als der Canon!
Handlung: Prompts: Kindheitserinnerungen, Dickens’ Weihnachtsgeschichte
Der an einem Hirntumor erkrankte LKA-Mann Murot erhält am Heiligen Abend Besuch von den drei Geistern, die ihm helfen, eine wichtige Entscheidung zu treffen.
Länge: 10766 Wörter verteilt auf 3 Kapitel
A/N 1: „Sich kurz fassen“? Was ist das?
A/N 2: Ich habe mich eigentlich bemüht, die Geschichte so zu schreiben, dass man sie auch ohne Vorkenntnisse verstehen kann. Dennoch hier noch mal zwei Kurzinfos zur Orientierung: Kurzinfo1 und Kurzinfo2. Mit bestem Dank an meine Mutter für drei sehr hilfreiche Ideen. Mir gehört hier nichts außer der Reihenfolge der Worte.



„Es gibt kein besseres Geschenk als die Zukunft.“ - Sir Terry Pratchett, „Hogfather“

Zeitzeugen III - Zukunft

In einer Ecke des Zimmers verdichteten sich die Schatten zu einer Gestalt. Wie Nebel stieg sie aus dem Boden auf, bewegte sich langsam auf Murot zu und verharrte schließlich einen halben Meter vor ihm.
Dieser hatte schon mehrmals die Erfahrung gemacht, dass Angst lähmen konnte, doch noch nie zuvor hatte er sich gefühlt, als ob jede einzelne Faser seines Körpers danach schrie, sich vor etwas verstecken zu können. Eine innere Stimme sagte ihm, dass er auf die Knie fallen sollte, allerdings hatte er sich vor Jahren geschworen, nie wieder vor irgendjemandem zu knien, und so blieb Murot trotz allem auch jetzt aufrecht. Egal, was passiert, ich will meine Würde behalten, hämmerte es in ihm, Hauptsache, mit Würde… „Ich nehme mal an, du bist der Geist der zukünftigen Weihnacht?“, erkundigte er sich, um eine feste Stimme bemüht.
Die etwa mannshohe, in eine schwarze Kutte gehüllte Gestalt, schien ein paar Zentimeter über dem Boden zu schweben; sie nickte langsam.

Ich will es nicht wissen, ich wollte von Anfang an nicht wissen, was die Zukunft… „Es tut mir leid, aber ich glaube, ich habe keinerlei Bedarf an dir. Meine zukünftige Zeit ist recht begrenzt, bis zum nächsten Weihnachten dürfte es jedenfalls definitiv nicht reichen“, sagte er schroff. „Also, wenn du was Besseres zu tun hast, kannst du gerne…“ Er verstummte, als die Gestalt eine Hand nach ihm ausstreckte.
Sie war skelettartig, die Knochen wie mit Pergament überspannt, die langen dünnen Finger wölbten sich Murot lockend entgegen, als wäre er ein Kind, das noch nicht allein in die Welt hinausgehen darf.
„Danke für das Angebot, aber…“
Die Hand blieb ausgestreckt.

„Was immer du auch jemandem, dessen Zeit abgelaufen ist, zeigen willst“, fuhr Murot leise fort, auch wenn er sich dunkel zu erinnern glaubte, dass auch Scrooge keine Zukunft mehr gehabt hatte, „ich will es nicht sehen. Mit meinem Ende werde ich schon allein fertig, dafür brauche ich kein… Schreckgespenst.“ Die Formulierung mochte respektlos sein, aber inzwischen hatte er sich daran gewöhnt, das auszusprechen, was er dachte, und im Grunde, so sagte er sich, sah er sich gerade einem - zugegebenermaßen gruseligen - Tuch mit Hand gegenüber. „Kannst du nicht einfach wieder gehen?“, fragte er ohne große Hoffnung.
Die Kapuzengestalt reagierte nicht.

„Habe ich denn überhaupt eine Wahl?“
Keine Reaktion, die Hand wurde ihm noch immer dargeboten wie einem Freund. „Weißt du, eigentlich fehlt dir nur noch die Sense“, bemerkte Murot schwach, sah noch einmal kurz zu dem noch eingepackten Geschenk von Wächter. „Ist gut, ich folge dir.“ Und er legte seine Hand in die des Geistes.

*

Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber zumindest nicht, dass er im nächsten Moment in der Kantine des LKA auftauchen würde. Ungläubig sah er sich um. Für den Bruchteil einer Sekunde hoffte er, sich selbst hier irgendwo zu sehen, doch dann schalt er sich ob dieses Gedankens: Klar, als ob ich noch ein Jahr überleben würde.

Brauer und ein junger Mann, den Murot nicht erkannte, saßen an einem Tisch in der Ecke. Zögernd ließ Murot den Geist los und schlich näher, um die Unterhaltung zu belauschen.
„Und wie lange ging das ungefähr?“, wollte der Unbekannte gerade wissen.
Brauer zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“ Mit nachdenklicher Miene stach er auf seine Bratkartoffeln ein. „Er war schon immer merkwürdig drauf, daher hat wohl auch niemand darauf geachtet.“
„Und diese Sekretärin wusste davon?“, hakte der junge Mann nach. „Wie verantwortungslos ist das denn?“
„Sie hätte ihn nie verraten“, gab Brauer zurück. „Was fragst du überhaupt so viel?“
„Redet ja niemand sonst darüber“, entgegnete der Jüngere mürrisch.
„Warum auch? Es ist jeder für sich selbst verantwortlich.“
„Nicht bei einem Einsatz. Jetzt kann ich mir jedes Mal Gedanken machen, ob der, der mir Rückendeckung geben soll, womöglich plötzlich zusammenklappt. Großartig.“
„An deiner Stelle wäre ich vorsichtig, über wen ich mir hier das Maul zerreiße. Ganz oben gibt es immer noch ein paar alte Freunde von ihm. Und was mich angeht… Felix und ich mögen uns nie sonderlich nahe gestanden haben, aber zumindest haben wir uns respektiert. Was mehr ist, als man von dir behaupten kann.“ Brauer stand auf. „Und was Wächter angeht… Es gibt wohl keinen loyaleren Menschen als sie.“
Mit einem knappen Nicken wandte er sich ab und ging.

Und was habe ich jetzt eigentlich erfahren?, überlegte Murot verwirrt und drehte sich zum Geist um, doch der ließ keinerlei Regung erkennen. „Was willst du mir sagen?“, fragte er laut. „Soll ich jetzt auch noch ein schlechtes Gewissen gegenüber dem LKA bekommen? Reichen die Schuldgefühle noch nicht, die ich wegen Wächter habe? Verdammt noch mal, jetzt rede doch endlich mit mir!“ Schweigen. Er sah zu dem jungen Beamten, der allein am Tisch ge­blieben war.

„Und er nimmt die beiden auch noch in Schutz“, murmelte dieser gerade fassungslos und schüttelte den Kopf.
„Warte ab, was das Leben aus dir macht“, fauchte Murot ihn zornig an. Mag sein, dass ich verantwortungslos bin, aber von einem dämlichen Teenager wie dem da lass ich mir doch keine Vorschriften machen.

Frustriert seufzend zog der junge Mann sein Handy aus der Tasche, wählte eine Nummer und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch herum, während er wartete. „Hören Sie, das ist jetzt schon das dritte Mal, dass ich anrufe, also seien Sie so nett und gehen Sie endlich an Ihr gottverdammtes Handy!“, schnauzte er wen auch immer an. „Es ist mir egal, ob mein Vorgänger Ihnen erlaubt hat, Privattermine in die Arbeitszeit zu legen, als meine Sekretärin haben Sie mir zur Verfügung zu stehen.“ Ein ungutes Gefühl beschlich Murot. Die wenigen Anwesenden drehten sich nach dem Telefonierenden um und starrten ihn entgeistert an. „Ist was?“, fauchte er in ihre Richtung, fuhr dann mit gesenkter Stimme am Handy fort: „Rufen Sie mich gefälligst zurück, wenn Sie das hören. Und Eines sollten Sie bedenken: Sekretärinnen gibt es wie Sand am Meer.“ Er legte auf.

Einen Moment lang begriff Murot überhaupt nichts mehr; sein Instinkt funktionierte jedoch noch, sodass er einfach zuschlug - und natürlich nur leere Luft traf. „Jetzt mach doch was!“, schrie er den Geist der zukünftigen Weihnacht an, „bist du nun ein mächtiges Wesen oder nicht?“
Wider seines Erwartens „machte“ der Geist tatsächlich etwas, denn -

*

„Das habe ich nicht gemeint“, sagte Murot zornig, doch er wusste, dass es zwecklos war. Scheiße, ich konnte Wächter nicht einmal verteidigen. Aber wie denn auch, das hier ist erst recht nicht meine Zeit… In der Geschichte ließ sich damals die ganze Zukunft ändern, oder? Einfach, indem Scrooge sich geändert hat. Großartige Erkenntnis. Lilly wird nicht verschwinden, nur weil ich sie - es - darum bitte. Ich kann nichts ändern, es muss von jemand Anderem abhängen…
„Geist“, fragte er laut, „weshalb zeigst du mir das alles?“ Vielleicht bekomme ich ja von ihm irgendeine hilfreiche Geste - die Hoffnung, dass das Wesen doch noch anfangen könnte zu sprechen, hatte Murot schon aufgegeben - „Wen muss ich finden, um das zu verhindern?“ Ich bräuchte jemanden, der sich um Wächter kümmern kann, dachte er, jemanden, auf den man sich verlassen kann. Womit die Auswahl auf Wächter selbst beschränkt wäre.

Erst jetzt sah er sich um. Die Wohnung, in der er sich nun wiederfand, war offenbar gerade Schauplatz eines Suizids geworden, denn von der Decke baumelte, mit einer Schlinge um den Hals, ein Mann. Mit einiger Erleichterung stellte Murot fest, dass es immerhin nicht er war, der sich hier erhängt hatte. Ein wenig zögernd trat er näher, um zu sehen, ob er den Toten kannte - doch, nein, er war ihm noch nie begegnet.
„Was soll das?“, fragte er den Geist. „Soll das ein Vorschlag für mich sein?“ Dann stutzte er, sah sich noch einmal genauer um. Kein umgestoßener Stuhl, kein Schemel, nichts, worauf sich der Selbstmörder hätte stellen können. Das Seil war am Knauf einer Schranktür festgebunden. „Also Mord. Ich fange jetzt aber nicht an zu ermitteln, damit das klar ist.“

Die Tür des Zimmers ging auf und eine junge blonde Frau in der Uniform einer Oberkommissarin kam herein. Murot erinnerte sich an sie, auch wenn er ihren Namen nicht mehr wusste. Ich habe sie bei irgendeinem meiner Fälle kennengelernt, überlegte er, und sie hat sich recht gut dabei angestellt, aber -
Die Tür des Zimmers ging erneut auf. Diesmal kam Hauptkommissar Thönnies herein, eine Schnitte Brot in der Hand. Ihn konnte Murot einfach nicht vergessen, so sehr er sich auch bemühte. Auf jeder Epaulette waren vier silberne Sterne gestickt.
Sie haben diesen Idioten befördert?, fragte Murot sich ungläubig. Wofür denn? Dass er mal bei irgendetwas nicht auf Suizid entschieden hat?

„Morgen, wie geht’s?“, grüßte er.
Die junge Polizistin drehte sich um, sie wirkte deprimiert. Rasch trat Murot näher, um den Namenszug auf ihrer Uniform zu entziffern. „Döhring“, las er. Natürlich, wie konnte ich sie vergessen?
Sie zuckte mit den Schultern. „Gut. Ihnen?“
Thönnies winkte ab. „Kein Thema.“ Er ging zur Leiche.
Mein Gott, du musst doch sehen, dass sie lügt, dachte Murot verzweifelt. Was für ein Vorgesetzter bist du denn, dass du das nicht merkst?
Döhring machte sich eifrig Notizen.
Aus ihr könnte weitaus mehr werden als nur die Assistentin von diesem Arsch. Wenn ich damals nicht schon krank gewesen wäre, hätte ich versucht, sie zum LKA zu holen. Warum macht sie nicht mehr aus ihrem Leben?

„Ja, ja, die Feiertage. Der wollte wohl dem alljährlichen Familienstreit entkommen und hat sich aufgehängt, der arme Teufel“, kommentierte Thönnies und biss genüsslich in seine Stulle.
„Das haut aber nicht hin“, warf Döhring mit unterdrückter Wut in der Stimme ein. „Hier ist absolut nichts, auf dem er gestanden haben könnte. Soll er etwa am Seil hochgeklettert sein, um sich dann in die Tiefe zu stürzen?“
„Warum nicht? Vielleicht war er ja Seiltänzer“, entgegnete Thönnies gelangweilt und ließ seine Finger über das Seil hinaufwandern.
Am liebsten hätte Murot vor Verzweiflung über so viel… Ignoranz den Kopf gegen die Wand gehauen, aber das wollte er - Traum hin oder her - lieber nicht riskieren.
„Die Schranktür ist zu“, erwiderte Döhring gereizt. „Selbst wenn er dieses Kunststück vollbracht hätte, wie Sie es beschreiben, müsste die Tür durch den Ruck aufgegangen sein.“
„Ist durch den Luftzug vom Fenster wieder zugefallen. Ich sag’s Ihnen. Selbstmord.“
„Bestimmt nicht. Ich ruf die KTU an.“
„Tun Sie, was Sie nicht lassen können“, seufzte Thönnies.
Zufrieden beobachtete Murot, wie sie die Spurensicherung herbestellte. Ich wusste es. Die taugt was.

„Der Murot ist tot“, begann sie plötzlich zu erzählen, nachdem sie das Telefonat beendet hatte. „Hat meine Oma mir gesagt.“
Eine merkwürdige Ruhe ergriff von ihm Besitz. Was er bislang nur geahnt hatte, war ihm nun bestätigt worden, keine Hoffnung mehr, kein Zweifeln, aber auch keine Angst. Dann ist es so, dachte er. Dann ist es eben so…
„Wer?“, fragte Thönnies desinteressiert und lehnte sich gegen eine Wand.
„Kommissar Murot vom LKA, Sie erinnern sich bestimmt noch“, erklärte Döhring etwas hoffnungslos. „Sein Vater war mal Pfarrer hier.“
Großartig. Selbst nach meinem Tod werde ich darauf reduziert, der Sohn meines Vaters zu sein, dachte Murot bitter.

„Aha“, machte Thönnies. „Muss vor meiner Zeit gewesen sein. Sollte der Typ mir irgendetwas sagen?“
„Er war damals hier, als wir den Fall von dem ermordeten Journalisten bearbeitet haben.“ Als ihr Vorgesetzter noch immer nicht zu begreifen schien, fügte sie hinzu: „Der Tote auf dem See. Der, bei dem ’ne Waffe von der RAF gefunden wurde. Bei dem Sie auch unbedingt auf Selbstmord entscheiden wollten.“ Sie klang vorwurfsvoll.
„Ach, der… der Lackaffe“, sagte Thönnies. „Stimmt, da war was mit dem LKA. Ah, ja, kein Thema. Hat doch alles auf Suizid hingedeutet.“
„Nein, hat es nicht.“ Murot konnte nicht anders, er musste kommentieren.
Döhring hob nur die Augenbrauen und wandte sich seufzend ab. Anscheinend war auch sie nicht mit Thönnies einer Meinung.

Dieser hatte sein Brot endlich aufgegessen und zerknüllte nun das Packpapier. „Was hat denn überhaupt Ihre Oma mit dem LKA zu schaffen?“, erkundigte er sich grinsend, während er nach einer Möglichkeit suchte, das Papier loszuwerden. „Dealt sie nebenbei oder was?“ Er lachte.
Wenn Blicke töten könnten…, kam es Murot in den Sinn, als er Döhrings Reaktion beobachtete. Bekomme ich jetzt wenigstens noch ein schönes „Kein Thema“ zu meinem Tod? Dann schließt sich der Kreis wenigstens.
„Meine Oma hat letztens bei Matz Roloff getankt und der hat es ihr erzählt. Offenbar waren die beiden alte Freunde.“
„Der Roloff und Ihre Oma?“
„Nein.“ Sie verdrehte die Augen. „Roloff und Murot.“
„Aha.“ Frustriert stopfte Thönnies die Papierkugel in die Jackentasche und zog eine zusammengefaltete Boulevard-Zeitung hervor.

Kopfschüttelnd wandte Döhring sich ab und sah aus dem Fenster. „Sie denken bitte daran, dass ich in den ersten beiden Januarwochen nicht da bin, ja?“, fragte sie unvermittelt.
Murot konnte nicht verhehlen, dass dieser plötzliche Themenwechsel ihn enttäuschte. Ich dachte, sie würde sich wenigstens voll und ganz auf den Fall konzentrieren, anstatt sich um ihre Urlaubsplanung zu sorgen.
„Wieso das denn?“ Auch Thönnies konnte ihr offensichtlich nicht folgen.
„Fortbildung. Beim L… Bei den Lackaffen“, antwortete sie bissig.
„Ah, stimmt, da war was. Kein Thema.“

*

Es war kalt, unglaublich kalt und ein scharfer Wind wehte und grauer Nebel schluckte die gesamte Umgebung. Einzig der Geist war noch klar erkennbar. Totenreich, schoss es Murot durch den Kopf. Sieht so das Totenreich aus? Kann es sein, dass ich in diesem Augenblick -?
Auf einmal streckte die Kapuzengestalt einen Arm aus und wies in eine Richtung.
„Liegt dort die Antwort auf meine Frage?“
Keine Bewegung des Tuchs, das auf ein Nicken oder Schütteln eines eventuell vorhandenen Kopfes hinwies. Auch der Arm bewegte sich nicht.

Murot atmete tief durch. Ihm blieb wohl nichts Anderes übrig, als der stummen Weisung zu folgen. Er ging einige Schritte in das Grau hinein, welches sich allmählich lichtete. Als er einen schnellen Blick noch unten wagte, musste er feststellen, dass er eine Handbreit über Wasser lief. „Ach, du Scheiße“, flüsterte er.
Er drehte sich nach dem Geist um, der jedoch nichts weiter tat, als ihm die Richtung zu zeigen. Verunsichert ging er weiter.

Ein regelmäßiges, sich mit einem leisen Quietschen abwechselndes Platschen, das Murot zunächst kaum wahrgenommen hatte, wurde lauter und schien langsam näher zu kommen. Wen konnte der Geist ihm nun zeigen? Gab es denn jemanden, den sein Schicksal überhaupt berührte?
Ein Ruderboot tauchte aus dem Nebel auf.
„Ahoi“, flüsterte Murot.

Wächter sah, wie um die Entfernung zu prüfen, in Richtung Ufer, legte die Ruder ins Boot und ließ sich ein Stück weit von der Strömung nach Osten treiben.
Edersee, erkannte Murot, ich hätte es mir denken können. Er stieg an Bord, setzte sich seiner alten Freundin gegenüber und musterte sie. Erschöpft sah sie aus, wie um Jahre gealtert, als ob sie des täglichen Kämpfens müde sei. Mit leerem Blick starrte sie auf das Wasser hinaus. Der Wind löste eine Strähne aus ihrem strengen Haarknoten; sie strich sie nicht zurück.
Wie viel Zeit ist bloß vergangen?, wunderte Murot sich. Nach dem Aussehen der Anderen zu schließen nicht viel. Aber Wächter… Ist es meine Schuld?

„Ich habe keine Ahnung, ob Sie -“, machte sie einen Versuch, brach dann ab und blickte gen Himmel, um die Tränen wegzublinzeln. „Das wird nichts“, murmelte sie, „Schande.“ Tief durchatmen, sich besinnen. Fassung zurückgewinnen. „Sie sagten ja immer, ich solle nicht sentimental werden. Also… Frohe Weihnachten.“ Aus einer Tasche, die sie unter die Sitzbank geschoben hatte, holte sie einen Strauß Christsterne, setzte ihn vorsichtig auf dem Wasser aus und gab ihm einen behutsamen Schubs.

Mit gesenktem Kopf stand sie in stiller Andacht da und Murot hätte alles in der Welt gegeben, sie jetzt umarmen zu können. So blieb ihm nichts weiter übrig, als ihr zuzusehen und die Blumen im Wasser treiben zu lassen.

„Ahoi“, beendete Wächter schließlich ihr stummes Gebet oder Gespräch oder was es auch immer war, griff nach den Rudern und brachte das Boot wieder auf Uferkurs. Für einen Moment glaubte Murot, dort jemanden stehen und auf sie warten zu sehen, doch er traute seinen Augen schon seit einer Weile nicht mehr und die Gestalt hätte genauso gut ein Angler oder Baum sein können.

*

Die Glocke schlug dreimal.
Der Geist der zukünftigen Weihnacht sank in die Schatten zurück. Murot lag auf dem Teppich in seinem Wohnzimmer und fragte sich, wie er dort gelandet war. Stöhnend richtete er sich auf.
Na, gut geschlafen?, fragte Lilly spöttisch.
Er antwortete nicht darauf, warf sich stattdessen einfach erschöpft aufs Sofa und zupfte ein wenig an seinem Hemd herum, um den Rotweinfleck zu begutachten. Das Glas stand auf dem Tisch. Kurzer Blick auf die Uhr; es waren etwa drei Stunden vergangen, seit er sich mit dem Wein hingesetzt hatte. „Das ist doch nicht möglich…“, flüsterte er fassungslos. Aber die Erinnerungen an die Träume, Halluzinationen oder Erlebnisse - was sie jetzt auch immer waren - waren so lebendig…

Da waren doch teilweise Dinge dabei, an die ich seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht habe, überlegte er, oder die ich überhaupt nicht wissen konnte. Hat Matz wirklich Kinder?
Jetzt vor dem Ende wirst du eben sentimental. Bilde dir nichts darauf ein, vielleicht waren das einfach nur die paar hübschen Halluzinationen, die ich dir versprochen habe, sagte diese Stimme in seinem Kopf.
„Nein“, antwortete Murot laut und stand wieder auf, auch wenn ihm von der schnellen Bewegung schwindlig wurde. „Nein, du hältst dich jetzt mal schön raus. Es ist mir vollkommen egal, was das war.“ Er ging zum Fenster und sah hinaus; in der Wohnung gegenüber stand ein Weihnachtsbaum. Das ist dann wohl das letzte Weihnachten, das ich erleben werde, schoss es ihm durch den Kopf. Heute Nacht habe ich so viel gesehen und was hat es mir gebracht? Ich habe so lange gebraucht, um mich mit dem Sterben abzufinden und jetzt…

Das letzte Bild wollte nicht mehr aus seinem Verstand verschwinden; Wächter im Nebel auf dem See, so müde aussehend, wie er selbst sich gerade fühlte, und um ein Haar hätte er sie angerufen, um sich zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Sie war die Einzige, die ich in allen drei Zeiten gesehen habe, begriff er plötzlich. Ohne sie wäre ich längst nicht mehr am Leben.
Wäre vielleicht aber besser.
„Halt dich gefälligst raus“, entgegnete Murot ruhig. „Du hast hier nichts zu bestimmen, klar?“ Drei Zeiten. Jedes Mal war es nicht die meine. Was bleibt noch? Wird es überhaupt je meine Zeit sein, wenn ich sie mir nicht nehme? „Sie sollten sich die Zeit nehmen, Herr Murot. Sie haben sich schon viel zu viel Zeit gelassen…“ Endlich einmal war es nicht die Haselnuss, die ihm die Worte ins Gehirn pflanzte. Wer hatte das denn zu ihm gesagt? Es war wichtig…

Ob um sich besser zu erinnern oder um es sich noch mal zu bestätigen, wiederholte er die Sätze laut: „Sie sollten sich die Zeit nehmen. Sie haben sich schon viel zu viel Zeit gelassen…“

In der Wohnung gegenüber legte eine Frau ein Geschenk unter den Weihnachtsbaum.

Die Ärztin im Krankenhaus, dachte Murot. Die die scheußlichen Sachen mit mir machen wollte. Biopsie und was weiß ich nicht alles. Unwillkürlich griff er sich an den Kopf. Sie hat mich damals schon davor gewarnt, keine Zeit mehr zu haben.
Er lachte auf. „Weißt du was, Lilly? Jetzt nehme ich mir die Zeit. Ich überlasse dir nicht mehr die Kontrolle.“ Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte ihn. Er war am Leben.

In der Wohnung gegenüber ging ein junger Mann unruhig auf und ab, voll und ganz damit beschäftigt, sich die Krawatte zu binden. Als die Frau wohl zu seinem dritten missglückten Versuch einen Kommentar abgab, machte er eine gereizte Geste in ihre Richtung. Lackaffe, schoss es Murot durch den Kopf, ich wette, sie hätte ihm längst geholfen, wenn er sie gelassen hätte. Er meinte, eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem jungen Mann und dem jungen LKA-Beamten aus der Zukunft zu bemerken. Heiße Wut stieg in ihm auf. „Damit das ein für alle Mal klar ist, so behandelt niemand meine Wächter.“ Lackaffe, wiederholte er in Gedanken. Andererseits - bin ich denn besser? Ich habe schon viel zu viel Zeit vertan. „Ich mach’s wieder gut“, versprach er leise.

Sich vom Fenster abwendend, fiel sein Blick auf das noch immer eingepackte Geschenk. Ja, und jetzt sollte ich mir die Zeit dafür nehmen.
Vorsichtig nahm er das Kistchen und setzte sich wieder an den Tisch. Stand wieder auf, um sein Taschenmesser zu holen und eine Platte aufzulegen, „Heimweh“ von Anita Spada, eine Originalaufnahme von 1940. Es war lange her, dass er das Lied gehört hatte. Trotz seiner Entscheidung konnte es immer noch sein, dass dies sein letztes Weihnachten war, und dann wollte er den Moment genießen.

Behutsam löste er mit dem Messer die Tesa-Streifen, faltete das Geschenkpapier sorgfältig zusammen, hob dann den Deckel von dem Karton. „Mensch, Wächter“, flüsterte Murot entgeistert.

Ein Boot lag in dem Kästchen, ein Modellboot, offensichtlich selbst gebaut, mit einem Rumpf geschnitzt aus Kiefernborke, einem Mast und einem dreieckigen hellgrünen Segel. Vorsichtig holte Murot es aus der Verpackung und betrachtete es grinsend. Als Kind hatte er selbst manchmal solche Boote gebaut, obwohl er nie an ein solch schönes Stück Borke gelangt war. Woher hatte sie das bloß?, wunderte er sich einen Moment lang, doch dann begriff er, dass es keine Rolle spielte. Beeindruckt fuhr er mit einem Finger über den Bootskörper. Zwar hatte er gewusst, dass Wächter vielseitig talentiert war - im Ernst, was konnte die Frau denn nicht? -, aber dennoch erstaunt es ihn. Sie muss viel Arbeit damit gehabt haben, stellte er fest.

Ein zusammengerollter Zettel war wie eine Piratengeisel an den Mast gebunden. Murot machte ihn nach einigem Zögern los, faltete ihn auf. „Ahoi! Stapellauf ist im Sommer am Edersee. Frohe Weihnachten, Wächter.“
Trotz seiner beginnenden Kopfschmerzen nickte Murot leicht und lachte unter Tränen. „Ja“, sagte er leise, „ja, dann sollte ich wohl mal sehen, dass ich im Sommer noch am Leben bin.“ Er warf einen Blick auf die Uhr; es war eindeutig zu spät, um Wächter heute noch anzurufen. So schrieb er nur eine kurze SMS: „Ahoi und danke! Einverstanden, im Sommer ist der See voll. Frohe Weihnachten, Murot“ Das Telefonat würde er morgen nachholen, er konnte diesen Kampf nicht einfach hinter Wächters Rücken ausfechten.

Murot verschloss die Weinflasche mit einem Korken und bereitete sich aufs Schlafengehen vor. Die nächste Zeit würde anstrengend werden mit der Krankenhausodyssee. Beinahe war er versucht, es sich noch einmal zu überlegen, doch dann sah er zu dem kleinen Segelboot, das er auf den Flügel gestellt hatte, fernab vom Wasser. Es war ein Versprechen: „Im Sommer am Edersee.“

*

tatort, fanfiktion

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