Adventskalender 2012: 16.12. - Zeitzeugen (TO Wiesbaden)

Dec 16, 2012 02:46


Raiting: P12
Genre:  Drama; Freundschaft
Warnings: Nun ja, es ist Wiesbaden. Aber ich tue ihm nichts Schlimmeres an als der Canon!
Handlung: Prompts: Kindheitserinnerungen, Dickens’ Weihnachtsgeschichte
Der an einem Hirntumor erkrankte LKA-Mann Murot erhält am Heiligen Abend Besuch von den drei Geistern, die ihm helfen, eine wichtige Entscheidung zu treffen.
Länge: 10766 Wörter verteilt auf 3 Kapitel
A/N 1: „Sich kurz fassen“? Was ist das?
A/N 2: Ich habe mich eigentlich bemüht, die Geschichte so zu schreiben, dass man sie auch ohne Vorkenntnisse verstehen kann. Dennoch hier noch mal zwei Kurzinfos zur Orientierung: Kurzinfo1 und Kurzinfo2. Mit bestem Dank an meine Mutter für drei sehr hilfreiche Ideen. Mir gehört hier nichts außer der Reihenfolge der Worte.


„Es gibt kein besseres Geschenk als die Zukunft.“ - Sir Terry Pratchett, „Hogfather“

Zeitzeugen I - Vergangenheit

Eigentlich hatte Murot gedacht, dass ihm solche Dinge wie Weihnachten nun mehr bedeuten würden. Wenn die Zeit kostbar wurde, wenn man jeden Tag zum letzten Mal erlebte und jeder schöne Moment einen unbezahlbaren Schatz darstellte, sollte man doch meinen, dass derartige Feiertage an Wert gewannen, oder? Aber nein, dieser besondere Glanz der Vorweihnachtszeit, an den er sich noch aus seiner Kindheit zu erinnern glaubte, schien sich irgendwo im grauen Dezemberwetter zu verstecken.

Er warf die Wohnungstür hinter sich zu, stand einen Moment lang reglos im Flur da und ge­stattete sich einen tiefen Seufzer der Erleichterung. Dieser Augenblick des Nachhausekommens, wenn er endlich alle Masken, die er der Außenwelt zeigte, fallen lassen durfte, diese kleine schwache Stunde, die er sich pro Tag herausnahm - woran sollte er sich sonst festhalten?
Wird bald nicht mehr nötig sein, erinnerte sich Murot dann, als er ins Schlafzimmer ging, um sich umzuziehen, bald wird nichts mehr nötig sein.
Die Krawatte schien ihn erwürgen zu wollen.
Ich hätte Wächter warnen sollen.

Gestern hatte Murot ungeduldig darauf gewartet, dass seine treue Assistentin endlich ihren wohlverdienten Urlaub antrat (er gab ja zu, dass er ihr die letzte Zeit schwer gemacht hatte, andererseits - sollte er sich etwa dafür entschuldigen, dass er einen Hirntumor hatte?); heute hatte er die Zeit allein im Büro dazu genutzt, seinen Schreibtisch aufzuräumen. Niemand sollte ihm nachsagen können, dass er ein Chaos hinterließ.
Und es ist auch nicht gut, unerledigte Dinge zurückzulassen, flüsterte eine nur zu bekannte Stimme in ihm.

Genervt stöhnte Murot auf. Lilly, ich hatte wirklich gehofft, dass du wenigstens heute darauf verzichten könntest, mit mir zu reden, antwortete er in Gedanken. Selbst zu Hause mied er es, laut mit seinem Tumor zu streiten, da sonst die Gefahr bestand, das irgendwann auch vor seinen Vorgesetzten zu tun.
Mit wem willst du dich denn sonst unterhalten?, gab Lilly zurück. Soll ich dir ein paar hübsche Halluzinationen zu Weihnachten schenken?
Nein, danke, ich verzichte. Dennoch meinte Murot aus dem Augenwinkel heraus zu sehen, wie sein Spiegelbild ihm zuwinkte. „Hör auf damit, wir haben Weihnachten, nicht Halloween“, beschwerte er sich laut.
Wer wollte denn nicht mehr mit mir reden?, kam sofort die spöttische Erwiderung.
Ach, Scheiße auch, nicht mal bei Selbstgesprächen habe ich das letzte Wort, dachte Murot deprimiert. Ist doch alles zum Kotzen. Er nahm eine Schmerztablette, zögerte, warf dann eine zweite ein - bei den Mengen, die er in den vergangenen Wochen genommen hatte, spielte die eine jetzt auch keine Rolle mehr.

Beinahe scheu sah er zu dem noch eingepackten Geschenk von Wächter. Es war noch zu früh, um es aufzumachen.
Nachher könnte es zu spät sein, erinnerte Lilly ihn.
„Du bist nicht so…“, - ihm fiel kein passendes Wort ein, daher machte er nur eine unbestimmte Geste und begann, das Weinregal durchzusehen - „Es wäre doch ein ziemlich schlechter Witz, mich an Weihnachten umzubringen.“
Was hätte das denn für eine Bedeutung? Weder bist du davon überzeugt, dass heute der Geburtstag Christi ist, noch scherst du dich um gesellschaftliche Konventionen. Du hast noch nicht einmal eine Familie, mit der du um des Feierns willen feiern könntest. Warum sollte ich dich nicht heute umbringen?
Leise seufzend goss Murot sich ein Glas Spätburgunder ein und machte es sich dem Sofa bequem. „Weißt du was?“, fragte er ruhig in die Stille hinein. „Mach, was du willst.“
Ich hätte Wächter doch etwas Anderes schenken sollen, dachte er noch, bevor ihm endgültig die Augen zufielen, sie wird mir noch im Jenseits vorhalten, dass mein letztes Geschenk an sie Konzertkarten waren.

*

Als Murot vom Klang einer Glocke aufwachte, war es dunkel. „Scheiß Energiesparlampe“, fluchte er, während er sich aufzurappeln versuchte und sich über die nasse Stelle auf seiner Brust ärgerte, wo er sich wohl im Schlaf den Rest Rotwein übers Hemd gekippt hatte. „Halten auch nicht, was sie versprechen.“ Mehrmals betätigte er den Lichtschalter, bis er nicht mehr wusste, ob nun Strom floss oder nicht. Wunderbar, jetzt sitz ich über die Feiertage im Dunkeln da.

„Felix?“, fragte eine Stimme hinter ihm.
Murot drehte sich nicht um; er überlegte gerade, ob er in seinen über fünfzig Lebensjahren je die Fähigkeit erworben hatte, Schallplatten im Dunkeln zu wechseln.
„Felix!“ Wieder diese Stimme, lauter und drängender diesmal. Sie klang sehr jung.
„Ja, was ist denn?“, erwiderte er ungeduldig und wirbelte herum. Mit wem rede ich eigentlich?, wunderte er sich dann.

Ein Junge stand neben dem Flügel. Irritiert bemerkte Murot, dass er ihn trotz der Dunkelheit deutlich sehen konnte. Er trug zerschlissene altmodische Kleidung, wirkte schmutzig und heruntergekommen und schien etwa zwölf Jahre alt zu sein, doch als Murot es wagte, ihm in die Augen zu sehen, hatte er das Gefühl, dass ihm daraus die Weisheit von Jahrhunderten entgegenblickte.
Warum zum Teufel leuchtet er? Diese Tatsache interessierte Murot gerade weitaus mehr als die Frage, wie der Junge in seine Wohnung gekommen war. Als Glühbirnenersatz werde ich ihn wohl kaum verwenden können.
„Nein, das kannst du tatsächlich nicht“, bestätigte der Junge ihm.

Einen Moment lang starrte Murot ihn an, dann wandte er sich ab. „Ein Gedanken lesender Straßenjunge, Lilly? Ist das dein Ernst?“, murmelte er und schüttelte den Kopf, stellte dabei erstaunt fest, dass er keinerlei Schmerzen hatte. „Also, unter einer schönen Halluzination stelle ich mir definitiv etwas Anderes vor.“
„Ich bin keine Halluzination“, protestierte der Junge laut. „Ich bin der Geist der vergangenen Weihnacht.“
„Der Geist der vergangenen Weihnacht, natürlich.“ Murot rieb sich über die Augen und versuchte nachzudenken; es verwirrte ihn, dass ihm sein Kopf nicht wehtat. „Das Buch habe ich zugegebenermaßen vor vierzig Jahren gelesen, aber ich kann mich nicht erinnern, dass da „Tatsachenbericht“ auf dem Umschlag stand“, kommentierte er sarkastisch.

„Jetzt komm schon, Felix“, sagte der Junge lockend. „Wir haben nur eine knappe Stunde.“
„Lilly, ich gestehe dir ja zu, dass du dir wirklich Mühe gibst, kreativ zu sein, aber… wie kommst du nur auf so einen Unsinn?“ Er unterbrach sich, als ihm etwas einfiel. „Moment, das entstammt doch alles nur meinem kranken Gehirn. Natürlich. Ich denke einfach zu viel nach in letzter Zeit und hätte wohl den Rotwein besser nicht köpfen sollen.“ Nachdenklich fuhr er sich mit einer Hand über den Nacken. „Das ist doch bekloppt.“
„Bekloppt ist es, noch mehr Zeit hier zu verschwenden. Gerade du solltest doch wissen, dass Zeit ein kostbares Gut ist“, entgegnete der Junge ernst und auf einmal wirkte er viel älter, fast wie ein Greis.

Verunsichert sah Murot ihn an. Er hatte auf keine seiner Überlegungen hin eine Antwort von Lilly halluziniert und er schien zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit keine Kopfschmerzen zu haben. Ein Sofakissen, das aus dem Nichts geflogen kam und ihn am Arm traf, riss ihn aus seinen Gedanken. Ohne weiter darüber nachzudenken, hob er es wieder auf und warf es zu dem Jungen zurück. Mein Gott, jetzt kämpfe ich schon gegen Kissen, kam es ihm dann in den Sinn.
„Und was nun? Ich habe dir etwas zu zeigen, doch wenn du lieber eine Kissenschlacht abhalten willst…“, sagte der Geist der vergangenen Weihnacht langsam. Er hielt das Kissen in der Hand.
„Ich folge dir“, antwortete Murot. Er blinzelte und

*

fand sich in einer Kirche wieder, die ihm nur allzu vertraut schien. Die Besucher des Gottesdienstes sangen „Gelobet seist du, Jesu Christ“. Es gab keine logische Begründung, wie dies alles möglich war, und das machte Murot Angst. „Musste das sein?“, fragte er gereizt den Geist, der neben ihm stand und ruhig an ihm vorbei zum Altar blickte. „Warum hier?“ Erst dann fiel ihm die plötzliche Stille auf. Die Gemeinde hatte wieder Platz genommen, die allgemeine Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf den Pfarrer. Schrecken durchflutete Murot. Hoffentlich hat er mich nicht gehört, schoss es ihm durch den Kopf, bitte, er kann mich doch nicht hören, oder? Er wagte nicht, die Frage laut zu stellen; ängstlich sah er zu der jungenhaften Gestalt des Geistes.
Dieser schüttelte den Kopf. „Keine Angst, wir sehen die Vergangenheit nur, sie ist nicht deine Zeit.“

„Okay…“ Mit fahrigen Bewegungen rieb er sich über den Mund, mied es unter allen Umständen, den Pastor anzusehen. „Ist gut jetzt, wenn es dir nichts ausmacht, würde ich jetzt gerne wieder gehen.“
„Aber warum denn?“ Der Geist sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an und erneut hatte Murot das Gefühl, diesen merkwürdigen Augen nicht entkommen zu können und durch sie hindurch direkt in eine unendliche Tiefe zu stürzen. „Freust du dich nicht, deinen Vater wiederzusehen?“

Murot sah gerade lange genug zu dem Pfarrer, um festzustellen, dass sie einander inzwischen doch sehr ähnlich sahen. „Nein“, gab er dann ehrlich zu, „er ist seit über zwanzig Jahren tot und ich habe manchmal noch heute Angst, mir für irgendeine Kleinigkeit eine Ohrfeige von ihm einzufangen. Also nein, auf dieses Wiedersehen hätte ich auch verzichten können.“ Er wandte sich zum Gehen.
„Warte. Nicht deswegen habe ich dich hergebracht“, hielt der Geist ihn zurück, „warte.“

Mit gesenktem Haupt verharrte Murot. Was bleibt mir auch Anderes übrig?, sagte er sich. Schließlich weiß ich noch nicht einmal, ob ich ohne dieses… Wesen hier überhaupt wieder wegkomme -
„Sieh dich um“, wies ihn der Geist ihn an. „Wer könnte der Grund sein?“

Zögernd sah Murot sich in der kleinen Kirche um. An die meisten Leute konnte er sich noch erinnern oder zumindest wusste er, dass er mal ihre Namen gekannt hatte, mit ihnen zur Schule gegangen war oder sogar noch immer ihre - vermutlich längst nicht mehr aktuellen - Adressen und Telefonnummern in irgendeinem Notizbuch stehen hatte. So ist das nun mal. Man schwört, einander nicht zu vergessen und in Kontakt zu bleiben, aber… am Ende leben und sterben wir doch nur unser eigenes Leben, dachte er düster, auch wenn das in manchen Fällen vielleicht sogar das Beste ist. Schande, welches Jahr ist das hier? Fragend sah er zu seinem mysteriösen Begleiter; dieser nickte ihm nur aufmunternd zu. Am schnellsten werde ich das wohl herausfinden, wenn ich mich selbst hier finde.

Schnellen Schrittes ging er zur vordersten Bankreihe. Er hatte immer hier gesessen, für den Sohn des Pfarrers war es Pflicht, in der ersten Reihe zu sitzen -
Er war nicht da. Wie angewurzelt blieb Murot stehen und starrte verwirrt auf den leeren Platz in der ersten Reihe. Was soll der Scheiß? Dieser Traum wird immer verrückter.
„Hast du nicht eben noch festgestellt, dass ich kein Traum bin?“, sagte der Geist laut, wie um die Stimme von Murot senior, der gerade über die Bedeutung der Weihnachtsgeschichte sprach, zu übertönen.
„Aber…“ Murot sah sich um, wich dann zwei Schritte vor seinem Vater zurück, fühlte, wie sich trotz des Wissens, dass ihm hier nichts passieren konnte, wieder die alte Furcht in ihm breit machte. „Ich hab doch immer…“
„Bist du sicher?“, warf der Geist ein.

Eigentlich hätte dieser Kommentar von Lilly kommen müssen, dachte Murot wie betäubt, ließ den Blick über die Gemeinde schweifen. Lilly…

Er eilte durch den Mittelgang nach hinten und da war sie. Betont lässig lehnte sie auf der Kirchenbank, schlug elegant die Beine übereinander und ignorierte gekonnt die Blicke, die ihr das eintrug. Um so etwas hatte sie sich nie geschert. Sie suchte das nächste Lied im Gesangbuch heraus, markierte die Seite mit einem Lesebändchen; als sie sich vorbeugte, um das Buch wieder hinzulegen, fiel ihr eine Strähne ins Gesicht. Rasch strich sie sie zurück und griff nach der Hand des blonden Jungen, der neben ihr saß.

Murot schluckte und sah zu Boden. „Sie hat mich überredet, mich zu ihr nach hinten zu setzen“, erklärte er dem Geist der vergangenen Weihnacht, der plötzlich an seiner Seite stand, „mein Vater wusste nichts davon. Was ich mir dafür anhören durfte…“ Er warf einen Blick zu dem Prediger, der sein Vater war, hinüber. „Die Sache mit dem Konfirmationsfoto war schon schlimm genug. Aber den Ärger, den ich für meine - wie hat er das genannt? - Respektlosigkeit bekommen hab…“ Ein harter Tonfall schlich sich in seine Stimme. „Ist es das, woran ich mich erinnern soll? Soll ich mich jetzt vor meinem Ende wenigstens darüber freuen können, dass ich keine Familie habe, um herauszufinden, wie ähnlich ich ihm womöglich bin?“ Voller Wut und Schmerz wich er vor dem kindlichen Greis (oder greisenhaften Kind, wer wusste das schon?) zurück. „Damit ich zumindest sagen kann, dass ich nie einem Kind etwas getan habe?“ Ihm begann sich alles zu drehen und Murot wollte schon aus der Kirche stürzen, als der Geist ihn am Arm packte und mit erstaunlich starkem Griff festhielt.

Die Kirchengemeinde erhob sich für das nächste Lied.
„Ich muss nach dem Gottesdienst mit dir reden“, zischte Lilly dem 14- jährigen Felix zu, der ständig nervöse Blicke zwischen ihr und seinem Vater hin- und herwarf und sich mühte, sein Gesangbuch mit der linken Hand aufzuschlagen, da Lilly seine rechte noch immer nicht losgelassen hatte.
„Nicht zu lange, mein Vater…“ Felix brach ab und seufzte. Sang eine Strophe mit, neigte dann leicht den Kopf zu Lilly. „Pfarrgarten?“, fragte er leise. Lilly nickte, ohne vom Buch aufzusehen, und drückte zustimmend seine Hand. Ein Lächeln stahl sich auf Felix’ Lippen.
Murot beobachtete die Szene und wusste nicht, was er fühlte. „Da… hat sie mich dann geküsst“, sagte er zu niemandem, „‘Weihnachtsgeschenk‘ hat sie gesagt. Mein erster Kuss war ein Weihnachtsgeschenk.“ Er wollte sich in den Erinnerungen verlieren.

„Wir müssen weiter“, verkündete der Geist, „die Stunde ist fast um und du hast noch einiges zu sehen.“
Ungläubig starrte Murot ihn an. „Kaum verbinde ich etwas Positives mit dem, was du mir zeigst, sagst du mir, wir müssen gehen? Dein Timing ist ja noch schlechter als das von Lilly.“
Der Geist zog eine Augenbraue hoch. „Du meinst, weil dein Vater euch erwischt hat?“
Als ob ich dir irgendetwas erklären müsste, dachte Murot bitter. „Nein, meine Lilly, die… die Haselnuss, verdammt noch mal, man wird doch wohl seinem Tumor noch einen Namen geben dürfen, oder?“, fauchte er zornig. Fluchen in der Kirche, was Vater wohl davon halten würde?, schoss es ihm durch den Kopf. Er spürte einen unerklärlichen Drang zu lachen und

*

wurde fast von sich selbst umgerannt.
Murot schauderte; das Gefühl, dass jemand durch einen hindurchging, war alles andere als beruhigend. „Das mit dem Plötzlich-irgendwo-auftauchen musst du noch üben, oder?“, wandte er sich mit schwacher Stimme an den Geist.
„Ich sagte, dass dies nicht deine Zeit ist.“
„Das ist keine Antwort auf… ach, vergiss es.“ Interessiert musterte Murot sein etwa 20- jähriges Ich, das gerade die Haustür zuknallte und er erinnerte sich noch sehr gut an das Gefühl des Zorns, das er damals empfunden hatte. Diesmal konnte er die Szene gleich zuordnen.

„Knall nicht mit der Tür“, herrschte sein Vater ihn an. „So etwas tut man nicht.“
Der junge Felix blieb stehen, biss sich auf die Lippen und atmete tief durch. Dann wirbelte er zu seinem Vater herum. „Würdest du mir bitte verraten, was das eben in deiner Predigt sollte?“, fragte er mühsam beherrscht.
„Was meinst du?“ Sein Vater wandte sich ab und stellte die Bibel ins Regal.
Felix folgte seinem Vater in sein Arbeitszimmer; Murot blieb zögernd an der Tür stehen und beobachtete die Vergangenheit. Vielleicht hätte ich das alles nicht sagen sollen, sondern einfach runterschlucken wie immer, kam es ihm in den Sinn.

„Ich meine, was das sollte, mit deiner Fürbitte?“, führte Felix weiter aus, zitternd vor Wut, eine Hand zur Faust geballt. „Wie kannst du es wagen, für die Opfer der RAF zu beten und gleichzeitig hoffen, dass die Täter in den Schoß der Kirche zurückfinden? Solchen Terroristen muss man entgegenstehen, nicht mit offenen Armen entgegenlaufen.“
„Weihnachten ist das Fest der Liebe und des Friedens“, entgegnete sein Vater hart, „dazu zählt auch die Vergebung und das wüsstest du, wenn du dich etwas mehr mit der Heiligen Schrift befassen würdest. Aber du ziehst ja lieber in die Welt hinaus, um Klavier und Soldat zu spielen.“

Beide Felix’, der junge wie der alte, senkten betroffen die Köpfe und starrten zu Boden.
Ich hätte nicht so hart zu ihm sein dürfen, dachte Murot, er hat nur das getan, was er für richtig hielt…

„Ich leiste nur meinen Wehrdienst ab, mehr nicht“, entgegnete Felix leise, „und danach… Was ist denn so schlimm an meinen Plänen? Ich tu doch niemandem was, wenn ich Klavier spiele.“
„Auf einem Piano herumklimpern ist ja auch so ein lebenswichtiger Beruf“, fauchte sein Vater. „Ich dachte, ich habe dich zur Nächstenliebe erzogen, nicht zum nutzlos Herumlungern.“
„Sag es nicht“, bat Murot sein jüngeres Selbst inständig, stellte sich ihm - auch wenn es sinnlos war - in den Weg, „sag es nicht, er ist trotz allem immer noch dein Vater. Du siehst ihn nie wieder.“

„Dann sollte ich wohl besser gehen.“ Der junge Mann wandte sich zur Tür. „Ich hole nur schnell meine Sachen, dann bist du deinen nutzlosen Sohn los.“
„Und was machst du dann?“, warf sein Vater sarkastisch ein. „Ich fahre dich jetzt in der Christnacht bestimmt nirgendwohin.“
„Musst du auch nicht, ich kann auch im Bahnhof schlafen“, antwortete Felix ruhig und ging hinaus.
„Er hat vieles getan, das ich ihm bis heute nicht verzeihen kann“, sagte Murot leise, blickte seinem jüngeren Ich nach und tat alles, um nicht seinen Vater ansehen zu müssen, „aber… er war trotz allem noch mein Vater.“
„Spielt das denn eine Rolle?“, fragte der Geist.
„Ich weiß es nicht“, flüsterte Murot, blickte noch immer auf die Tür, durch die er damals gegangen war und

*

stand in seinem Büro. Ein Felix Murot, der ihm selbst sehr ähnlich sah, ging gerade zur Kaffeemaschine, um sich Nachschub zu holen. Wächter saß an ihrem Schreibtisch und arbeitete sich durch einen Stapel Akten.
Es war merkwürdig, sie hier zu sehen, nachdem er sie erst gestern in den Weihnachtsurlaub verabschiedet hatte. Aber das ist noch nicht passiert, dachte Murot und trat näher, wie sehr sie sich doch verändert hat...

„Wollen Sie nicht nach Hause?“, fragte sein jüngeres Selbst sie gerade.
Sie sah nicht auf, schüttelte nur stumm den Kopf.
„Sie müssen das jetzt nicht tun“, fuhr er fort, „diese Akten werden nach den Feiertagen schon noch da sein.“
Heute würde ich so etwas auch nicht mehr sagen, fiel Murot auf. Wann spielt das hier? Diese schwarze Bluse hatte sie doch seit Ewigkeiten nicht mehr an...

„Wozu die Arbeit liegen lassen, wenn sie doch nicht davonrennt?“, entgegnete Wächter schulterzuckend. „Und abgesehen davon… Was soll ich denn in dem leeren Haus? Einsam die Wände anstarren? Party mit hundert Gästen?“ Sie schniefte und suchte nach einem Taschentuch. „Also, wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gerne noch eine Weile hier bleiben“, schloss sie leise.

Scheiße, das ist kurz, nachdem sie ihren Mann verloren hat. Mit zwei großen Schritten eilte Murot zu seinem jüngeren Ich. „Du weißt es doch!“, schrie er sich an, fuhr sich verzweifelt mit einer Hand durch die Haare und zischte: „Du Idiot weißt es doch und fragst sie, ob sie nicht lieber nach Hause will? Hast du sie noch alle?“
„Er kann dich nicht hören“, warf der Geist ein. „Ich zeige dir nur die Vergangenheit, ich mache sie nicht.“
„Das ist mir egal“, fauchte Murot, „es tut gut, ihn anzuschreien.“ Frustriert sah er zu, wie sein jüngeres Ich betreten den Kopf senkte:

„Tut mir leid, natürlich… Sie müssen jetzt aber nicht den ganzen Kram da durcharbeiten, nur, damit Sie hier bleiben können.“
„Was soll ich sonst tun?“, gab Wächter leise zurück.
„Wenn Sie wollen, koch ich uns noch eine Kanne Kaffee, besorg Ihnen einen Aschenbecher und Sie reden sich Ihren Kummer von der Seele“, schlug der Murot der Vergangenheit vor.

„Die Stunde ist um“, verkündete der Geist der vergangenen Weihnacht. „Wir müssen gehen.“
Erneut wollte Murot protestieren, doch er fühlte, dass es vergeblich sein würde. Dunkelheit umfing ihn.

*

tatort, fanfiktion

Previous post Next post
Up