Ficathon:
write your darlings Fandom: these are the ruins, original
Characters: Mischa & Noy
Genre: drama, angst, hurt/comfort
Rating: P-18 Slash
Warning: violence, blood, mention of homophobia, nightmares, mental issues, abuse, kind of rape/noncon
Note: Fortsetzung von
no more fucks given, leider in Parts geteilt, weil LJ nichts über 10k posten will ... (Part 2 -
https://schattenmahr.livejournal.com/49520.html)
Prompt: Wenn man aufwacht, ist die Nacht schwarz wie das Pech | Statt der Großstadtromantik der Boden voller Dreck von
tears_into_wine 1
Aufwachen.
Blinzeln.
Was ist passiert?
Mischa erinnert sich nicht, saugt die Eindrücke auf, wie ein trockener Schwamm das Wasser, lässt den Blick wandern und die Erkenntnis trifft ihn wie ein Schlag. Der Mann neben ihm schläft friedlich, trägt seine Kleidung noch und hat wohl freiwillig auf die Decke verzichtet, in die er selbst sich eingewickelt hat. Für einen Atemzug lang ist die Wut wieder da. Darüber, dass sich dieser Mistkerl über seinen Wunsch hinweggesetzt hat, allein zu sein und zu leiden. Mit dem nächsten verblasst sie wieder, wird ersetzt durch die Verzweiflung, wegen der das alles erst passiert ist. Das Trinken, der Absturz und das … Aufgefangenwerden. Und noch weiter zurück. Killua, sein Tod, das Bild in einem der Kunsträume, Noy … und danach … wieder der junge Student. In der Bar.
Sein wirrer Kopf kämpft mit der chronologischen Reihenfolge, ehe er aufgibt.
Mischa verzieht das Gesicht, als er sich so vorsichtig wie möglich aus dem Bett stiehlt. Er hat um nichts gebeten, wollte nur seine Ruhe haben und scheinbar ist das Einzige, was er damit erreicht hat, etwas, das er auf keinen Fall gebrauchen kann: Jemanden, der sich für ihn verantwortlich fühlt und versucht, ihm zu helfen. Lächerlich! Als er neben dem Bett steht, bewegt sich Noy - war das wirklich der verdammte Name des Jungen? - im Schlaf. Zu tief und friedlich, um einfach aus ihm aufzuwachen. Ganz anders als er. Trotz der Betäubung durch den Wodka, waren die Träume schrecklich und er erinnert sich an jedes Detail. Das Atmen ist schwer. Einen Schritt vor den anderen zu setzen auch. Die Erinnerungen, die Bilder: Sie sind eine Flut, die er kaum bewältigen kann. Er muss hier raus! Wo sind seine verdammten Klamotten? Sie sind nass gewesen - es fällt ihm wieder ein. Noy muss sie irgendwo zum Trocknen hingebracht haben. Mischa will nicht suchen. Abermals wirft er einen Blick durch das Zimmer. Die Sonne steht schon in den Startlöchern und der blasse Schein des Morgengrauens erhellt den Raum genug, um den Kleiderschrank zu finden, an dem ein paar Fotos kleben. Von Freunden. Von der Familie. Noy scheint sein Leben im Griff zu haben. Warum interessiert er sich also für so ein verdrehtes Wesen wie ihn? Er will es nicht verstehen. Leise öffnet er den Schrank, kramt nach einer Jeans und einem Shirt. Schwarz. Egal. Das muss reichen. Noy bewegt sich wieder und Mischa wartet mit dem Anziehen, bis die tiefen Atemzüge wieder lauter werden.
Die Jeans ist zu lang.
Das Shirt zu groß.
Immer sind alle Idioten größer und kräftiger als er. Er hat das alles so satt. Vielleicht hätte Noy ihn in Ruhe gelassen, wenn er ein Zwei-Meter-Hüne gewesen wäre, mit einem Kreuz auf dem vier Kinder nebeneinander Platz gehabt hätten. Aber so jemand will er gar nicht sein. Die Riesen erwischt es immer zuerst, wenn die Welt untergeht. Sie sind die ersten, die im Matsch versinken, wenn sich alles in Wohlgefallen auflöst. Oh, sein Kopf ist eindeutig noch nicht wieder auf einer annehmbaren Höhe, selbst wenn er vom Kater verschont wurde. Anscheinend hat er am gestrigen Abend doch keinen billigen Fusel zu trinken bekommen. Schlecht ist ihm trotzdem, deswegen schwankt er schon beim Schuhe anziehen, dann in Richtung Tür und die Treppe hinunter.
Bis zum Morgengrauen geöffnet.
Das kommt ihm wieder in den Sinn, als er unten die hochgestellten Stühle und Hocker sieht. An der Tür entdeckt er den Wirt, der gerade am Schloss hantiert. Da der seine Schritte hört, dreht er sich um. Der Ire. Rote Haare, roter Bart, ein Wohlstandsbauch.
»Huch, schon wach?«, wird Mischa direkt gefragt und bekommt ein Lächeln geschenkt. Mitleidig. Sein Augenlid zuckt nervös, doch er reißt sich zusammen. Woher er die Kraft nimmt, weiß er nicht, aber er ist froh, dass sie gerade da ist. Er will einfach nicht mehr.
»Ich möchte gehen.«
»Sicher? Junge, du siehst ziemlich blass aus. Willst du dich nicht lieber noch ein wenig hinlegen? Weiß Noy, dass du gehst?«
Mischa holt gepresst Luft, weil in seinen Lungen kein Platz mehr zu sein scheint. »Ich … will raus.«
»Ja, ja … ist ja schon gut.«
Der Kneipenbesitzer schließt die Tür wieder auf und gerade als er sie öffnet, poltert es oben auf der Treppe, dann eilige Schritte. »Mischa! Warte!«
Doch der Tscheche will nichts hören. Er huscht durch den Türspalt und rennt, biegt direkt in eine Seitengasse ab, dann in eine weitere, damit ihm niemand folgen kann. Das lernt man schnell, wenn man sich immer wieder in Schwierigkeiten bringt und von denen hatte er weiß Gott schon genug. Das Flüchten hat er perfektioniert. Er erreicht die nächste Metrostation und auch wenn er kein Ticket hat, springt er in die erste Bahn, die einfährt und blinzelt die Anzeige an. Es ist die richtige Richtung. Wenigstens das hat funktioniert. Es sind nur fünf Stationen. Er wird schon nicht kontrolliert werden.
Einige Minuten später steigt er unbehelligt aus der Bahn. Es ist kalt und der Himmel zieht sich bereits zu. Sicher wird es auch heute so regnen wie gestern, deswegen läuft er etwas schneller, bis er das Viertel erreicht, das er sich als Zuhause auserkoren hat. Keine Großstadtromantik. Hier gibt es nichts als grauen Beton, verunstaltete Hausfassaden und Müllberge. Es ist die einzige Unterkunft, die er sich bei seinem kaum nennenswerten Einkommen leisten kann. Doch schon an der Haustür wird ihm siedend heiß bewusst, dass er seinen Schlüssel bei Noy liegengelassen hat. Es wäre schlauer gewesen, wäre er nicht Hals über Kopf abgehauen. Müde lehnt Mischa seinen Kopf an die Tür und mustert dann angewidert die Namen an den zahlreichen Klingelknöpfen. Seiner steht ganz oben. Da, wo es ständig reinregnet, weil die undichten Abflussrohre vom Dach durch sein Zimmer verlaufen. Auf einem Nachnamen bleibt sein Blick länger hängen. Er ist so verdammt müde, aber ist er tatsächlich bereit, das zu tun, um schlafen zu können? Nun … ihm ist alles egal, also hebt er die Hand und drückt auf den Knopf. Es dauert eine Weile, bis sich eine tiefe Stimme meldet und fragt, wer da ist. Sie klingt angepisst. Um diese Zeit ist das kein Wunder.
Mischa schließt die Augen. »Hier ist Mischa. Ich habe meine Schlüssel verloren. Kann ich eine Weile bei dir bleiben?«
Er bekommt keine Antwort, hört aber das Surren des Schlosses und drückt die Tür auf. Wenn er nicht ganz oben wohnen würde, dann würde er sein eigenes Schloss knacken und sich in seine Wohnung stehlen, aber so muss er an jener welcher Tür vorbei, die schon geöffnet ist - mit dem am Türrahmen lehnenden Mann. So viel älter als er und sicher gibt es deutlich unattraktivere Zeitgenossen, aber allein das herablassende Grinsen, die viel zu tief sitzende Shorts und die Selbstverständlichkeit, wie der Typ beiseite tritt, um ihn direkt einzulassen, ohne die Notwendigkeit zu sehen, etwas zu sagen, reicht, um ihn inbrünstig zu hassen, aber … es spielt keine Rolle. Mischa betritt die kleine Wohnung, streift sich die immer noch nassen Schuhe von den Füßen, die er auf Noys Heizung gefunden hat, und spürt direkt danach den Körper des Anderen hinter seinem.
»Du weißt, dass ich dich nicht einfach hier wohnen lasse, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, nicht wahr?«
Mischa blinzelt die Müdigkeit und vollkommene Willenlosigkeit weg, setzt ein kaltes Grinsen auf und dreht den Kopf gerade weit genug, damit der Andere es sehen kann. »Schon klar. Kann ich vorher duschen?«
»Das können wir auch gemeinsam tun. Es ist eine Weile her. Du hast mir gefehlt.«
»Ach … fick dich ins Knie, Pjotr …«
»Du weißt, dass ich lieber dich ficke, Süßer.«
Der Druck an Mischas Rücken führt ihn in Richtung Bad. Nur Minuten später ist er es, der den Kopf gegen die Kacheln drückt, die Erschütterungen spürt und den Schmerz, der seine Wirbelsäule hinauf zieht, während Pjotr hinter ihm immer wieder seinen Namen keucht und in ihn stößt wie ein Wahnsinniger. Dafür ein paar Tage ein Dach über dem Kopf zu haben, ist es wert, denn wenn er eine Sache nicht will, dann ist es die, Noy noch einmal zu begegnen, um sein Zeug wieder zu holen, auch wenn es unvermeidlich sein wird, schließlich liegt auch sein Ausweis und der Rest seines kläglichen Vermögens in dem Zimmer über dem Irish Pub.
Doch er wird nicht mehr heute hingehen.
Und auch nicht morgen.
Irgendwann dann …
2
Er meidet die Uni für vier Tage, dann hält er es nicht mehr aus. Pjotr hat sich für diese Zeit extra freigenommen, um die gemeinsamen Stunden in vollen Zügen genießen zu können, die sie größtenteils im Bett, der Küche, auf dem Flurboden … nun … es ist egal. Mischa hatte keine Sekunde lang die Chance, in seine eigene Wohnung einzubrechen. Er kann sich viel zumuten, weil es dabei hilft, mit sich selbst klarzukommen, aber irgendwann siegt der Ekel. Nicht der gegenüber Pjotr, sondern der vor seinem eigenen Spiegelbild, seinem malträtierten Körper. Der Mittfünfziger hat Spuren auf ihm hinterlassen, die er kaum unter seiner Kleidung verstecken kann. Nun … wenigstens hat ihm der alte Pianist eine neue Garde Klamotten spendiert. Zwei bunte Jeans, dazu passende Shirts und einen Kapuzenpullover, der so kunterbunt ist, dass er ihn gar nicht mehr ausziehen möchte. Auch zum Frisör wurde er geschickt. Das wäre alles gar nicht möglich gewesen, wenn er sich nicht wieder auf diesen Mann eingelassen hätte. Trotzdem … nie allein zu sein ist anstrengend. Vor allem für einen Freigeist wie er es ist. Deswegen macht sich Mischa kaum Gedanken, als er am fünften Tag die paar Sachen zusammenpackt, die er hat und dabei misstrauisch beobachtet wird.
»Was soll das werden?«, spricht Pjotr ihn schließlich an, noch ehe er Richtung Tür gehen kann.
Mischa hebt die Schultern. »Ich muss in die Uni zurück. Ich kann nicht ewig auf der faulen Haut liegen.«
»Und dann? Gehst du zum Nächsten, um dort eine Weile zu bleiben?« Die Worte sind näher und ehe er adäquat reagieren kann, legen sich Finger um seinen Hals und drücken ihn gegen die Flurwand. »Du lässt die Sachen hier und kommst zurück, wenn du dort fertig bist. Verstanden?«
Mehr als ein seichtes Grinsen hat der Tscheche für diese Worte nicht übrig. Träge hebt er die Hand, legt sie an den schmalen Unterarm und gräbt seine Fingernägel so tief in die Haut, dass Pjotr es nicht länger aushält und zurückweicht - noch immer den erhabenen, bedrohlichen Ausdruck im Gesicht, der ihm gar nicht zusteht. Mischas Grinsen wird breiter. »Bist du schon so verzweifelt, dass du mir drohst? Was nimmst du dir eigentlich heraus?«
»Das frage ich dich! Ich versorge dich mit neuen Sachen, füttere dich durch und …«
»… ich halte dir widerlichem Sack dafür meinen Hintern hin, weil du gar nicht mehr imstande bist, jemanden zu finden, der bereit ist, sich das anzutun. Überschätze dich nicht. Du kennst den Deal. Daran hat sich nichts geändert. Ich wohne bei dir und dafür kannst du mit mir machen, was du willst und hey … das hast du. Stundenlang … überall.«
»Du bist hier der Widerliche von uns beiden. Dein ganzer Lebensstil ist … ekelhaft.«
»Dann sei doch froh, dass du dich damit nicht mehr auseinandersetzen musst.« Mischa zwinkert und sieht zufrieden zu dem sich rot verfärbenden Unterarm. Seine Nägel sind sogar durch die Haut gedrungen. Bluttropfen bilden sich und rinnen schließlich in schmalen Rinnsalen zur Hand hinunter. »Und viel Spaß dabei, das zu erklären.«
Pjotr schnaubt, unterlässt jedoch einen weiteren Versuch, den Jüngeren aufzuhalten. »Du bist ein Arschloch, Mischa.«
»Habe auch nie etwas anderes behauptet.«
Seine letzten Worte - einem Flöten gleich - als er die Tür öffnet und ins Treppenhaus verschwindet. Direkt die Treppe hinunter, mit der Papiertüte und den neuen Habseligkeiten und auch den Sachen, mit denen er bei dem Musiker angekommen ist. Pjotr schreit ihm noch irgendetwas hinterher, aber die Worte erreichen ihn nicht mehr. Mischa saugt den frischen Duft der Freiheit ein, als er hinaus in den Regen tritt - schon wieder. Die hellbraune Tüte wird ihm nicht lange standhalten, aber bis zur Metro ist es nicht weit und die Universität ist auch in der Nähe der Haltestelle. Das sollte zu schaffen sein. Noch ist sein Verstand nicht beim heiklen Thema des Wiedersehens mit Noy angekommen. Das Hochgefühl, endlich wieder seine Ruhe zu haben, ist stärker und lässt Mischa die gesamte Fahrt lang vor sich hin grinsen. Wie lange werden die Schatten wohl für ihre Rückkehr brauchen?
Sie verdunkeln seine Sicht, als er in den Kunstraum zurückkehrt, in dem sein zuletzt gemaltes Bild unberührt steht und ihn nahezu anklagend anstarrt. Mit leerem Blick stellt Mischa die Papptüte mit seinen Klamotten ab und tritt näher. Flüchtig wandert sein Blick zum Boden. Sie haben die Blutflecken weggewischt. Und noch etwas ist neu. Eine kleine Kiste steht unter der Leinwand. Sie ist gefüllt mit Zetteln. Nachrichten, die hinterlassen wurden, um den Künstler herauszufinden. Er hat seine Initialen vergessen. Mischa nimmt die Kiste an sich, geht zum Mülleimer und lässt sie fallen. Ihn interessiert nicht, was andere zu dem Bild gesagt haben. Das Öl wird noch lange Zeit zum Trocknen brauchen und durch die stehende Position sind ein paar der frischeren Linien noch etwas nach unten gezogen. Die Note wird noch grotesker dadurch und Mischa … verliert sich.
»Was du wohl dazu sagen würdest, wenn ich es dir zeigen könnte?«, murmelt er leise zu sich selbst und er streckt die Hand aus, um die Farbe zu berühren, ermahnt sich aber kurz vor der Leinwand eines Besseren. Er will es nicht zerstören. Es ist das erste Bild seit Jahren, das ihm tatsächlich gefällt. Etwas, das sich vielleicht ganz gut verkaufen lässt, aber will er das? Es bedeutet ihm zu viel.
Ehe er sich noch mehr in seinen Gedanken verlieren kann, erschüttert ihn ein Poltern aus Richtung der Tür bis ins Mark und er fährt mit geweiteten Augen herum. Der Blick, der seinem begegnet, ist nicht minder überrascht. Einer seiner Professoren. Dimitri Beloussow und dem Namen macht er auch alle Ehre. Er kann seinen Schnurrbart nahezu bis zu seinen Augen hinauf zwirbeln. Jetzt jedoch steht er in alle Richtungen ab und das sonst so herzliche Gesicht verzieht sich. Solch ermahnenden Ausdruck hat Mischa schon so oft gesehen, dass es ihn kaum mehr anhebt, so angeschaut zu werden.
»Novak! Wo in Herrgotts Namen haben Sie in den letzten Tagen gesteckt? Sie haben die Prüfung für Kunstwissenschaft verpasst! Die hat gestern stattgefunden. Wo ist Ihr verdammtes Attest?«
Grundgütiger! Wie schnell sich ein blasses Gesicht krebsrot verfärben kann - es ist fast schon amüsant. Aber eben nur fast. Mischa runzelt die Stirn und wendet den Blick ab. »Den Scheiß brauche ich nicht …«
»Wenn Sie das Diplom haben wollen, müssen Sie da eben durch. Ich weiß schon, dass Sie sich Ihrer so sicher sind, dass Sie es als unnötig erachten, aber das gehört eben dazu. Kommen Sie später in mein Büro, dann gebe ich Ihnen den Nachprüfungstermin.« Mit diesen Worten poltert der Professor wieder nach draußen und Mischa sieht ihm nach, als wäre er gerade einem Geist begegnet. Was hat der Kerl überhaupt hier gewollt? Nun … nicht sein Problem. Leider fliegt die Tür ein weiteres Mal auf und er kommt nicht umhin, abermals zusammenzuzucken. »Ach ja … Kunstströmungen der Renaissance, Seminar, in zehn Minuten! Kriegen Sie ihren Arsch an die Wand und lassen Sie die nicht auch noch sausen! Die nächste Prüfung ist die der Kunstgeschichte.«
Bamm!
Die Schritte entfernen sich. Trotzdem dauert es eine gefühlte Ewigkeit, bis das Luft holen wieder Sinn macht. Mischa ist nicht hergekommen, um sich in einem höchst langweiligem Seminar den Hintern breit zu sitzen. Aber warum dann? Weil er keinen anderen Ort hat, an den er gehen kann? Weil er das Bild sehen wollte? Wegen seinen Sachen? Wegen … Noy? Nun … natürlich. Er braucht seinen Kram, um in seine Wohnung zurück zu können. Trotzdem weigert sich sein innerer Schweinehund dagegen, seinen Kommilitonen zu suchen. Dann bildet sich dieser Schnösel, der ja eigentlich keiner ist, nur wieder irgendetwas darauf ein. So wie auf das Bild in seinem Rücken, dem sich Mischa nach einem Seufzen zuwendet. Warum kommt ihm das Leben plötzlich so schwer vor? Killua konnte doch nicht die einzige Konstante gewesen sein, an der sich alles festgehalten hat, was ihn ausmacht, oder? Wenn das so wäre, dann … würde er wieder bei Null anfangen und … nein - einfach nein. Darauf hat er keine Lust. Trotzdem versucht er sich daran zu erinnern, wie es vorher gewesen ist. Was hat er da getan, um mit sich und seinem verdammten Leben klar zu kommen? Seinen Tod vortäuschen, seine Heimat verlassen, umherstreifen, bei Fremden Unterkunft suchen, dafür seinen Körper hergeben. Ja … es hat sich nichts geändert und das trotz der vielen Jahre, die er seit dem mit Reisen und hier und da sogar recht sinnvollen Tätigkeiten verbracht hat.
Warum also fühlt er sich, als wäre er aus dem Takt gebracht worden? Es ist doch alles wie vorher …
Sinnlos darüber nachzudenken, holt er sich selbst ins Hier und Jetzt zurück, wirft dem Bild einen letzten Blick zu und greift nach der Tüte, um den Raum zu verlassen und sich zu einem der Hörsäle zu begeben. Das Seminar hat längst begonnen und es sind weniger Studenten anwesend, als ihm lieb ist. Sein Zuspätkommen fällt auf. Aber Beloussow ist nicht das eigentliche Problem. Ungerührt erzählt er weiter, während Mischas Blick an braunem Wuschelhaar hängen bleibt … und an tätowierten Händen, verschieden farbigen Augen und einem seltsam erleichtertem Lächeln. Dieser verdammte Bastard! Zum Glück ist Noy von anderen Studentinnen regelrecht eingekreist, so dass er sich ganz beruhigt so weit weg wie möglich setzen kann. Er hat nichts zu schreiben. Braucht er auch nicht. Er hält diese ganzen theoretischen Sachen für absoluten Schwachsinn. Es gibt nicht viele Möglichkeiten, wie so ein Studium der Freien Kunst enden kann. Entweder man kann malen und von seinen verkauften Bildern leben oder man kann es eben nicht. Er selbst hat schon einige Bilder verkauft - ganz simple über Verkaufsportale. Aber er ist auch mindestens zehn Jahre älter als der hiesige Durchschnitt. Warum er sich dieses Studium trotzdem immer wieder antut, kann er sich selbst nicht erklären. Vermutlich, weil er hier kostenlos an alles heran kommt, was er zum Malen braucht. Leinwände, Farben, Räume, in denen er sich ausbreiten kann, wenn er die Kontrolle verliert. Vermutlich gibt es keinen anderen Grund.
Nach eineinhalb Stunden weiß er nichts mehr von dem Seminar. Beloussow hat ein paar Mal versucht, ihn irgendetwas zu fragen, aber er hat einfach nicht geantwortet, auch wenn er die meisten Sachen gewusst hätte. Ihm war nicht nach Kommunikation und ihm ist erst recht nicht danach, als die meisten den Raum nach Ende des Seminars verlassen. Natürlich bis auf einen. Doch Noy sagt nichts. Wortlos kommt er näher und stellt einen Rucksack auf den Tisch. Mischa muss nicht aufsehen, um zu wissen, dass es seiner ist, auch wenn er sehr viel voller aussieht.
»Deine Jacke hab ich noch zu Hause. Die hat nicht mehr mit reingepasst, also wirst du die irgendwann noch holen müssen oder … ich bring sie morgen mit. Und ich hätte meine Lieblingsjeans gern wieder.«
Mischa schmunzelt freudlos. »Du hörst dich wirklich verdammt gern reden, oder?«
»Du siehst besser aus. Scheint geholfen zu haben, dass du ein paar Tage blau gemacht hast, auch wenn dein Abgang genervt hat.«
Mischa will lachen. Er will es wirklich. Aber nur ein undeutbarer Laut kommt über seine Lippen, ehe er mit einem Ruck aufsteht, sich seinen Rucksack und die Papptüte schnappt und direkt die Tür ansteuert.
Doch ehe er sie passieren kann, hört er abermals Noys Worte. »Du hast jemanden verloren, oder? Ich habe mir das Bild jeden Tag stundenlang angesehen. Es … stecken so viele Gefühle drin. Und das bei nur drei Farben … und dem …«
»Sei still!«
Der eigene Puls lauter in den Ohren als sein gepresstes Atmen. Die Nulllinie ist erreicht. Es fühlt sich seltsam an. Als würde sich der Impuls noch aufbauen, doch der Moment ist längst vorbei gezogen. Was nimmt sich dieser Scheißkerl eigentlich heraus?
»… Blut«, beendet Noy seinen Satz dennoch. »Deswegen der Schnitt. Du hast …!«
Weiter kommt er nicht. Mischas Rucksack rast auf ihn zu. Er kann ihn auffangen, verliert kurz den Fokus und sieht den Schlag nicht kommen. Er kann nicht einmal behaupten, nicht damit gerechnet zu haben, dass er auf kurz oder lang eine fangen wird. Was ihn überrascht ist die Kraft, die hinter der Faust steckt. Danach geht alles ganz schnell. Mischa packt den Jüngeren am Kragen, zerrt ihn hoch und presst ihn ungehalten an die nächste Wand. Der Tscheche holt ein weiteres Mal aus. Instinktiv zieht Noy den Kopf ein und die Knöchel krachen frontal an die Wand. Die Haut platzt auf. Die roten Spuren an der hellen Tapete werden sich nicht mit verspritzter Farbe erklären lassen.
»Du weißt nichts«, gibt Mischa mit einer Ruhe von sich, die nicht zu dem passt, was gerade passiert und das verpasst Noy eine Gänsehaut, die sich über seinen ganzen Körper zieht. Wenn die Faust ihn getroffen hätte …
»Du hast recht«, murmelt er leise und weiß selbst nicht, wo er den Mut überhaupt her nimmt. Seine Beine fühlen sich an, als wären sie mit Quark gefüllt. »Ich weiß nichts, was nichts daran ändert, dass ich es verstehen will. Ich … weiß doch auch nicht, wieso …«
»Mein Leben geht dich nichts an! Halt dich fern von mir, sonst bringe ich dich um. Hast du das verstanden?«
So eine Drohung ist mittlerweile alltäglich, einfach weil sie viel zu oft im Spaß benutzt wird. Bei Mischa klingt es nicht nach solchem. Noy glaubt ihm, deswegen nickt er langsam und ist froh, dass die Hände von ihm ablassen. Mischa wirft ihm noch einen letzten, flüchtigen Blick zu, ehe er zu der Papptüte geht, in ihr herumkramt und schließlich die schwarze Jeans und das schwarze Shirt hervorzieht. Er wirft die Sachen auf einen der Tische, ehe er sich nach seinem Rucksack bückt, ihn schultert und den Raum verlässt. Noy sieht ihm nach, dann dreht er sich halb und mustert den blutigen Abdruck, den Mischas Faust auf der Wand hinterlassen hat. Vielleicht will er doch nicht alles von dem Anderen wissen …