Heinrich Böll: Ansichten eines Clowns (1963)
Meine Bewertung:
Autor (Verlagsinfo, dtv)
Heinrich Böll, am 21. Dezember 1917 in Köln geboren, war nach dem Abitur Lehrling im Buchhandel. Danach Studium der Germanistik. Im Krieg sechs Jahre Soldat. Seit 1947 veröffentlichte er Erzählungen, Romane, Hör- und Fernsehspiele, Theaterstücke und war auch als Übersetzer aus dem Englischen tätig. 1972 erhielt Böll den Nobelpreis für Literatur. Er starb am 16. Juli 1985 in Langenbroich/Eifel.
Ergänzung:
Werke des Autors: Der Engel schwieg (Roman, 1950, veröffentlicht 1992), Irisches Tagebuch (Reisebericht, 1957), Ansichten eines Clowns (Roman, 1963), Ende einer Dienstfahrt (Erzählung, 1966), Die verlorene Ehre der Katharina Blum (Erzählung, 1974), ...
Inhalt (Verlagsinfo, dtv)
Hans Schnier, Sohn aus reichem Hause, will lieber ein ehrlicher Clown als ein Heuchler sein. Sechs Jahre lang hat er mit Marie in wilder Ehe gelebt. Marie verläßt ihn, weil er sich nicht verpflichten will, die aus der Verbindung zu erwartenden Kinder katholisch erziehen zu lassen. Schnier ist diesem Verlust nicht gewachsen. Einst ein durchaus gefragter Pantomime und Spaßmacher, sitzt er am Ende zum Bettler degradiert mitten im Karnevalstreiben auf den Stufen des Bonner Bahnhofs, wo Marie, die inzwischen einen einflußreichen >>fortschrittlichen<< Katholiken geheiratet hat, von der Hochzeitsreise zurückkehren wird. - Heinrich Bölls Roman hat 1963 heftige Diskussionen ausgelöst. Das Mißverständnis vom angeblichen >>Antikatholizismus<< des Autors trug nicht wenig zu dieser starken Resonanz bei. Doch Heinrich Bölls Held, der Außenseiter, leidet mehr als alle anderen unter den bornierten Phrasen, der Unbarmherzigkeit und bequemen Moral unserer Wohlstandsgesellschaft.
Meinung
Heinrich Böll schreibt in seinem Nachwort zum Roman, aus dem Jahr 1985:
Nachgeborene - und darunter verstehe ich schon die jungen Deutschen, die Ende der fünfizer, Anfang der sechziger Jahre geboren sind, heute also zwischen 25 und 27 Jahre alt sind -, Nachgeborene werden kaum begreifen, wieso ein solch harmloses Buch seinerzeit einen solchen Wirbel hervorgerufen konnte. (S. 277)
Damit hat er wohl Recht. Für uns ist es heutzutage alles andere als skandalös, wenn ein Paar unverheiratet zusammen lebt. Damals wurde der Roman, zumindest in katholischen Buchhandlungen, nur unter der Hand verkauft, zu anstößig waren die darin enthaltenen Gedanken. Neben der für mich nicht in aller Tragweite nachvollziehenden Kritik an der Katholischen Kirche wird jedoch vor allem die Kritik am Nationalsozialismus, beziehungsweise dessen Verarbeitung sehr deutlich. So waren etwa die Eltern des Protagonisten, überzeugte Nazis, nach dem Krieg arbeitet die Mutter jedoch im "Zentralkomitee zur Versöhnung rassischer Gegensätze", und auch andere Personen aus Schniers Umfeld drehten sich wie die berüchtigte Fahne im Wind und wollen später nichts „damit“ zu tun gehabt haben.
Der Protagonist selbst, Hans Schnier ist, für mich persönlich, eine der interessantesten Romanfiguren überhaupt. Zunächst verliert er seine große Liebe Marie, mit der er zwar vor Kirche und Gesetz nicht verheiratet ist, die er jedoch nichtsdestoweniger als seine Frau betrachtet, war er doch der erste, mit dem sie die „Sache“ (wie sie es nennen) getan hat. Sehen die katholische Marie, und ihre ebenso katholischen Freunde diesen Zustand der wilden Ehe als verwerflich, sieht Hans das Anstößige viel mehr darin, dass Marie schließlich einen anderen, einen vorbildlichen Katholiken heiratet, und so gesehen eigentlich Ehebruch begeht. Immer wieder reflektiert er über seine Beziehung zu Marie, über Maries Beziehung zu ihrem neuen Mann, und fragt sich, wie sie ihm morgens die Butter aufs Brot streichen kann, ohne an Hans zu denken, und sich für den Verrat an ihm zu schämen, wo sie dies doch früher immer für ihn getan hat. Wie kann sie aus dem Bett steigen, Zähne putzen, die Zahnpastatube zuschrauben, wo Hans ihr doch immer dabei zu gesehen hat? Streng gesehen könnte sie nicht einmal in der Bibel lesen, ohne ihn zu verraten, denn immerhin hat sie ihm immer einige Stellen vorgelesen, während er in der Badewanne saß.
Vielleicht bin ich ganz tief drinnen doch eine hoffnungslose Romantikerin, aber diese Stellen und Gedanken liebe ich.
Auch Hans Schniers Karriere als Clown leidet unter der Trennung von Marie. Niedergeschlagen und antriebslos verzichtet er auf sein Training und seine Proben, muss er doch bei jeder Übung nur an Marie denken, und wendet sich dem Alkohol zu. Nach einem kontinuierlichen Abstieg und dem Verlust mehrerer Engagements, kommt es schließlich zum Schlimmsten, das einem Clown passieren kann: er ruft Mitleid bei seinem Publikum hervor. Von den Kritikern und von seiner Liebe zu Marie zerrissen, landet der einst vielversprechende Pantomime schließlich auf dem Bahnhof und wartet darauf, dass ihm die Passanten ein paar Münzen oder Zigaretten in den Hut werfen, und dass Marie vorbei kommt und zu ihm zurück kommt.
Auch wenn beim Lesen des Buches eine Ahnung aufkommt, wieso das Buch damals für Wirbel sorgte, geht vermutlich tatsächlich sehr Vieles verloren. Was bleibt ist jedoch noch immer ein großartiger Autor, der einen traurig-schönen Roman geschaffen hat. Sehr berührend und unglaublich mitfühlend geschrieben.