2 kurze, unsortierte Erkenntnisse aus der amerikanischen Wahl

Nov 09, 2016 14:56

Ich habe nicht viel Zeit, um darüber zu schreiben und ich hab keine Geduld für eine grosse Einleitung. Wir alle wissen, was passiert ist. Was die Wahl wirklich bedeuten wird, wie schlimm es wirklich wird, ist gerade unheimlich unberechenbar und ich kann und will mich da nicht darauf einlassen. Deswegen nur 2 Erkenntnisse - die keineswegs umfassend alles sagen, was zu sagen ist, aber...

1. Wir müssen aufhören zu unterschätzen, wie schmerzhaft der drohende Verlust von Privilegien sich anfühlt - und wie weit Menschen gehen, um diesen Schmerz zu verhindern

Diese Mehrheit der Wählerinnen und Wähler, die Donald Trump zum US-Präsidenten gemacht haben, sind nicht arme Menschen, die wütend sind über ihren aktuellen Zustand. Es ist nicht das amerikanische Proletariat, das Trump gewählt hat - es ist die alte weisse Mittelschicht, der es bis in die frühen Nullerjahre hinein noch verhältnismässig gutging und die seit der Krise 2008 mit der Tatsache konfrontiert wurde, dass ihr bisheriger Lebensstil und ihre bisher gewohnten Privilegien auf Dauer nicht zu halten sind. Das sind sie übrigens heute, Tag 1 nach der Wahl genauso wenig, wie sie es damals waren.

Die Angst, etwas, das man hatte zu verlieren, ist um ein Vielfaches grösser als die Wut über etwas, das man nie hatte - dazu gibt es bereits viele psychologische Studien, die ich hier jetzt in der Kürze nicht raussuchen kann. Das ist individuell so - und das ist auch Kollektiv so. Die "besorgten Bürger", die Trump wählen, Flüchtlingsheime anzünden und empört sind darüber, dass Frauen das Recht haben, Vergewaltigungen anzuzeigen, die sind nicht besorgt, weil sie sehen, dass es ihnen schlechter gehen könnte als früher - sie sind besorgt, weil sie Dinge zu verlieren drohen, die sie für selbstverständlich gehalten haben und - das ist ja irgendwie das Paradoxe an der Situation - von denen sie selbst eigentlich wissen, dass sie keine vernünftige Grundlage haben (denn sonst würden sie nicht derart emotional reagieren).

Das heisst, wir müssen aufräumen mit dem Mythos, dass eine "abgehängte weisse Arbeiterschicht" solche Entscheidungen trifft - es ist eindeutig eine Mittelschicht, die panisch um sich schlägt, weil ihr dämmert, dass ihr bisheriger gewohnter Lebensstil nicht nachhaltig ist. Jetzt soll er gefälligst trotzdem nachhaltig gemacht werden. Jene anzugreifen, die noch mehr Macht haben und tatsächlich profitiert haben, scheint zu riskant und davor fürchtet man sich. Also wehrt man sich, indem man die Armen und die Verwundbaren ärmer und verwundbarer machen will, sodass es einem wenigstens relativ, im Vergleich zu den anderen da, wieder besser geht. So etwas funktioniert nur mit Gewalt und davor habe ich Angst. Aber gerade wenn man gegen diese Reaktion kämpfen will, muss man sich bewusst sein, welche Wucht dieser Schmerz und die Angst vor dem Verlust von Privilegien tatsächlich hat und wie man ihm entgegentreten kann.

Für uns alle hier, denen ein Teil dieser Privilegen unabhängig von unserer politischen Gesinnung ebenfalls zu Gute kommt, gibt es nur einen Weg: das verlockende Angebot abzulehnen, das einem die Trumps dieser Welt machen - nämlich jenes, dass man ja bei der Gewalt gar nicht unbedingt mitzumachen braucht, solange man nur brav wegschaut und weiterhin die Privilegien geniesst, während andere daran zugrunde gehen. Die einzig wirksame Haltung dagegen besteht darin, allen Mut zusammenzunehmen und zu sagen: "nein, ich will diese Privilegien nicht, ich stelle mich freiwillig zu diesen anderen da - auch wenn mir das persönlich schadet." Das ist schmerzhaft, weil Privilegien verlieren schmerzhaft ist - aber anders geht es nicht. Auch der Trump-wählende Mittelstand weiss genau wie schädlich diese Privilegien sind. Aber er will sie, will sie, will sie nicht verlieren! Ob man nun bei diesem Tobsuchtsanfall mitmacht oder ihn einfach angewidert ignoriert - aus der Verantwortung raus kommt man damit nicht. Ich spreche hier besonders jene an, die von einem solchen Tobsuchtanfall in keiner Weise persönlich direkt betroffen sind und die den Luxus haben, auswählen zu können, zu welcher Gruppe von Leuten sie gehören wollen.

Das ist der Zustand, von dem wir ausgehen müssen. Alles andere ist Selbstbetrug. Und wir dürfen nicht unkommentiert geschehen lassen, dass sich eine aufgebrachte Mittelschicht hier erlauben will, ganz kräftig nach unten zu treten, um es "denen da oben" mal so richtig zu zeigen und "die da oben" treten freundlich lachend mit. Wenn wir etwas gelernt haben, dann das: das alte rassistische Patriarchat ist nach wie vor lebendig und gewaltbereit - und es wird nicht einfach Selbstmord begehen, wenn es sich bedroht fühlt - sondern wütend herumtoben - man solle doch endlich aufhören, ihm ein schlechtes Gewissen dafür zu machen, dass es überall auf der Welt erhebliche Schäden anrichtet.

2. Ein zu mechanisches, technokratisches Weltbild ist trügerisch, zu wenig verstandene Big Data-Methoden können uns nicht retten

Im Frühjahr dieses Jahres hatte ich gegenüber von Freunden folgende düstere Prognose gemacht: wenn die Wahl im Herbst Trump vs. Clinton heisst, gewinnt Trump. Ich fühle keinerlei Genugtuung darüber, dass ich damit recht behalten habe - vielmehr habe ich bis zum Schluss gehofft, dass ich danebenliegen würde. Ich bin übrigens auch nicht besonders gut mit Prognosen und ich will mich nirgends als Orakel bewerben - mir geht es vielmehr darum zu zeigen, dass sich die Dynamik, die Trump ins Weisse Haus getragen hat, bereits im Frühjahr abgezeichnet hat, gleichzeitig aber von nahezu allen politischen Beobachtern und Analysten mit Verweis auf Umfragewerte und Erfahrungswissen aus der Vergangenheit ignoriert wurde.

Es hat noch nie eine Präsidentschaftskampagne gegeben, die dermassen datengetrieben war wie jene von Hillary Clinton. In der amerikanischen Techzeitschrift Wired gab es noch diesen Sommer einen ausführlichen Artikel darüber, wie ausgefeilt die Strategie der Clintonkampagne war, um die richtigen Leute in den Swing States zu erreichen und zum Wählen zu bewegen. Im Artikel schwang die Zuversicht mit, dass diese datenunterfütterte, gezielte Vorgehensweise das Mediengetöse der Trumpkampagne letztlich besiegen würde. Aber diese Haltung hatte das Problem, das alle mechanischen, technokratischen Weltbilder haben - sie funktionieren nur, wenn die Welt sich tatsächlich in dem Zustand befindet, der bei der Gestaltung des Weltbilds angenommen wurde.

Das muss ich wahrscheinlich ausführen - sagen wir der Einfachheit halber, dass 99 von 100 Wahlen nach einem berechenbaren Modell ablaufen und dass die Big-Data-Instrumente mittlerweile so gut geworden sind, dass sie in der Lage sind, das Ergebnis in diesen 99 von 100 Wahlen mit nahezu 100%iger Sicherheit vorherzusagen, dann ist das ein extrem nützliches und wertvolles Instrument. Aber - und das ist das riesige grosse Über-Aber - wenn wir uns in dieser 1 von 100 Wahlen befinden, in der die normalerweise gültigen Regeln ausser Kraft sind, weil die Situation zu weit vom angenommenen Weltbild abweicht, dann muss man diese Mittel zur Seite legen und anders vorgehen. Nämlich qualitativ, mit der Beobachtung von gesellschaftlichen Dynamiken und jenen normalerweise unwichtigen Umständen, die dazu führen, dass das angenommene Weltbild nicht zutreffen könnte.

Es gibt komplett unterschiedliche Vorgehensweisen im Umgang mit einer stabilen, im Kern berechenbaren Situation und im Umgang mit einer volatilen, ungewissen Situation - Vorgehensweisen, die seit der Krise 2008 in anderen Bereichen heftig diskutiert werden.

Dass es sich um diese 1 von 100 Wahlen handeln könnte (oder 1 von 1000 oder was auch immer das tatsächliche Verhältnis ist), hat sich im Frühjahr bereits deutlich abgezeichnet und darauf beruhte auch meine damalige düstere Prognose. Das republikanische Parteiestablishment biss sich an Trump im Vorwahlkampf die Zähne aus, keine ihrer bewährten Strategien schienen zu fruchten, weil alles, was eine Kandidatur normalerweise abschiessen konnte, bei ihm abprallte. Das hat mich damals aufhorchen lassen. Auf der demokratischen Seite mobilisierte gleichzeitig Bernie Sanders die Wählerschaft mit einer Botschaft, die in einem "normalen" Wahlkampfjahr von der demokratischen Partei nicht einmal mit der Kneifzange angefasst worden wäre.

Auf beiden Seiten gab es also diese Dynamik, die darauf hindeutete, dass die etablierte politische Weisheit dieses Jahr nicht gelten würde - und dass es eine erhebliche Dynamik gegen das "Parteiestablishment" in beiden Parteien gibt. Das bedeutete auch, dass sich die demokratische Partei sich mit Hillary Clinton als Kandidatin ein zusätzliches Handicap auferlegte - nämlich jenes, dass sie wie kaum jemand anderes mit dem Establishment identifiziert wird.

Ich will damit keineswegs sagen, dass sie deswegen keine Chance hatte oder dass es gar der Fehler der demokratischen Partei war, dass ein misogyner Rassist US-Präsident wurde - die Verantwortung tragen jene, die ihn gewählt haben sowie jene, die nicht an der Wahl teilgenommen haben - aber mein Punkt ist der: gerade weil man sich derart auf die vermeintliche Objektivität dieser nackten Umfragezahlen verlassen hat, hat man dieses spezifische Handicap in der Kampagne unterschätzt und nicht wirklich eine Lösung dafür gesucht. Ich denke, man hätte Trumps Momentum evtl. rechtzeitig im Frühjahr stoppen können, wenn nicht noch bis zur Wahl hin die Mehrheit der politischen Analystinnen und Analysten im Innersten überzeugt gewesen wären, dass dieses Momentum gar nicht wirklich existiert - sondern bloss eine Art quotenbringende Schaumschlägerei ohne Konsequenzen sei. (Die Umfragen waren doch so klar!)

Und das, obwohl man das genau gleiche Problem vor einem halben Jahr schon beim Brexit hatte. (Meine Hoffnung, dass sich meine Prognose nicht bewahrheiten würde, beruhte eigentlich darauf, dass der Brexit für die USA als Weckruf hätte dienen können...)

Die ausgeklügelten Modelle - gerade auch das gefeierte Modell von Nate Silver und Five-Thirty-Eight - basierten im Kern auf der Hypothese, dass der Ausgang vergangener Wahlen ein wichtiger voraussagender Faktor für den Ausgang dieser Wahlen sein würde. Das war ein wichtiger Bestandteil jenes "Geheimrezepts", das ihm erlaubte, die letzten Wahlen von 2012 viel genauer vorherzusagen als jene Umfragen, die die aktuelle Stimmung ungewichtet wiedergaben. Silvers Hypothese stimmt in den 99 von 100 oder 999 von 1000 Fällen, in denen es sich um eine "normale" Wahl handelt - aber sie ist hinfällig, wenn man erstmal davon ausgeht, dass es sich um die eine Ausnahme handeln könnte. Wenige hatten den Mut, sich tatsächlich ernsthaft auf dieses Szenario einzulassen, dass 2016 diese Ausnahme sein könnte. Es gibt natürlich jedes Jahr Argumente, die auf eine Ausnahme hindeuten können - aber ernsthaft, waren sie jemals so klar wie dieses Jahr?

Ich hoffe sehr, dass dieser Umstand nun stärker ins Bewusstsein rückt und Methoden, die auch immer wieder in Frage stellen, ob das Modell in diesem jeweils konkreten Fall überhaupt anwendbar ist, in Zukunft mehr Beachtung finden.

gedanken, politik

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