Drei kurze Anmerkungen zu den Anschlägen auf Charlie Hebdo

Jan 09, 2015 17:59


Drei Dinge wollte ich zu den entsetzlichen Ereignissen in Paris doch noch gesagt haben, weil mich die Dynamik ängstigt:

1. Wer mit Attacken auf Muslime auf die grausamen Morde in Paris reagiert, spielt den Fundamentalisten in die Hände.

Die Leute, die die Angriffe ausgeführt haben, wollen den Westen als Feind sehen - wenn wir uns ihnen gegenüber tatsächlich als Feinde verhalten, ist das Wasser auf ihre Mühlen. Nochmals ganz deutlich: Dann geben wir ihnen genau das, was sie unbedingt von uns wollen. Wir können den Attentätern keinen besseren Dienst erweisen, als wenn wir Muslime aus unserer Gesellschaft ausschliessen und als "böse, feindliche Andere" betrachten. Denn sie wollen von uns als solche und nichts anderes gesehen werden - und sie zehren davon, dass einflussreiche Leute im Westen fieberhaft an diesem Bild arbeiten.

Man kann das eine nicht ohne das andere sehen, sonst sieht man nur die Hälfte des Bildes.

Genau das ist, was sich die Attentäter sehnlichst wünschen - dass immer mehr Muslime "bemerken" (müssen), dass sie bei uns im Westen "nicht dazugehören", "nie dazugehören werden" und mangels Alternative in die Arme von Al-Kaida, IS und Co. flüchten (müssen). Wollen wir weitere Konfrontationen und Anschläge verhindern, ist die (zugegeben vielleicht erstmal kontraintuitive) Reaktion nicht, Muslimen mit mehr Misstrauen zu begegnen - sondern mit weniger! Denn "wir" im Westen haben eine lange, leidvolle Geschichte, in der wir uns über andere gestellt haben, unsere vermeintlich eigene Identität in Abgrenzung von "anderen" aufgebaut haben - und nicht davor zurückgeschreckt sind, diesen Leuten bis heute unsägliche Schmerzen zuzufügen. Es ist an uns, die ersten Schritte zu tun, um daran etwas zu ändern - denn wir (und unsere Vorfahren) haben das verbrochen.

Wer Widerstand leisten will, stellt sich MIT Muslimen entschieden gegen Fundamentalisten. Wer sich in Reaktion auf die Ereignisse in Paris gegen Muslime stellt, stellt sich zu den Fundamentalisten.

2. Menschenrechte - dazu gehört auch die Pressefreiheit - können NUR von staatlichen (und allenfalls parastaatlichen) Organisationen verletzt werden.

Menschenrechte sind Rechte, die Individuen und Gruppen zugesprochen werden, damit sie sich gegen den Machtmissbrauch eines Staates wehren können. Sie beschränken damit ausschliesslich das staatliche Machtmonopol.

In diesem Sinne war der Angriff in Paris grausam, unnötig und gefährlich und es ist zu befürchten, dass noch mehr Leute daran sterben werden - aber es war KEIN Angriff gegen die Pressefreiheit oder das Recht auf freie Meinungsäusserung. Dies zumindest solange der französische Staat nicht beschliesst, als Reaktion darauf Satire zu verbieten oder die Pressefreiheit einzuschränken und danach sieht es ja nun nicht aus.

Individuen und nicht-staatliche Gruppen haben gar nicht die Möglichkeit, Menschenrechte zu verletzen. Wenn sie Taten begehen, die Menschenrechte verletzten, wenn sie von Staaten begangen würden, hat das einen simplen Namen: Verbrechen. Genauso, wie wenn dein Nachbar dich erschiessen würde, weil ihm deine Geranien auf dem Balkon nicht gefallen. Er wäre ein Mörder. Und dagegen gibt es das Strafgesetzbuch, wie für jede andere Art von Verbrechen dieser Art auch. Niemand würde dadurch dein Recht gefährdet sehen, Geranien an den Balkon anzubringen. Selbst dann nicht, wenn dein Nachbar Teil einer radikalen Anti-Geraniums-Guerillaorganisation wäre. Das Recht, Geranien anzubringen, würde erst dann vor einen Menschenrechtshof gelangen, wenn die Anti-Geraniumspartei die Macht in deinem Staat ergreifen und das Anbringen von Geranien unter Androhung von Todesstrafe verbieten würde.

Der IS verletzt unbestritten Menschenrechte auf den Gebieten, die von ihm (als parastaatliche Organisation in einem gescheiterten Staat) beherrscht werden - in Frankreich besitzen weder er noch Al-Kaida diese Macht. Wir sollten sie ihnen auch nicht ohne Not zusprechen.

3. Verliert die globalen Machtverhältnisse nicht aus den Augen.

Nichts illustriert die globalen Machtverhältnisse deutlicher als die Zahl ziviler Opfer; also die Zahl der Personen, die solche Anschläge unverschuldet mit ihrem Leben bezahlen, ohne, dass sie sich wirksam dagegen wehren konnten. Die Anschläge von 9/11 haben rund 3000 zivile Opfer in den USA gefordert - der anschliessende Krieg (als direkte Konsequenz davon, deshalb zähle ich nur Afghanistan) kostete mindestens viermal so viele zivile Opfer (militärische Opfer nicht eingerechnet, konservativste Schätzung) in Afghanistan. Bitte behaltet diese Zahlen im Hinterkopf - und die damit verbundene Tatsache, dass Menschen ausserhalb der westlichen Welt in viel höherem Mass ungefragt ihr Leben für solche Schwachsinnaktionen lassen müssen. Denkt daran, bevor ihr auf die Idee kommt, die 12 Personen in Paris mit Blut zu "rächen" oder ganze Bevölkerungsgruppen für die Taten von Fundamentalisten verantwortlich zu machen und damit in Geiselhaft zu nehmen.

Bisher haben weltweit überwiegende andere den Blutzoll dafür bezahlt, dass fundamentalistische Attentäter den Westen angegriffen haben.

So schlimm und grausam die Islamisten vorgehen, sie haben nach wie vor (zum Glück, aber doch!) nicht die Macht, das Ausmass an Schaden anzurichten, das in "unserem Namen" zur Vergeltung angerichtet wird. Weil jene, die in "unserem Namen" handeln, mehr Macht auf sich vereinen und damit auch ihre eigenen Ansichten schlagkräftig durchsetzen können. Das ist geradezu die Quintessenz von militärischer Macht.

Mitgefühl mit jenen, die ähnlich aussehen wie man selbst und einem ähnlichen Weltbild folgen ist einfach und kostet kaum etwas. Es ist sehr leicht, für jemanden im Westen als Reaktion auf die Anschläge in Paris zu sagen #jesuisCharlie - weil Charlie irgendwie aussieht wie wir und weil Mitgefühl mit den Mächtigen leider paradoxerweise leichter fällt als mit den Ohnmächtigen, gerade, wenn sie sinnlos angegriffen werden. Wollen wir den Fundamentalismus wirksam bekämpfen, müssen wir nach dem ersten Schock Mitgefühl aber besonders für jene aufbringen können, die ganz anders aussehen als wir und deren Gepflogenheiten uns fremd vorkommen. Vor allem, wenn sie Opfer von Krieg und Verbrechen werden. Und erst recht, wenn sie Opfer von Verbrechen in vermeintlich "unserem" Namen werden.

In dieser Hinsicht bin ich schockiert von der Tat in Paris, der Grausamkeit und der Skrupellosigkeit - aber noch viel mehr Angst machen mir unreflektierte Vergeltungsaufrufe, Kommentare, die den Kontext ausblenden und der Aufwind für faschistische Bewegungen in diesem Umfeld.

gedanken, politik

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