Auch du kannst berühmt werden! Die schöne neue Fernsehwelt verspricht einer ganzen Generation junger und weniger junger Menschen, dass das ganz grosse Publikum nur auf sie wartet. Du hast Talent! Du hast Wille! Das Rampenlicht will genau dich! So säuselt uns der schöne Sirenengesang von zahlreichen Castingshows und anderen sogenannten Reality-Formaten entgegen. Die Welt hat nur auf dich gewartet. Und wenn du genügend Durchhaltevermögen hast, und die Prüfung bestehst, wartet das Paradies der Reichen, Schönen und Erfolgreichen auf dich.
Dem Fernsehpublikum gaukelt man gleichzeitig vor, dass sie hier das "wahre Leben" zu sehen bekommen, echte Menschen wie du und ich, die vor unseren Augen zu Stars werden - und sich dabei natürlich auch gerne mal bis auf die Knochen blamieren. Wir sitzen gemütlich auf unserem Sofa - und können entweder davon träumen, ebenfalls dereinst berühmt zu werden oder uns über die Dummheit und Naivität der Kandidatinnen und Kandidaten lustig machen.
Dabei sitzen wir alle längst in der Falle. Es wird Zeit, mit dem System abzurechnen, das sich dahinter verbirgt.
Bis vor wenigen Monaten gehörte ich auch zu den Menschen, die es als eine Art "Guilty Pleasure" anschauten, im Fernsehen die eine oder andere Castingshow zu verfolgen - oder, als ich noch 60% gearbeitet hatte, mit der Faszination des Grauens das Nachmittagsprogramm der deutschen Privatsender anzuschauen. Ich dachte mir nichts dabei. Ich machte mich darüber lustig, wie sich die Leute da blamierten und ausstellten, ich kritisierte wie alle anderen auch an den Auftritten, Präsentation und Aussagen der Leute herum und fieberte irgendwann wider Willen doch mit dem einen Kandidaten oder der anderen Kandidatin mit.
Natürlich war mir bewusst, dass die ganzen Shows nicht die "Realität" zeigten, dass Dinge inszeniert waren, dass die Versprechungen, die gemacht wurden, übertrieben waren - aber die Leute da, die machten das schliesslich freiwillig mit. Wer nicht wollte, der konnte ja jederzeit gehen, oder?
stinastina hat neulich
dieses Interview mit einer ehemaligen Kandidatin des amerikanischen "The biggest loser" auf Facebook verlinkt und
6 vor 9 auf Bildblog verwies auf einen sehr
interessanten Artikel im Zeit Magazin, in dem es um die Knebelverträge, falschen Versprechungen und die Schweigekultur rund um "Germanys next Topmodel" ging. Und so langsam wurde mir klar, dass es hier längst nicht mehr um harmlose Fernsehunterhaltung geht. Vielmehr haben wir es mit einem sehr ungesunden und unmenschlichen System zu tun, in dem ein grosser Teil von uns gefangen ist - ohne dass wir es merken.
Phil Zimbardo hat in seinem Buch "
the Lucifer Effect" eindrucksvoll geschildert, wie die Situation und ein schlechtes System dazu führen können, dass sich Menschen auf eine Art verhalten, die sie für sich selbst nie für möglich gehalten hätten. Schauen wir uns die Eigenschaften eines solchen Systems doch mal an und wenden es auf die Reality-TV-Sendungen an:
1. Entmenschlichung: Systeme werden immer dann gefährlich, wenn die Beteiligten nicht mehr als Menschen behandelt werden, sondern in eine vorgeformte Rolle gepresst werden, die sie zu erfüllen haben. Sie sind nicht mehr Menschen, sondern "Gefangene" oder "Soldaten" oder "Feinde". Im Reality-TV wird uns zwar vorgegaukelt, dass uns die individuellen Geschichten von Menschen präsentiert werden - also eigentlich das Gegenteil von Entmenschlichung. Aufmerksame TV-Zuschauerinnen und Zuschauer haben aber längst gemerkt, dass in jeder Casting-Show die gleichen "Typen" auftauchen - "die Zicke", "das Landei", "der Herzensbrecher" etc. Es geht nicht darum, dass die Kandidatinnen und Kandidaten ihre eigene Persönlichkeit entwickeln sollten - es geht darum, dass sie der Jury und dem Publikum das geben, was sie sehen wollen. Es ist eine der grossen Lügen der Casting-Shows, die vorgaukeln, die Kandidatinnen und Kandidaten wären aufgrund ihres individuellen Talents ausgewählt worden. Selbst wenn Talent eine Rolle spielt - sie sind in erster Linie eine Masse an formbaren, unverbrauchten jungen Leuten, die gemäss den Ansprüchen des Fernsehens in Schablonen gedrückt werden. Und wir vor dem Fernseher nehmen sie auch nicht mehr als Menschen, als Individuen wahr - sondern als "die Zicke von Germanys next Topmodel" oder "der Schnulzensänger von DSDS".
Ein geradezu tragikomisches Beispiel war einer der Kandidaten in der letzten Staffel DSDS - ein kleiner, schmächtiger Junge, der von Dieter Bohlen schon im Casting den Übernamen "der Checker" verpasst bekommen hatte. Der Junge, der mir jeweils sehr verunsichert vorkam, versuchte hinterher Woche für Woche diesem Image gerecht zu werden und diese Rolle zu spielen - zum grossen Vergnügen der Leute zu Hause vor den Bildschirmen und natürlich auch der Jury. Ich weiss bis jetzt nicht, ob er die Ironie bemerkt hat, von der die Jurykommentare trieften, die ihn jeweils mit einem charmanten Lächeln der Lächerlichkeit preisgaben. Er wirkte jedenfalls in keiner Weise selbstironisch, sondern höchstens wie eine unfreiwillige Zirkusnummer in einem Kuriositätenkabinett.
Die Geschichte von Kaj, der ehemaligen Kandidatin von "The Biggest Loser", die ich oben verlinkt habe, zeigt die Entmenschlichung sehr gut. Sie schildert darin, wie die Kandidatinnen und Kandidaten dieser Sendung von den Trainern, Betreuerinnen und der Filmcrew als "die Fetten" behandelt wurden - im wahrsten Sinne des Wortes Loser, wertlose Verlierer, denen man zu ihrem eigenen "Glück" verhelfen musste, indem man sie beleidigte, quälte, herabwürdigte und ihnen die eigene Lösungsschablone aufdrückte. Widerrede war nicht möglich, Kritik nicht erlaubt - die Loser waren keine Menschen, sie waren Vieh, das unfähig war, das eigene Leben zu bestreiten. Vielleicht haben sie damit Gewicht verloren - aber es überrascht mich überhaupt nicht, dass die interviewte Kandidatin daraufhin eine Essstörung entwickelt und ein Problem mit ihrem Selbstwertgefühl und der Identität hat.
2. Das deklarierte Ziel und das wirkliche Ziel des Systems sind nicht gleich (falsche Versprechungen) kranke Systeme verschleiern ihre wahren Ziele hinter netten Ankündigungen und Versprechungen. Wenn der Teufel jemandem die Hölle schmackhaft machen will, wird er nicht von den unerträglichen Feuerqualen sprechen - sondern die Wärme anpreisen und es wie eine Chance aussehen lassen.
Das wahre Ziel von Reality-TV ist kaum versteckt und eigentlich tun alle so, als wäre es ihnen vollends bewusst - das Ziel ist, mit möglichst wenig Aufwand möglichst viele Werbeeinnahmen zu generieren; durch hohe Einschaltquoten, durch für die Sender sehr vorteilhafte Verträge, mit denen die "Siegerinnen und Sieger" nach eigenem Gusto vermarktet und eingesetzt werden können. Es geht - natürlich - um Geld. Die Sender haben kein Interesse an der Persönlichkeit der Kandidatinnen und Kandidaten, und an ihrem Talent nur in dem Masse, in dem sie es ausschlachten können. Deswegen erstaunt es nicht, dass viele "Superstars" und "Popstars" schon kurz nach der Finalsendung weg vom Fenster sind, wenn ihre Sender nicht noch anderweitige Pläne für sie haben.
Diese Ziele verpacken sie aber in besonders tollen Versprechungen - es lockt nicht nur vermeintlich Ruhm und Ehre, Aufmerksamkeit und Anerkennung - sondern auch die Chance auf ein "ganz neues Leben", auf ein "besseres Leben" - und insbesondere bei Teenagern auch eine Lösung für die in diesem Alter so typischen Identitätskrisen. Wir sagen dir, wer du bist, wir geben dir dein Selbstbewusstsein und wir zeigen allen, dass du mehr wert bist, als man dir zutraut. Der Preis: deine Seele, der volle Einsatz all deiner geistigen und körperlichen Kräfte und der Verzicht auf deine eigene Persönlichkeit und deine Freiheit. Lohnt sich das?
3. Eine unumstössliche Autorität, die "Gott" spielt. In kranken Systemen sind kein Widerspruch, keine Kritik und kein Zweifel erlaubt. Es gibt eine Führung, eine Elite, die bestimmt - die anderen haben zu gehorchen. Autorität ist auch in manchen gesunden Systemen wichtig - aber sie funktioniert nur, wenn sie transparent ist und wenn ihre Fehler durch Kontrollmechanismen korrigiert werden können, ohne dass ein Schaden entsteht. Je autoritärer ein System, desto transparenter und klarer müssen die Regeln sein - und desto konsequenter müssen auch Regelverstösse der Führung geahndet werden können.
Dieser Punkt ist bei Castingshows extrem offensichtlich. Das Wort der Jury, insbesondere des Jurychefs oder der Jurychefin, wird gefürchtet wie das Wort Gottes. Wir sitzen hier im Kollosseum und schauen gebannt auf Caesar, der den Daumen hebt oder senkt. Und die gesamte Inszenierung der Show dreht sich um diesen Moment - es geht hier nämlich um nichts weniger als um Leben oder Tod - das gaukelt man uns zumindest vor. Entweder, du überzeugst und du kannst weiter deinen Traum vom süssen Ruhm des Stardaseins träumen - oder es geht zurück in die Gosse, zurück zu Hartz IV. Ein Fingerzeig reicht. Formell stimmt zwar meist das Fernsehpublikum ab - in Wirklichkeit wird aber die gesamte Show um das Urteil der Jury, besser gesagt dieses einen Aushängeschilds der Show, heruminszeniert. Widerspruch ist nicht möglich. Von den Kandidatinnen und Kandidaten wird verlangt, dass sie jede noch so absurde Forderung der Jury kommentarlos umsetzen - dass sie jede noch so entwürdigende, ihren natürlichen Instinkten noch so widersprechende Aufgabe ohne zu murren umsetzen. Konformismus wird belohnt - Lob bekommen jene, die "hart an sich arbeiten". (Was bedeutet, dass sie so, wie sie sind, einfach nicht "gut genug" sind.) Wer sich beschwert, dem wird vorgeworfen, er oder sie "sei nicht bereit, für ihren Traum alles zu geben". Der Vorwurf der Faulheit ist quasi das Killerargument - dabei ist der Widerstand vielleicht bloss die Rebellion des eigenen Körpers, der eigenen Persönlichkeit gegen den ungesunden Druck, der hier ausgeübt wird.
4. Gruppendruck in ungesunden Systemen entsteht unter den "Insidern" oft ein starkes "Wir-Gefühl". Das Individuum ist kein Individuum mehr, sondern Teil einer Gruppe. Das ist einerseits ein unglaublich euphorisierendes Gefühl - andererseits wird der Konformitätsdruck, der von der Autorität ausgeht, so noch verstärkt. Es ist sehr schwierig, sich diesem Gefühl zu widersetzen - alle tun es, niemand hat ein Problem damit, was hab ich bloss? Kritische Gedanken werden unterdrückt oder personalisiert ("ich bin zu wenig gut."). Es ist sehr schwierig, in einer solchen Situation, in der der Druck so hoch ist, bei seinen eigenen Idealen, Wünschen und Zielen zu bleiben, und sich nicht anstecken zu lassen.
Bei Casting-Shows ist dieses Gefühl nicht unbedingt auf den ersten Blick erkennbar - denn es herrscht ja eine extreme Konkurrenz unter den Kandidatinnen und Kandidaten. Dennoch gibt es eine allgemeine Übereinstimmung darüber, welches Verhalten sozial erwünscht ist (Unterwürfigkeit gegenüber der Jury, keine Kritik am System, voller Einsatz auch bei dummen Aufgaben etc.) und Personen, die davon abweichen, werden harsch angegriffen. Man fügt sich entweder in die Gruppe ein, oder man wird von allen Seiten angefallen.
5. Verlust der zeitlichen Perspektive eine der interessantesten Erkenntnisse von Zimbardos Arbeiten ist, dass er aufzeigt, wie ungesunde Systeme allen Beteiligten die zeitliche Perspektive rauben. Das Leben spielt sich nur noch in der Gegenwart ab, die Personen verlieren den Bezug zur Vergangenheit und ihre Vorstellungen von der Zukunft. Sie werden radikal von dem Leben abgeschnitten, das sie vorher geführt hatten und sind so mit der Gegenwart beschäftigt, dass sie wenig Pläne für die Zukunft machen können. Damit werden sie sehr leicht manipulierbar. Wer eine Perspektive hat, eine Hoffnung, einen Wunsch ausserhalb des Systems, eine Erinnerung an eine gute Epoche in der Vergangenheit, der bleibt widerstandsfähiger.
Auch im Reality-TV kann man dieses Phänomen beobachten. Auf den ersten Blick erscheint es widersprüchlich - schliesslich ist die tragische Vergangenheit bei vielen Kandidatinnen und Kandidaten ein wichtiger Bestandteil ihrer Rolle und es gibt ein klares Ziel für die Zukunft. Nur, dass dieses Ziel innerhalb des Systems liegt und damit nur durch eine absolute Konzentration auf die Gegenwart erreichbar wird. Es scheint keine Alternative zum Sieg in der Show zu geben.
Menschen, die abrupt aus ihrem Umfeld herausgerissen werden und plötzlich den Kontakt zu ihren Wurzeln verlieren, werden orientierungslos und beeinflussbar. Das ist ja gerade, was das System möchte. Die Zeit bei einer Casting Show ist dermassen intensiv, dass keine Zeit für Reflexion mehr bleibt. Das verstärkt den Eindruck, dass man auf Gedeih und Verderb dem System ausgeliefert ist und nur überleben kann, wenn man sich bedingungslos an dessen Regeln hält, ohne das man einen Einfluss darauf hätte. Damit wird die Teilnahme an der Sendung zu einer Gefangenschaft in einem goldenen Käfig. Die Urteile der Jury und die Reaktionen des Fernsehpublikums werden von den Kandidatinnen und Kandidaten auch deshalb als so fatal wahrgenommen, weil sie in ihrem Leben plötzlich nur noch schwer eine Alternative zu den Regeln des Systems sehen können.
Man kann auch immer wieder feststellen, dass Kandidatinnen und Kandidaten selbstbewusster und distanzierter Auftreten, wenn sie aus einem sicheren, gesunden Umfeld kommen und z.B. eine gute Arbeitsstelle haben, zu der sie im Zweifelsfall zurückkehren könnten. Das relativiert die Erfahrung in der Show - senkt aber auch die Siegeschancen drastisch. (Gewinnen sollen ja schliesslich formbare Menschen, denen es wirklich um alles oder nichts geht.)
6. Ein langsames "Hineinschlittern" der Betroffenen Dieser Aspekt betrifft nicht alle ungesunden Systeme - es gibt natürlich die Zwangssysteme (wie Zimbardos Stanford Prison), in die man auf einen Schlag hineingerät. Aber gefährlich sind auch jene Systeme, die gegen Aussen einen schönen Schein wahren - im Innern aber ganz langsam anfangen, uns zu verändern. Viele schlimme Taten beginnen mit einem freundlichen Gespräch beim Essen, dem Versprechen, sich mal wiederzusehen - einer gedankenlosen Unterschrift unter einen Vertrag, einer kleinen Regelübertretung, die vermeintlich niemandem wehtut... Ist man einmal dem honigsüssen Pfad in die Falle gefolgt, schnappt diese zu. Es ist schwierig, in solchen Situationen wirklich von Freiwilligkeit zu sprechen. Die Leute haben einen Vertrag für etwas unterschrieben, ohne das Kleingedruckte zu beachten. Das ist naiv. Aber auch wenn viele von uns die Arroganz haben, uns selbst für klüger als diese Fallen zu halten - das ist eine Illusion, die gefährlich ist. Jedem und jeder von uns kann es passieren! Wir alle haben blinde Punkte und "schwache" Momente. Es ist im Übrigen eines der Standardargumente, um Menschen in solchen Situationen zu behalten - "eine kluge, intelligente Person wie du würde doch nicht auf so etwas hereinfallen (wie man uns vorwirft). Wenn du es machst, dann kann es doch gar nicht so schlimm sein, oder?" Irrtum!
Der oben verlinkte Artikel zu Germanys next Topmodel zeigt sehr schön, wie die "Mädchen" langsam da hineinschlittern und irgendwann nicht mehr herauskommen. Es sind hoffnungsvolle junge Frauen, die eine Herausforderung suchen und sich voller Träume und Erwartungen in eine Schlange stellen, um vor der Jury vorsprechen zu können. Sie haben die inszenierten Bilder aus dem Fernsehen im Kopf und bemerken nicht, dass das Fernsehen nie alles zeigt. (Es ist eines der vielen schmutzigen Geheimnisse des Casting-Business, dass längst nicht alle x-Tausend Kandidatinnen und Kandidaten wirklich zur Jury vorgelassen werden, sondern nur die besonders geeigneten und die besonders ungeeigneten (Zwecks Blossstellung zur Unterhaltung.)) Irgendwann, wenn sie dann in der Schlange stehen, erhalten die "Mädchen" einen Vertrag in die Hand gedrückt, den sie sofort unterschreiben müssen, damit sie überhaupt weiterkommen. Ihn zu lesen bleibt keine Zeit - es heisst entweder, oder - entweder, du unterschreibst es, ohne zu wissen, was du unterschreibst, oder du kannst gehen, hinter dir warten 1000 weitere, die froh wären, an deiner Stelle zu stehen. (Sagen sie.)
Eigentlich wäre dieses Verhalten des Systems bereits etwas, das eine riesige Alarmglocke bei uns auslösen sollte - aber soll das ganze Warten etwa umsonst gewesen sein? Das Argument wird in der Folge immer wieder dafür sorgen, dass die Leute dabeibleiben, obwohl sie sich vielleicht schaden.
Traurig ist da auch, dass die mediale Präsenz dieses vermeintlich "billigen" Wegs ins Rampenlicht dazu führt, dass viele junge Menschen gar nicht mehr wissen oder ahnen, dass es andere Wege zum Erfolg gäbe. In dem verlinkten Artikel erzählen beispielsweise Scouts von Modelagenturen, dass die eine oder andere Kandidatin von Germanys next Topmodel durchaus Chancen gehabt hätten, über eine Modelagentur ins Business einzusteigen. Sie hätten wohl weniger Öffentlichkeit bekommen, dafür aber die Chance, wirklich als Model zu arbeiten, in den grossen Modestädten der Welt - ohne den Makel, ein "Fernsehsternchen" zu sein. Ja, viele Kandidatinnen verbauen sich den Weg in eine erfolgversprechende Modelkarriere paradoxerweise gerade dadurch, dass sie sich fürs Fernsehen entblösst haben.
7. Missachtung persönlicher Grundrechte wenn in den Systemen die beteiligten Personen entmenschlicht werden, werden sie meist auch ihrer individuellen Rechte beraubt. Das kann im Extremfall zu unglaublich brutalen Verbrechen gegen die Menschlichkeit führen - aber schon verhältnismässig kleinere Verletzungen der Grundrechte, insbesondere der persönlichen Würde und der elementaren Freiheiten, sind gravierend.
Im Reality-TV werden persönliche Grundrechte verletzt, zum Teil anscheinend auf dermassen krasse Art, dass ich mich frage, ob das Argument der "Freiwilligkeit" wirklich gilt. Es ist der eigentliche Grund, warum ich das hier überhaupt aufschreibe. Kaj berichtet im Interview, dass die Kandidatinnen und Kandidaten bei "The Biggest Loser" von der Crew einzeln in ein Hotelzimmer eingesperrt wurden, ohne Möglichkeit, den Raum zu verlassen (bzw. nur, wenn sie wirklich extrem standhaft gewesen wären und sich auf eine Konfrontation eingelassen häten), dass zugunsten von dramatischeren Szenen im Fernsehen sogar die Anweisungen von Ärzten missachtet wurden und dass sie allgemein zu verstehen bekamen, dass sie wegen ihres Gewichtsproblems nichts wert seien. Ich weiss nicht, ob das wahr ist, ich habe nicht die Möglichkeiten, die Vorwürfe seriös zu überprüfen - wenn es tatsächlich wahr sein sollte, wäre es gravierend. Zumal Kaj noch behauptet, man habe ihr versichert, dieses Vorgehen sei im Fernsehen allgemein üblich.
Aber ich erachte auch schon die Vertragsbedingungen als problematisch, die den Kandidatinnen und Kandidaten offensichtlich im deutschen Fernsehen aufgedrückt werden. Ich bin keine Juristin - ich gehe davon aus, dass die Dinger irgendwie juristisch abgesichert sind - oder dass man es einfach darauf ankommen lässt, dass niemand klagt - mein Argument ist ethischer Natur. Wollen wir wirklich, dass das Fernsehen Menschen Verträge anbieten darf, in denen sie alle Rechte am eigenen Bild und an den eigenen Aussagen, ja sozusagen an der eigenen Person abgeben? Für eine lange Vertragsdauer, und bevor sie wissen, welche Art Bilder das sein und wie sie verwendet werden? Zumal es kaum Schadenersatz gibt für jene bedauernswerten Personen, denen der Auftritt in einer Castingshow unter Vorgaukeln falscher Versprechungen über Jahre ernsthafte Probleme bereitet.
Wirklich grenzwertig finde ich das Ganze, wenn die Betroffenen auch noch minderjährig sind (ich finde, jemand sollte da mal die Eltern auf Verletzung der elterlichen Sorgfalt verklagen. Ausserdem wäre ich sehr dafür, die Altersgrenze für die Teilnahme an solchen Sendungen auf mindestens 21 anzuheben. Denn ich glaube, die wenigsten Menschen sind im jugendlichen Alter schon wirklich in der Lage, die Folgen ihrer Handlungen in letzter Konsequenz abzuschätzen. Dazu kommt, dass ihre Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist und viele in dem Alter dazu neigen, sich zu überschätzen. In meinen Augen würde die Teilnahme an Casting-Shows und Reality-TV eigentlich unter die Jugendschutzbestimmungen fallen.) oder in irgendeiner Form geistig oder psychisch behindert und damit besonders verletztlich sind und besonderen Schutz bedürfen.
8. (Subjektiv empfundene) unmögliche Ausstiegsbedingungen nach all den obigen Ausführungen scheint dieser Punkt logisch. Die Kosten an persönlichem Einsatz und an Zeit, die man in ein solches System investiert, sind oft beträchtlich. Ausserdem erscheinen einem die Alternativen (künstlich) unerreichbar oder werden ständig als wenig erstrebenswert dargestellt. Die Betroffenen sind im System gefangen - Aussteigen würde ein Gesichtsverlust bedeuten, und das schmerzhafte Eingeständnis erfordern, dass man einen Fehler gemacht hat oder sich zumindest in etwas verrannt hat, das man so nicht wollte. Davon leben diese Systeme! Es ist deshalb wichtig, dass man sich immer vor Augen führt, dass keine Situation vollständig ausweglos ist!
Dieses Phänomen ist natürlich auch im Reality-TV sehr präsent. Man merkt, dass viele Teilnehmende immer verbissener das Ziel verfolgen, je länger sie drin sind - dass das Ausscheiden als brutal empfunden wird - und selbst nach dem Ausscheiden bleiben viele in einem unvorteilhaften Vertrag hängen, aus dem auszusteigen nur unter hohen Kosten und mit zähen Gerichtsverhandlungen möglich ist. Die "energiesparende" Variante ist da, einfach drinzubleiben, die Bedingungen zu erfüllen, sich nicht zu beschweren - und damit mitzuhelfen, das System immer wieder weiterzuführen.
Natürlich gibt es immer wieder einzelne Leute, die es geschafft haben, aus einer solchen Mühle auszusteigen - meist auch nicht unerfolgreich, entgegen aller Unkenrufe. Es gibt wesentlich krassere Systeme als das, was wir bei Castingshows im Fernsehen sehen. Dennoch ist es gerade für labile Persönlichkeiten fatal, wenn sie in einem solchen System landen und nicht mehr herauskommen. Wobei oft gar nicht unbedingt jene Personen besonders labil sind, die man auf den ersten Blick dafür halten würde.
Voilà, so sieht's aus.
Mir ist bewusst, dass diese Darstellung manchen etwas drastisch erscheinen kann. Es gibt auch durchaus genügend Beispiele von Kandidatinnen und Kandidaten, die von einer Casting-Show profitiert haben, für die die Show tatsächlich die versprochene "einmalige Chance" war, etwas aus ihrem Leben zu machen. Ich bin aber dennoch der Meinung, dass dies die Bedingungen, unter denen diese Shows entstehen, nicht rechtfertigt. Ich halte das System für unmenschlich - und ich bin, je länger ich mich damit befasse, desto mehr angewidert von diesen Machenschaften.
Es ist wichtig, hier zu sehen, dass ich damit nicht "Heidi Klum" oder "Dieter Bohlen" etc. anklage - sie sind genauso Teil des Systems wie die Kandidatinnen und Kandidaten. Das System ist faul - nicht die beteiligten Personen. Ich würde mir wünschen, dass mehr Leute mit Einfluss sich öffentlich hinstellen und die Sache problematisieren würden. Besonders solche, die selbst daran beteiligt waren. Ich glaube, es ist tatsächlich möglich, menschliche Casting-Shows zu machen, in denen die Beteiligten nicht ausgestellt werden, in denen die Versprechungen und Bedingungen von Anfang an transparent und klar sind - und in denen Aussteigen jederzeit ohne Verluste möglich ist.
Ich glaube sogar, dass diese Shows damit nicht an Unterhaltungswert verlieren würden. Wir würden allerdings weniger bei unseren niederen Instinkten angesprochen - Schadenfreude, Voyeurismus, die ganz grosse Dramatik um Leben und Tod... darauf müssten wir verzichten. Dafür könnte man es sportlicher sehen. Wir können uns nicht von diesem System distanzieren. Wenn wir uns das Zeug anschauen, stützen wir das System und sind damit indirekt dafür verantwortlich, dass Menschen dazu genötigt werden, vermeintlich "freiwillig" Dinge zu tun, die ihre persönliche Würde verletzen. Wenn wir uns über jene Leute lustig machen, die sich dort exponiert haben und auf die Nase gefallen sind, helfen wir dem System. Jedes ungesunde System braucht eine unbeteiligte Masse, die zuschaut und glotzt, statt hilft.
Ich empfinde es als kaltherzig, wenn man mit dem Finger auf die Leute zeigt, die naiv genug waren, sich freiwillig in ein solches System zu begeben und heute darunter leiden. Sie haben einen Fehler gemacht. Einen Fehler, für den sie schwer genug bezahlen. Sie verdienen unser Mitgefühl und unsere Unterstützung. Es ist eine unselige Angewohnheit von uns, dass wir lieber die Opfer beschuldigen, als uns mit den wahren Schuldigen auseinanderzusetzen. Und dazu gehören wir alle, die wir gaffen und nicht einschreiten.