Das Dilemma, ein Risiko richtig einzuschätzen

Apr 19, 2010 20:24

Der unaussprechliche isländische Vulkan nervt nicht nur halb Europa (und freut die andere Hälfte), sondern zeigt auch anschaulich, mit welchem Dilemma wir konfrontiert sind, wenn wir Risikoeinschätzungen machen müssen, ohne alle Informationen zu kennen. Das gleiche Prinzip gilt auch bei anderen Entscheidungen.

Zuerst einmal schien die Entscheidung ja relativ unumstritten. Es ist bekannt, dass Vulkanasche für Flugzeuge gefährlich werden kann, es gibt Vulkanasche in der Luft - also sperrt man den Luftraum. Aber schon nach zwei Tagen Sperrung kam Kritik auf, die Fluggesellschaften wurden ungeduldig. Ist die Asche wirklich so gefährlich? Wissen wir wirklich genug?

Ist es wirklich gerechtfertigt, beinahe den gesamten europäischen Luftraum möglicherweise über Tage, Wochen oder Monate zu sperren, wegen eines potentiellen Risikos?

Das Problem ist, dass man in solchen Situationen eigentlich nie genau abschätzen kann, wie gefährlich die Lage wirklich ist. Es werden jetzt zwar Daten gesammelt - aber die absolute Sicherheit, die absolute Berechenbarkeit fehlt. Wir haben also eine für uns unkontrollierbare Unbekannte und eine Variabel, die wir beeinflussen können.

Wir wissen (noch) nicht, wie gefährlich die Vulkanasche für Flugzeuge wirklich ist - also wie gross das Risiko ist, trotzdem Flugzeuge fliegen zu lassen. Wir (bzw. die Luftfahrtbehörden in Europa) sind aber gezwungen, eine Entscheidung zu treffen, ob man fliegen darf oder nicht. Normalerweise ist es in solchen Situationen nicht so offensichtlich, dass aus dieser Vorgabe tatsächlich vier mögliche Situationen entstehen können:




Es gibt in dieser Situation zwei "richtige" Entscheidungen - der Idealfall nämlich, dass man die Flugzeuge fliegen lässt und sich die Asche als ungefährlich herausstellt oder jene, die Leben rettet, weil man die Flugzeuge nicht fliegen lässt und die Asche tatsächlich gefährlich war.

Da wir aber, wie oben gesagt, nicht alle Grundlagen haben, um wirklich zu entscheiden, birgt jede "richtige" Entscheidung auch das Risiko einer "falschen" Entscheidung. Geht man das Risiko ein, lässt die Flugzeuge fliegen und stellt sich die Asche hinterher als gefährlich heraus, könnte es katastrophal enden, zu Abstürzen führen und letztlich Menschenleben kosten.

Setzt man umgekehrt auf den Slogan "Safety first" (wie man es aktuell tut), riskiert man grossen, unnötigen wirtschaftlichen Schaden, nicht nur für die Fluggesellschaften, sondern auch in allen Branchen, die ihre Transporte nicht auf andere Bereiche umlagern können oder auf Geschäftsreisen angewiesen ist. Letztlich können auch diese Ausfälle Menschenleben kosten, wenn sie andauern.

Die Entwicklungen der letzten Tage waren daher nicht verwunderlich. Am Anfang waren noch alle mit "Safety First" einverstanden - wer will schon (zumindest moralisch) dafür verantwortlich sein, wenn Flugzeuge kaputtgehen und möglicherweise sogar Menschen dabei umkommen? Lieber einmal zu viel am Boden bleiben, als dieses schreckliche Risiko eingehen, nicht wahr?

Andererseits - hat man das nicht auch schon bei der Schweinegrippe das gesamte letzte Jahr immer und immer wieder wiederholt, obwohl längst mehr als nur Hinweise da waren, dass "alles" weniger schlimm war als befürchtet? Hätte man nicht in der ersten Woche fälschlicherweise 200 Todesfälle der Schweinegrippe zugeordnet, hätten wir wahrscheinlich nie gemerkt, dass diese eher harmlose Grippe eine weltweite Epidemie wurde. Manchmal kann "Safety First" also auch Schaden anrichten - nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch in der Glaubwürdigkeit der Behörden, die wegen jedem kleinen "Boboli" gleich ein Tohuwabohu veranstalten. Wie oft darf der Junge "Wolf" rufen, ohne dass etwas passiert, bevor man ihm nicht mehr glaubt? (Und dann sind auch noch all unsere Wahrnehmungen getrübt und verfälscht - wir sehen schliesslich nur die Katastrophen, die eingetreten sind, nicht aber jene, die erfolgreich verhindert wurden.)

Wer wagt sich nun, in dieser undurchschaubaren Situation eine Entscheidung zu treffen? Und wann sind wir bereit, den Daten aus Messungen und ihrer Interpretation zu vertrauen? Wieviele davon brauchen wir, wie eindeutig müssen sie sein, dass wir auf die eine oder die andere Art entscheiden?

Und jetzt kommt ja noch die richtig fiese Frage: Wer ist schuld an einem "falschen" Ergebnis, falls es eines davon gäbe?

Sprich - wer trägt die Verantwortung, wenn jetzt umsonst Tausende von Flugzeugen am Boden festsitzen? Und wer hält den Kopf hin, wenn im Gegenteil wieder geflogen würde und dabei Menschen zu Schaden kommen?
Und: Wem oder was wäre es zu verdanken, wenn die Entscheidung, die man getroffen hat, "genau richtig" war? (Denn das wird auch oft vergessen.)

Wir befinden uns ja schliesslich in einer Situation, in der man gezwungen ist, eine überlebenswichtige Entscheidung zu treffen, ohne dass man die Wahrscheinlichkeiten und Gewichtungen kennt. Man kann es natürlich den Fluggesellschaften und Passagieren einfach frei überlassen, ob sie fliegen wollen oder nicht (das wäre dann die liberale Variante) - jeder unterschreibt einen Zettel, dass er den Flug auf eigene Verantwortung antritt und dann wird geflogen. Ist die Asche doch gefährlich, Pech gehabt. Wer lieber am Boden bleibt, darf das.

Das Problem bei dieser scheinbar "vernünftigen" Lösung ist nur, dass die Behörden nicht nur für die Sicherheit der Flugpassagiere zuständig sind, sondern auch für jene, die überhaupt nicht fliegen - aber in einer Flugschneise wohnen zum Beispiel, und denen ein abstürzendes Flugzeug(teil) aufs Dach fallen könnte...

Was die richtige Antwort gewesen wäre, können wir erst im Nachhinein sagen, wenn wir wissen, wie es ausgegangen ist und alle Daten vorliegen und ausgewertet sind. Aber so weit sind wir noch nicht. Unter den aktuellen Bedingungen ist es zumindest für Laien vollkommen unmöglich, die Lage richtig einzuschätzen. Und für Experten manchmal mehr, als sie selbst glauben.

Vielleicht hat der eine oder die andere mit diesem Hintergrund nun etwas mehr Respekt vor den Leuten, die unter diesen Bedingungen schwerwiegende Entscheidungen treffen müssen - insbesondere dann, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass sie sich für einen der oben genannten "schlechten" Fälle entschieden hatten.

Irren ist nicht nur menschlich - manchmal stehen die Chancen einfach schlecht.

gedanken, philosophie, politik

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