Jun 22, 2017 00:57
Hm tja, weiß auch nicht.
Irgendwie eröffnen die Reaktionen auf den Tod von Helmut Kohl einen tiefen Blick in die Seele des Landes:
Auf der einen Seite die ewigen Groupies, die jetzt alle Karl Marx-Straßen und -Plätze im Rhein-Main-Gebiet in Helmut Kohl-Straßen und -Plätze umbenennen wollen. Die gab es schon immer. Früher hießen sie Kristina Schröder bzw. Köhler und hatten einen Kohl-Starschnitt im Zimmer. So Leute hören auch Schlager, fahren nach Bad Münstereifel in Urlaub und machen sonst allen möglichen Quatsch, den ich nicht verstehe. Gab es immer und wird es immer geben. Parallelwelt.
Dann gibt es die, die sich outen als Spätkonvertiten. "Ich hab ihn nie gewählt, aber jetzt bin ich sooo dankbar für die Wende/die EU-Politik, Helmut Kohl war ein großer Deutscher/Europäer. Wir haben ihn immer unterschätzt" (Zutreffendes bitte ankreuzen). EU: Mag sein, obwohl ich nicht weiß, ob jemand allein deshalb in seiner Zeit unterschätzt war, weil hinterher idiotische Entscheidungen getroffen wurden. Dass die EU lange vor allem ein Wirtschaftsprojekt war, IST ein Problem und das geht auch auf Kohl zurück. Wende: Hmhm. Die einen sagen so, die anderen sagen so. Jedenfalls war er zur richtigen Zeit da, um die Ernte einzufahren, am Rest scheiden sich die Geister. Ansonsten: Spendenaffäre, ein kolossal an die Wand gefahrenes Privatleben mit Wirkung bis posthum ("Walter Kohl hat offenbar Hausverbot im Elternhaus"). Gefickt eingeschädelt. Charakterliches Vorbild? Kaum.
Am interessantesten ist aber, dass es eine Gruppe von Menschen gibt - mich eingeschlossen - die reflexartig wieder in die Rhetorik und Haltung der 80er und 90er Jahre reinschnappen und die, weil sie sich an das Gefühl von Politik in der Zeit noch sehr gut erinnern, ziemlich mitleidlos und bitter über die Geschichte denken - und schreiben. Die Rhetorik ist dann die selbe wie früher: Rechtsbeugung, "der Pate von Oggersheim", Probleme aussitzen, Reformstau etc.etc.
Die Jüngeren und die beschriebenen Konvertierten brandmarken das als Hate Speech, die Gemeinten keilen zurück, das könne man nur sagen, wenn man die Zeit nicht erlebt hat.
Stimmt vielleicht beides? Waren die 80er Jahre vielleicht eine Zeit, in der eine politische Rhetorik sich Bahn gebrochen hat, die damals nur noch nicht von den entsprechenden Protestformen begleitet war, die uns heute vor Scham erröten lassen ("Steig in deine hässliche Karre, du Fotze!", "Danke, Merkel...!" usw.)? Kann es sein, dass die sprachliche Verrohung, die wir heute so unangenehm finden, schon älter ist als Pegida?