Die Ursachen und Urheber des 2. Weltkriegs - Neunte Auflage (1973)
Siebzehntes Kapitel Verspätetes englisch-französisches Liebeswerben um Russland
Hitler entschließt sich zu einem Pakt mit Russland
...Das Auswärtige Amt erteilte Blücher am 27. Juli 1939 die Instruktion, die Reichsregierung habe nicht angeboten, die sowjetische Eroberung Finnlands und der baltischen Staaten
dulden zu wollen. Doch das beruhigte die Finnen nicht, denn die Reichsregierung erbot sich nicht, sich den russischen Bestrebungen in den Gebieten zu widersetzen.
Es konnte kaum überraschen, dass es den Deutschen nicht gelang, den Finnen Hoffnungen zu machen. Denn inzwischen hatte sich Hitler doch noch entschlossen, mit Nachdruck auf ein Abkommen mit Russland hinzuwirken. Ermutigt dazu hatte ihn Molotows Bereitschaft, in Berlin Verhandlungen über einen bedeutenden russisch-deutschen Handelspakt zuzulassen. Während dieser Verhandlungen war Weizsäcker von Hitler angewiesen worden, Schulenburg am 29. Juli 1939 davon in Kenntnis zu setzen, dass die Reichsregierung geneigt sei, russische Bestrebungen im baltischen Raum zu dulden, wenn Russland seinerseits sich in einem deutsch-polnischen Krieg neutral verhalten würde.
Das englisch-französische Angebot auf Kosten Polens
...Völkerbundskommissar Burckhardt hatte die Lage mit Hitler am 11. August 1939 erörtert und dann Bonnet nahegelegt, wenn die Polen sich nicht umstellten, sei ein deutsch-polnischer Krieg nicht zu vermeiden. Hitler hatte vorausgesagt, Polen würde in drei Wochen besiegt werden, und Bonnet war geneigt, ihm darin recht zu geben. Burckhardts Versicherung, dass Hitler keinen Krieg wünsche, hielt Bonnet für glaubwürdig, und auch, dass es möglich sein werde, den ständigen Streit durch Verhandlungen beizulegen. Hitler hatte Burckhardt klar gemacht. ihm seien die polnischen Aufmarschpläne bekannt und sie seien, im Vergleich zu denen der Tschechen im vorhergehenden Jahr, geradezu infantil. Burckhardt hatte ihn dann gefragt, ob er seine Kinder unbesorgt in Danzig lassen könne, worauf Hitler ihm riet, sie in die Schweiz zu schicken. Am 14. August 1939 sah also Bonnet die endgültige Krise nahen.
...Drax ließ Chatfield mit zornigem Sarkasmus wissen, die Russen hätten eine „neue Theorie des Krieges” entwickelt. Sie beabsichtigten, die Zahl ihrer Truppen in einem allgemeinen Krieg auf die von den Westmächten eingesetzte Stärke zu beschränken, was Drax als „völlig kindisch” bezeichnete. Es schien als ob die friedlichen Tage zu Ende gingen, als die Kontinentalmächte bereit waren, ihre jungen Männer in unbegrenzten Mengen der britischen Kräfteausgleichspolitik zu opfern, während die Briten sich auf eine mehr symbolische Beteiligung beschränkten. Die Russen durchschauten die britische Absicht sehr genau, einen wesentlich kleineren Beitrag in dem Krieg zu stellen, den sie 1939 zu entfesseln suchten, als sie es im 1. Weltkrieg getan hatten. Drax war wütend, weil die Russen es wagten, dieses Verhalten mit sehr realistischen und kritischen Augen zu betrachten.
Weiter schrieb Drax, Woroschilow nehme ständig die Unvermeidbarkeit eines Krieges zwischen den Westmächten und Deutschland als gegeben an. Er war sich in höchst realistischer Weise der Halifaxschen Entschlossenheit, mit allen Mitteln einen Völkerkrieg herbeizuführen, bewusst. Drax befürchtete, diese Erkenntnis werde vielleicht zum Misslingen der Verhandlungen mit Russland beitragen. Er führte Klage, die Russen würden sich begnügen, neutral zu bleiben, „während wir übrigen uns gegenseitig die Kehle durchschneiden“.
...Ausdrücklich betonte er, ein neutrales Russland würde die „Hauptbedrohung” in der Welt bilden, wenn seine Stärke durch die Verheerungen eines erneuten Krieges unangetastet bliebe. Er unterließ es, den naheliegenden Schluss zu ziehen, dass eben dieser Krieg mit und ohne die Russen zu einem solchen Ausgang führen müsste. Es grenzte schon an geradezu zügellose Arroganz und nahm Halifax die klare Sicht. In seinen fehlgreifenden Bemühungen, die britische Weltherrschaft zu befestigen, meinte er es mit jedem, einschließlich Stalin, aufnehmen zu können. Es war eine Tragödie für die englische Nation, dass seine Erbarmungslosigkeit 1939 seinen Scharfsinn weit in den Schatten stellte. Er sah überhaupt nicht, dass er mit seinem politischen Handeln nicht den britischen Imperialismus, sondern das Anwachsen des Kommunismus förderte.