Die Ursachen und Urheber des 2. Weltkriegs - Neunte Auflage (1973)
Sechstes Kapitel. Deutschlands Angebot an Polen
Weitere polnische Bestrebungen in der Tschechoslowakei
...Unter derartigen Voraussetzungen kann man die Behauptung aufstellen,
daß die Ukraine 1938 unter vier Teilungsmächten tatsächlich aufgeteilt war. Denn die Mehrheit der Ukrainer war sowjetisch. Sie zählten doppelt soviel wie die rein polnische Bevölkerung Polens. Sie lebten in der mittleren und östlichen Ukraine. Nächst Rußland war Polen mit seiner Herrschaft über acht oder neun Millionen Ukrainer der westlichen Ukraine die zweite Macht. Als dritte kam Rumänien in Frage, dem der ukrainische Abschnitt Bessarabiens zwischen dem Pruth und dem Dnjestr nördlich der Donaumündung gehörte. Im Süden der Karpathen schließlich herrschten die Tschechen über eine Million Ruthenen, die noch dem russischen Staat von Kiew aus dem Mittelalter entstammten. Die tschechische Herrschaft über Ruthenien war 1919 in Paris begründet worden. Den Polen war das immer unglaubhaft vorgekommen. Den Rumänen dagegen war es durchaus willkommen, weil sie dadurch einen direkten Landzugang zu der großen Waffenschmiede in Böhmen erhielten und Ungarn einer gemeinsamen Grenze mit Polen beraubt wurde.
...Die Polen befürchteten das Entstehen eines völlig unabhängigen Rutheniens. Den Kommunisten könnte es dann glücken, die Kontrolle über dieses Gebiet zu gewinnen. Infolgedessen würden sie in der Lage sein, vom Westen wie vom Osten her Druck auf die widerspenstige und unzufriedene polnisch. ukrainische Bevölkerung auszuüben. Kein Kenner der polnischen Geschichte und Literatur übersah die Tatsache, daß der Abstieg Polens als Großmacht in neuerer Zeit mit dem gewaltigen Aufstand der unter polnischer Herrschaft stehenden Ukrainer im Jahre 1648 seinen Anfang genommen hatte. Diesen Aufstand hatte sich Rußland mit Erfolg zunutzegemacht.