nicht genug / zu viel [prosa, drama]

Apr 23, 2011 17:14

TITEL: nicht genug / zu viel
FANDOM: Prosa
GENRE: Drama
RATING: P-18
WARNUNGEN: SVV
SUMMARY: Callie versucht zu leben, aber wenn sich zu viel angestaut
hat und das unbestimmte Etwas wieder kommt, glaubt sie, ohne Ventil zu ersticken.
GEBLUBBER: Etwa 3 Jahre alt, überarbeitete Version.


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N I C H T   G E N U G   /   Z U   V I E L

Es war bloss ein belangloser Tadel. Nichts Weltbewegendes, nichts Tragisches. Ein gewöhnliches Schimpfen, von einer Mutter, einem Vater, alltäglich. Das Zimmer nicht aufgeräumt, wieder nur gefaulenzt, das Haustier nicht gefüttert. Eltern setzen Regeln fest für ihre Kinder. Achten darauf, dass alles gut ist. Sorgen und behüten und lehren. Wollen das Beste.

Haben gewisse Vorstellungen. Für die Gegenwart, für die Zukunft.

Eltern können nicht immer über alles hinweg sehen. Sie tragen Verantwortung. Eine Mutter darf sagen, sei nicht immer so träge, hilf ein wenig mit im Haushalt. Ein Vater darf sagen, mach dir Gedanken über deinen späteren Berufsweg. Das dürfen sie. Sollen sie. Solange sie gewisse Grenzen nicht überschreiten.

Callies Eltern haben diese Grenzen nie überschritten. Es wurde manchmal lauter. Aber gerechtfertigt. Nicht schlimm. Ein aufmüpfiger Teenager stöhnt dann genervt und knallt die Tür hinter sich zu. Vergessen ist das ganze bald. Die Beteiligten besinnen sich und leben ihr Leben weiter. Bis zur nächsten kleinen Auseinandersetzung. So ist das eben. Glaubt Callie. So genau kann sie es nicht sagen. Sie ist ein Teenager, sicher auch aufmüpfig, sie stöhnt genervt, knallt mit Türen.

Dreht durch.

Ein Tadel nur also. Für Callie unerträglich. Nicht auszuhalten. Callie weiss bis heute nicht, was genau passiert. Wie es passiert. Aber es passiert, immer und immer wieder (und weil sie nicht atmen kann, wenn sie überlegt, dass es vielleicht für immer so sein könnte, verdrängt sie diese Sache zwischen jedem diesen und jedem nächsten Mal).

Mit dem Gefühl, jeden Moment platzen zu müssen, hielt Callie die Luft an - in Gedanken. In ihr veränderte sich etwas. Nicht zum ersten, zehnten oder hundersten Mal. Jeden Tag mehrere Male.

Die Worte schlugen auf sie ein. Sie versuchte, sie zu ignorieren, sie nicht an sich heran zu lassen. Die Bedeutung aber, das belanglose Tadeln im Ursprung, liess sie glauben, sterben zu müssen. Allein das Wissen, nicht so vollkommen, nicht so perfekt zu sein, dass es nichts an ihr zu bemängeln gab, trieb sie in den Wahnsinn. Trauer. Wut.

Selbsthass.

Und nach Aussen hin tat sie ungerührt. Sie stöhnte genervt, knallte die Tür hinter sich zu, tat so, als wäre ihr das Ganze ansonsten durch und durch gleichgültig.

Die Stimme, der Tadel, versiegte, die Angespanntheit ihrer Haltung blieb. Bis sie allein war. Callie wollte schreien und weinen. Dinge wahllos zertrümmern. Am allerdringendsten aber wollte sie sich selber weh tun. Sich Schmerzen zufügen, ohne zu wissen, was zur Hölle ihr das bringen würde. Sie wollte einfach (musste), war sich sicher, erst dann würde sie dieses unbestimmte Etwas, das versuchte sie zu töten, sie bestialisch zu ermorden, loswerden. Mit dem Kopf auf die Wand einschlagen, mit den Fäusten dagegen trommeln.

Sie ging in ihr Zimmer, setzte sich zitternd auf ihr Bett, stand wieder auf, wollte tun, was sie tun musste, hielt inne, setzte sich wieder hin, den Oberkörper nach Vorne und Hinten wippend. Leere schwoll in ihrem Kopf an, gab ihr das Gefühl, zu vielen verschiedenen Gedanken auf einmal nachzuhängen (fremde Gedanken, Gedanken, die unmöglich alle Callies sein konnten). Ihre Finger schmerzten, sie hatte sie ineinander verkrallt.

Etwas würde passieren.

Als sie hörte, wie jemand die Treppe hochkam, schloss sie sich im Badezimmer ein. An die Tür gelehnt, auf dem Boden sitzend, fing sie schliesslich an, lautlos zu weinen. Schämte sich so entsetzlich für ihre Person, die ihr so anders schien als sie hätte sein sollen.

Unnormal.

Das kleinste Wort verletzt sie, lässt sie taumeln (und Callie sagt sich Du bist einfach nur ein beschissenes Sensibelchen, und ist hinterher überrascht, dass ihre Abscheu für ihr Ich noch immer nicht das Maximum erreicht hat). Und dann traut sie sicht nicht, es zu zeigen. Hat die meiste Zeit ihres Leben so getan, als wäre nichts. Wollte nicht vor anderen weinen, kein Aufsehen erregen, nicht Gesprächsthema sein. Sammelte ihre Gefühle, tut es noch, versteckt sie und lässt sie unberührt, spürt sie schmerzlich pulsierend in ihrer Brust, wo sie sich vermischen und sammeln, bis das nächste unbestimmte Etwas kommt, das sie nie genauer wird benennen können.

Callie schrieb Wie stösst man einen Schrei aus, ohne dabei einen Laut von sich zu geben?, und schrieb Wie zerstört man ohne Krach eine Einrichtung?

Was Callie brauchte, war ein Ventil, um Überschüssiges loszuwerden, die Explosion zu verhindern. Ihr Verstand hatte ausgesetzt. Vom primitiven Instinkt des Überlebens angetrieben, suchte sie ziellos und fand irgendwann, irgendwo, irgendeine Rasierklinge (ihr war egal, woher sie kam, und wenn sie sich zu erinnern versucht, bleiben die Minuten der Suche stark verschleiert). Seltsamerweise war sie schlagartig ruhiger, ihre Tränen versiegten.

Sie hat keine Ahnung, was ihr in dem Moment durch den Kopf gegangen ist, ihr stets aufs Neue wieder durch den Kopf geht.

Der erste Schnitt war schnell gemacht. Mühelos. Leicht. Es war unfassbar. Kein Schmerz. Erlösung. Callies innerer Druck schwand, das Atmen ging leichter. Fasziniert sah sie auf die dünne, dunkelrote Linie auf ihrem Unterarm, war völlig gefesselt davon, wie sich Blutstropfen bildeten und sich langsam einen Weg über ihre Haut bannten. Sie schnitt erneut, ein wenig tiefer, ein wenig länger.

War wie hypnotisiert, völlig in den Bann gezogen von der Wirkung dieser einen Rasierklinge.

Es war einfach und effektiv. Ein paar Schnitte nur, und sie fühlte sich für den Rest des Tages nicht mehr ungeliebt und verabscheuenswert. Machte gelassen das Bad sauber, versteckte die Rasierklinge, gesellte mich wieder zu ihren Eltern, ausgeglichene Mustertochter, und dachte Das ist es also. Sich ritzen.

Die endgültige Bestätigung dafür, dass sie nicht normal war, ist. Normale Menschen verletzen sich nicht absichtlich.

Callie hört die Leute sagen es ist falsch.

Ritzen, das machen Menschen mit Depressionen, Menschen die sterben wollen, Menschen die in einer Anstalt landen.

Aber Callie hat nie ein einziges Mal wirklich ans Sterben gedacht. Steht auf, versucht es weiter mit Leben, und es funktioniert. Kann es dann so falsch sein?, überlegt Callie, wenn der Schlaf nachts nicht kommen will und sie alle belanglosen Gedanken und Fantasien für den Tag aufgebraucht hat. Wenn es wieder heisst, schneiden oder sterben, und ich Leben wähle, kann ich dann wirklich depressiv sein? Gehöre ich weggesperrt, weil ich meinen eigenen Körper schände?

Manchmal ist Callie wütend, so wütend, dass sie sich vorstellt, jemandem bewusst Schmerzen zu zufügen. Sie glaubt dann, es würde ihr gefallen, auf jemanden einzuschlagen. Der Gedanke ist nur für eine Sekunde in ihrem Kopf und wenn sie denkt, jetzt tut sie es, jetzt verletzt sie jemanden, dann kann sie es doch nicht. Meistens muss sie sich zurückziehen, da ihr vor Ekel und Angst darüber, dass sie vielleicht dazu fähig, dass in ihr drin vielleicht ein Monster ist, die Tränen kommen. Es gibt Momente, da will sie, dass auch andere Schmerzen fühlen, nur, weil sie selbst so oft etwas fühlt, das sie am ehesten noch Schmerz nennt und niemand etwas dagegen unternimmt. Wie im letzten Sommer, als sie rasend vor Zorn war; ihr fehlte die Beschäftigung, sie war schlechter Laune.

Aber wen kümmerte es?

(Kindisches, ich-bezogenes Miststück.)

Ihre Mutter wäre da gewesen, sie hätte bestimmt eine Möglichkeit gefunden, Callie aufzumuntern. Mit irgendwas. Stattdessen war sie einfach nur zufrieden. Ohne Callie. Sie hat ihre Mutter dafür gehasst, hat sie Callie einfach sein lassen. Also hat sich Callie gerächt, konnte nicht anders. Hat sich das eingerahmte Foto von ihrem Nachttisch geschnappt, es mit aller Wucht gegen die nächste Wand geschmettert. Weil es ein Foto von ihr und ihrer Mutter war. Weil sie den Rahmen an einem verregnetem Sommertag vor vielen Jahren selbst gebastelt hatten. Weil Callie wusste, dass es ihre Mutter traurig machte, war dieses Erinnerungsstück zerstört. Weil sie sie dafür bestrafen wollte, war sie nicht bei ihr.

Callie fügt ihren Mitmenschen keinen körperlichen Schmerz zu, aber wenn sie es braucht, findet sie immer Wege, ihnen dennoch zu schaden. Sie hat im Moment einer ihrer klaren Phasen, denn das unbestimmte Etwas ist gekommen und nun vorbei, und nur darum weiss sie, dass ihr Handeln zuweilen eigentlich verwerflich ist.

Trotzdem tut sie es. Sie haben es verdient.

Denkt sie.

Auf den weissen Kacheln trocknet langsam das Blut, die neusten Schnitte in ihrer Haut wirken selbst in ihren Augen etwas abschreckend. Über die Jahre hinweg hat sie den Druck auf die Klinge nach und nach verstärkt. Teilweise sind die Narben, verblichen, weiss, rötlich schimmernd, leuchtend purpurn, so breit, dass ich sie fragt, wie die Haut überhaupt wieder zusammenwachsen konnte. Aber irgendwie lässt sich ja scheinbar immer alles kitten. Was Callie eben noch wie das Unerträglichste überhaupt erscheint, kann schon in der nächsten Minute eine Belanglosigkeit sein, über die sie lachend den Kopf schüttelt (und dann sagt sie sich Neustart!, schwört sich, von sofort an nie wieder kaputte Momente voller Tränen des Selbstmitleids zu haben).

Callie hat sich in einer Kabine des Gemeinschaftsbadezimmers ihres Jahrgangs eingeschlossen. Damit sie nicht wieder kommen und sie nerven. Professor M. hat sich vorhin wieder einmal darüber entrüstet, dass Callie den Unterricht störe und verlangt, dass sie mitschreibe, anstatt die Tische voll zu kritzeln. Callie ist gelangweilt, Schule ödet sie an. Was soll sie Stunden mit der Lernerei verbringen, wenn sie auch so bessere Noten vorzuweisen hat als die meisten in der Klasse? Callie will sich  übergeben, wenn sie sich ansieht, wie dumm, naiv und einfältig manche von denen sind. Jules beispielsweise, sie kann nicht einmal ein Fläschchen Hustensirup öffnen wenn da eine Kindersicherung dran ist. Das muss dann Callie erledigen. Immer das Selbe. Wenn Jules eine Aufgabe im Unterricht nicht gleich versteht, unternimmt sie gar nicht erst den Versuch, selbst hinter den Sinn zu kommen. Und ständig stolziert sie umher, als wäre sie eine umwerfende Schönheit. Dabei sind ihre Augenbrauen ungleich gezupft und sie sieht total gewöhnlich aus. Wenn sie lacht und ihre Zähne zeigt, hässlich. Der sehen die Jungs doch nur hinterher, weil sie billige, aufreizende Klamotten trägt. Sie hübscht sich auf, klatscht sich Schminke ins Gesicht, fummelt an ihren Haaren rum. Nichts im Kopf, vermutlich selbst im Bett eine unbeholfene Niete. Und dann will sie Callie etwas über innere Werte, Moral und Tugend erzählen, wo sich ihre Welt nur um Schimmerpuder und Lipgloss dreht.

Als Professor M. Callie vorhin vor versammelter Klasse zusammengestaucht hat, lächelte Jules mitleidig, und Callie wollte nur noch schreien Ich habe dein beschissenes Mitleid verdammt noch Mal nicht nötig! Soll Jules doch sich selbst und ihr Fehlen von Intelligenz bemitleiden. Professor M.s Gemecker kümmert Callie nicht im Geringsten. Was kann sie denn dafür, wenn der Unterricht komplett anspruchslos ist und sie sich die Zeit deshalb lieber auf andere Weise vertreibt? Selbst wenn Callie mal in einer Prüfung schlecht abschneidet, sie weiss ja, dass sie viel besser hätte sein können, hätte sie nur halb so viel gelernt wie Jules statt gar nicht.

(Ich hätte besser sein können als ich war, hätte ich nur gewollt, ich hätte eine saubere Eins schreiben, hätte perfekt sein können, vielleicht wäre ich perfekt gewesen!)

Callie nennt Jules beste Freundin (und das nicht, weil sie sonst niemanden hätte). Aber heute hasst Callie sie. Und den ganzen Rest der Welt.

Nein, sie glaubt nur, sie würde sie hassen.

Ich sagt sich, sie könnte auch ohne Jules und die Welt.

Gleichzeitig ist sich ein Teil von ihr absolut darüber im Klaren, dass sie nur Angst hat (sie kann ohne die Leute, die sie hasst, aber von jenen Menschen verlassen zu werden, die sie liebt, wäre zu viel, als dass es sich mit Blut vergessen liesse).

In Callies Kopf ist es klar, der Druck ist weg. Sie sollte nicht so abfällig von anderen sprechen. Doch genauso oft, wie sie ihre Mitmenschen abwertet, stellt sie sie auch auf Podeste. Schöne, reichlich verzierte Podeste. An manchen Tagen erscheinen sie Callie trotz all ihrer Fehler so wunderbar und fantastisch, dass sie sie an sich drücken und nie wieder loslassen will. Möchte das Leben, möchte alles mit ihnen teilen. Ist so dankbar dafür, sind sie bei ihr. Will sie niemals missen. Ist überzeugt davon, dass Freunde immer Freunde bleiben werden.

Aber heute fühlt sie sich allein. Ist allein (allein auf die ich kann gerade nicht, wir telefonieren morgen Art und Weise, die sich unabhängig von den Umständen stets wie bitterer Verrat anfühlt). Sie behauptet, es wäre ihr egal. Blickt in den Spiegel und belügt sich selbst, schüttelt dann den Kopf und schreibt Dinge wie Sie verlassen mich, sie alle. Geben Versprechen, die sie nicht halten, sagen Dinge von Bedeutung, die wertlos sind. Sie wollen mich nicht, denn ich bin ihnen nicht genug. Ich brauche sie nicht. Sie verstehen mich ohnehin nicht. Und  während sie überlegt, wie sie Jules und die anderen bestrafen, wie sie ihnen zeigen kann, dass sie nicht ohne sie können, mit einem zerfleddertem Notizbuch und einem Stift eingeschlossen in der Toilettenkabine, stauen sich die Gefühle in ihr auf ein Neues an und warten auf den nächsten Tag, an dem sie zu zahlreich sind, um Callie ohne Ventil lebend davon kommen zu lassen.

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