Carlise spielt eine große Rolle in Twilight: Ihm ist ein eigenes Kapitel gewidmet, er hat die Familie der Cullens (und Hales) begründet, führt sie an und hat maßgeblich Edwards Handeln und Denken beeinflusst, wenn auch nicht immer zum Guten, wie ich finde.
Nachdem ich die traditionellen Werte der Cullens herausgearbeitet habe, kam mir noch ein anderer Gedanke in den Sinn: Carlisles ist das Familienoberhaupt und von Fern betrachtet, wirkt er wie ein gutherziger Patriarch. Aber ein Patriarch ist ein Patriarch.
Carlisles Vater war ein intoleranter, mörderischer, christliche Fanatiker, der viele Menschen getötet hat. Carlisle übernahm dieses Amt und führte es, wenn auch zögerlicher aus. Als er mit dem Vampirgift infiziert wurde, versteckte er sich instinktiv. Er wusste, dass sein eigener Vater ihn töten würde. Er versuchte sich selbst zu vernichten.
Carlisle ist übrigens neben Alice und Rosalie das Beispiel in der Cullenfamilie, dass Edward eigentlich davon überzeugen müsste, dass Vampire nicht per se mörderisch sind, denn auch Carlisle hat sich von Beginn an von Menschen ferngehalten und diese nicht für Blut getötet.
Warum?
- Weil Carlisle ein Christ war? Nein, denn sein Vater und er selbst haben aus ihrem Glauben heraus viele Menschen getötet (welche Ironie), weil diese etwa dem falschen Glauben anhingen oder vermeintlich übernatürlichen Wesen waren.
- Weil Carlisle von Grund auf Mitgefühl empfand? Ja, aber nicht genug, um seinem Vater gänzlich zu widerstehen. Auch Carlisle hat Minderheiten verfolgt. Er schöpft meiner Meinung nach seit seiner Verwandlung Kraft daraus, Menschen zu helfen - das ist es, was ihn weitermachen lässt. Vielleicht ist das auch seine Form der Wiedergutmachung, vielleicht war es seine Berufung, die er wegen seiner Familie nicht ausleben konnte. (Was ist eigentlich mit seiner Mutter?)
- Weil er Vampire so sehr hasst? Ich denke ja. Das ist zusammen mit seinem Mitgefühl vermutlich der Grund für die Abstinenz. Sein Hass war größer als sein Trieb - und das will was heißen.
Carlisle lebte also selbst in einer Familie, die Vampire hasste und tötete, selbst wenn ihre Opfer keine Vampire waren, sondern Menschen. Die Vampire, denen er begegnete, waren obdachlose Landstreicher und mörderisch. Da sie nur von Blut leben konnten und aktiv gejagt wurden, versteckten sie sich wie Ratten in der Kanalisation. So erklärt Edward:
„that was the way many lived“ p. 331
Den Vampiren ging es nicht gut. Ein Vampir, der ancient ist, verkriecht sich in der Kanalisation. Er ist schwach und hungrig. Ich verteidige nicht die Aktivitäten der Vampire, aber es ist nicht so, als dass Carlisle da auf die Elite trifft. Im Gegenteil er jagt die Schwachen und Verzweifelten.
CN: Suizid
Carlisle hasst(e) sich selbst. Er hält sich von Menschen fern, hungert - über Monate! (p.337) - und versucht sich auf unterschiedliche Arten selbst zu töten, was ihm jedoch misslingt. Der Hunger schwächt ihn und schließlich ernährt er sich von Rehen - der Wendepunkt, da er damit alternative Quelle erschlossen hat.
Auf Reisen
Er sucht vergeblich Gefährten und verlässt schließlich Großbritannien, um durch Europa zu reisen, wo er verschiedene Universitäten besucht. Letztlich trifft er in Italien auf die Volturi, also jener dekadenten, skrupellosen Klasse an Adligen, die mit eiserner Hand regiert und Menschen wie Vampire quält und tötet. Carlisle hält sie für zivilisiert und schließt sich ihnen an, bleibt bei ihnen über Jahrzehnte.
Ihre Ansichten über Menschen und Blut sind jedoch grundverschieden. Carlisle versucht die italienischen Vampire dazu zu bringen, von menschlichem Blut abzulassen, während sie ihn ihrerseits zu konvertieren versuchen. Edward schreibt diese gegenseitige Missionierung als:
„trying to cure his aversion to ‚his natural food source‘, as they called it“
Die Volturi empfinden Carlisles Lebensweise als unnatürlich, als eine Krankheit, die geheilt werden kann und muss. Klingt nach Konversionstherapie, nicht wahr?
Er emigriert schließlich in die USA und trifft in Chigago auf Edward.
Carlisles Bild von Vampiren ist schlecht: Selbst jene Vampire, die es sich leisten könnten, auf Menschenblut zu verzichten, tun dies nicht. Er selbst hat viele Jahre der Disziplin benötigt, um als Arzt arbeiten zu können. Ich behaupte, dass er dieses Bild weitergetragen hat. Das wird bestätigt durch einen Dialog zwischen im und Edward, als letzterer Bella durchs Haus der Cullens führt und sie in Carlisles Zimmer ankommen.
„Besides, you know the stories as well as I do“ p.336
Edward kennt Carlisle Lebensgeschichte genauso gut wie Carlisle selbst. Also haben viele Gespräche zwischen ihnen stattgefunden. Edward hat Carlisles Erfahrungen verinnerlicht und kann zu jedem Gemälde im Zimmer eine Geschichte erzählen.
Edward hat Carlisles von christlichem Fanatismus und traumatischen Erlebnissen geprägten übernommen. Deswegen spricht er auch später davon, dass er Bella auf keinem Fall die Seele stehlen wolle. Es ist Sünde.
CN: Suizid
Carlisle hätte sich im Grunde von den Volturi töten lassen können, aber sein Drang zu leben und zu helfen, war größer. Carlisle hat bereits für sich entschieden, dass er dieses Leben führen kann, wenn er es nutzt, um Gutes zu tun. Über Jahre hinweg wälzt er den Gedanken, andere Vampire zu erschaffen, er zögert, weil er nicht weiß, wie das funktioniert (und er vermutlich fürchtet, für Menschenblut anfällig zu werden). Er übernimmt damit die Gründer- und Schöpferrolle für seine Familie. Er erschafft sich Kinder und eine Frau. Das ist interessant, weil die Volturi durchaus als gottgleich wahrgenommen werden und weil ja auch Eva aus Adam geschaffen wurde.
Was ich an Carlisle immer mochte, war seine sanfte, ruhige Art. Er war Arzt, er half Menschen, er kümmerte sich um seine Familie.
Also was tun, wenn man keine gleichgesinnten Gefährten findet?
Aber wie eigentlich? Das stelle ich in Frage.
- Er hat erstens seine Familie selbst ausgewählt: Edward, Esme, Rosalie.
- Er hat Sterbende verwandelt. Hat er sie um sein Einverständnis gebeten? Nein. SteMe beschreibt es als:
Carlisle wasn’t considering age too intently, as each of these decisions was spur-of-the-moment as well as life-or-death. (
https://www.twilightlexicon.com/2006/09/19/personal-correspondence-10/)
Er hat aus der Situation heraus entschieden und hatte wenig Zeit zum Nachdenken.
Andererseits nimmt großherzig jeden auf, der sich ihm anschließen will, z.B. Emmett, Alice, Jasper oder Bella, was ich ihm positiv anrechne.
Er lehrt die neu geschaffenen Vampire seine vegetarische Lebensweise. Er ist ihnen ein Vorbild. Er akzeptiert rebellische Phasen (wie Edward sie durchlebt hat) und nimmt ihn den „verlorenen Sohn“ wieder auf. Die Familie hält zusammen. Das ist per se nicht schlecht. Aber wenn ich mit böser Zunge sprechen will, behaupte ich: Er wahrt den Anschein einer Familie, er spielt Mensch, auf Kosten aller.
Scharade
Diesen Text habe ich noch einmal überarbeitet, nachdem ich das Twilight Lexicon gefunden habe.
Die Cullens ziehen alle paar Jahre umher und geben sich als Vater-Mutter-Kinder aus. Emmett, Rosalie, Jasper, Alice und Edward gehen in die Schule, obwohl sie das wirklich nicht nötig haben. Die Cullens und Hales durchleben wiederholt ihr Erwachsenwerden. So heiraten Rosalie und Emmett zum Beispiel mehrfach (nicht dass ich dagegen etwas einzuwenden habe). Edward muss ich alle paar Jahre mit Teenagern abgeben und den Gedanken, die ihm so auf den Sack gehen
Die fünf "Kinder" fallen ohnehin schon auf (durch ihren Reichtum, ihre unmenschliche Schönheit, ihre Exklusivität), aber sie fallen umso mehr auf als dass vier der Adoptivkinder in einer Beziehung zueinander leben: Emmett mit Rosalie, Alice mit Jasper. Das ist bizarr.
Sie müssten nicht so tun, als wären sie eine Familie mit Adoptivkindern. Sie könnten sich auch einfach so als Familie ausgeben, mit erwachsenen Mitgliedern und unterschiedlichen Nachnamen.
Abgesehen von Alice treten die anderen sowieso ziemlich erwachsen auf. In Amerika darf man mit 16 Jahren Auto fahren, mit 16 ist es möglich zu arbeiten. Ob die Cullens nun arbeiten gehen oder zur Universität oder in die Highschool (der unnötigste aller Orte), es besteht keine Notwendigkeit, die Rolle von Kindern zu spielen.
Selbst wenn sie gezwungen sind, ihr Leben teils nomadisch zu führen, weil früher oder später auffällt, dass sie nicht altern oder dass kuriose Prädatoren im Wald leben,... wozu die Scharade einer Familie mit Adoptivkindern?
Ich denke, alle sieben sind ziemlich traditionelle Menschen. Sie empfinden sich als Familie und sie wollen das auch nach außen zeigen; in dieser Familie gibt es feste Rollen, die sie spielen. Diesen Preis bezahlen sie, willentlich.
Ich bin nicht die einzige, der diese Frage durch den Kopf schwirrte. Im Twilight Lexicon heißt es:
Q. Do the “younger” looking Cullens ever resent being made to act so young? It seems that going through school over and over again is a real bore for them, so I have to wonder if they might resent some of the limitations imposed on them because of their supposed ages. Is this something that Carlisle , with all of his compassion, ever took into consideration when he decided to change teenagers in to vampires?A. Carlisle didn’t change all that many teenagers into vampires. One seventeen year old, one eighteen year old (which was further past the age of adulthood in the early 1900s than it is now), one twenty year old, and one twenty-six year old.Carlisle wasn’t considering age too intently, as each of these decisions was spur-of-the-moment as well as life-or-death. After Rosalie, he wasn’t going to change anyone else. But when Rosalie begged for Emmett, he gave in, hoping that she would find some happiness with her choice. It worked out in a stellar fashion.Now to the point: The younger-looking Cullens do not resent being MADE to act young, because no one makes them do anything. It is a group choice to try to stay in a settled home for as long as possible. They are free to choose whatever age they like, but they want to make the most of their time, so they start young. (
https://www.twilightlexicon.com/2006/09/19/personal-correspondence-10/)
Dass die Cullens (und Hales) sich als Teenager ausgeben, ist eine gemeinsam getroffene Entscheidung. Ich kann also nicht alles auf Carlisle zurückführen. Aber ich kann diese Entscheidung hinterfragen.