Die Opferrolle

Jun 03, 2020 20:01

Sie ist bequem und wer benutzt sie nicht hin und wieder mal.
Aber für einige scheint sie mittlerweile eine Lebenseinstellung zu werden.
Immer sind die anderen schuld, immer ist es eine große böse Welt, die sich gegen einen verschwört, einen behindert und in seiner Entfaltung einschränkt, die einem irgendetwas wegnimmt oder vorenthält, die einen ständig ‘reinlegt und verbessert werden muss (im eigenen Sinne) - und darin: Jede Menge Menschen, die bekehrt werden müssen, die aufgeklärt werden müssen, weil sie so unwissend sind (oder gar dumm), die von einer Gruppe von anderen Menschen, die auf dem rechten Pfad sind, unterrichtet werden müssen über ihr sündiges oder einfältiges Tun, die schlichtweg durch ihr Vorhandensein und ihr Sein an sich, so wie sie sind, jemand anderem die Tour vermasseln.
Leicht gegenständlich zu machen ist die Versinnbildlichung dieser Einstellung in der kurzen Phrase „Wenn nur...!!“.
„Wenn nur...“ - Ja, wenn nur WAS?!
Oftmals geht es dabei um Gespenster im Kopf, Introjekte, die von Menschen zurückgeblieben sind, die einem im Leben mal entweder etwas angetan haben oder einen zumindest ziemlich gering geschätzt haben. Die Tür steht offen, man ist frei hindurchzugehen.
Warum aber geht man nicht durch? Wegen dem unsichtbaren Ritter, der daneben steht, um die Tür zu bewachen und jeden, der dort hindurch schreiten will, abzuschlachten?

Es ist schwer, Verantwortung für die eigenen Taten zu übernehmen - sogar die eigene Untätigkeit.
Es ist leichter, die Schuld auf andere abzuschieben, sich selbst einzureden, dass man ja doch keine Macht hatte, zu keiner Zeit, und dass sich die Welt erst ändern müsse, bevor man fähig wäre zu handeln.
Nicht nur, dass das ein bekannter Mechanismus des menschlichen Hirns ist, um Ohnmacht zu kanalisieren und zu verarbeiten, sondern auch: Es ist schön bequem und man kann bewusst faul sein.
Allen voran: Man hat immer einen Grund, auf anderen herumzuhacken, wenn sie nicht dem eigenen Willen oder den eigenen Wünschen entsprechen.
Man kann so richtig die Sau ‘raus lassen, nach Strich und Faden lästern und muss überhaupt nichts besser machen, geschweige denn überhaupt etwas tun.
Man kann der glorreiche Held sein, wenn auch nur in seinem eigenen Kopf und für die eigenen Fans, der fast einen Drachen getötet hätte. Wenn nur... ja, wenn man ihn nur gelassen hätte...

Opfer sein hat aber auch eine andere Seite der Medaille: Man erniedrigt sich stetig selbst. Schätzt sich selbst gering. Haut sich selbst in die Pfanne. Selbst wenn man es nicht einmal nötig hätte.
Das Opfer steigt auf in eine Art „Liga der narzisstischen Großartigkeit“ und ebenso in die narzisstische Unangreifbarkeit - weil, auf ein Opfer noch weiter einzutreten, das ist ja... unfair. Arschmadig. Auf Leute, die schon am Boden liegen, tritt man nicht mehr ein...
Das Opfer sitzt quasi auf einer Art unantastbarem und unangreifbarem Thron und kann sich somit jeder Kritik entziehen. Jedes Argument kann totgeschlagen werden mit „Aber ich habe Recht und ich werde verfolgt!“ („Und jetzt auch von dir!“), oder wahlweise mit einer Heulorgie, die Mitleid erzeugen soll, damit man von der Person ablässt.
Letztlich zielt dies aber auf eines hinab: Das Opfer in seiner Position zu halten, nur hier überwindet es das sonstige persönlich wahrgenommene Gefühl von Ohnmacht. Indem es sich selbst auf andere Art Macht verschafft - nicht direkt, sondern vielmehr passiv-aggressiv.
Dass dabei die eigene Würde auf der Strecke bleibt, das braucht nicht zu erwähnt werden...
Aber manchen Leuten, die diese Strategie dauerhaft benutzen, ist es auch egal. Sie empfinden keinen Schmerz dabei, wenn sie sich selbst die Würde nehmen.
Oder sie wissen ganz genau, was sie tun.

Es ist menschlich, von Zeit zu Zeit in diese Rolle zu schlüpfen, weil ein Mensch schlichtweg auch dadurch überfordert werden kann, ständig alles selbst und bewusst entscheiden zu müssen.
Und manchmal stimmt die Opferrolle ja sogar tatsächlich.
Aber, wer sie dauerhaft für sich pachtet...
Dem gesunden Menschen sollte hier die Warnung ins Gesicht springen: „Vorsicht! Energievampir!“
Etwas anderes bewirkt dieses Spiel nämlich nicht: Anderen die Zeit und die Energie zu rauben - Aufmerksamkeit, die sie, sachlich, wesentlich wichtigeren Themen widmen könnten.
Eine andere Art oder ein anderes Talent, um Aufmerksamkeit zu erlangen, außer ihrer Umgebung oder Leuten, die versuchen zunächst Empathie mit dem Schicksal des Opfers zu zeigen, die Energie zu rauben, haben diese Menschen nämlich nicht - dafür müsste man schließlich etwas tun, aktiv werden. Nicht darauf warten, dass ein undefiniertes Wunder vom Himmel fällt, welches sie dann von ihrer Agonie erlöst.

deutsch, menschen, life, self development, gesundheit, psychology, system, non-state forces

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