Kann man einen Wattebausch zerschlagen?

Sep 17, 2019 12:51


"Einen Wattebausch kann man nicht zerschlagen" las ich irgendwann als Kind oder Jugendlicher. Ein Spruch, der mich sehr geprägt hat. Lieber nachgeben, lieber nett und höflich sein und die guten Erwiderungen, von denen einem sowieso die Besten immer zu spät einfallen, herunterschlucken. Das wurde zu meiner Natur. Dazu versuche ich, grade zu Menschen, die sich mir gegenüber respektlos verhalten, ausgesprochen höflich zu sein. Früher fiel den Meisten ihr eigenes Verhalten dann auf, weil man früher sein Verhalten noch mit der guten Kinderstube abgeglichen hat. Das ist heute weniger so, sehr selten sogar.

Edel sei der Mensch,
Hülfreich und gut!
Denn das allein
Unterscheidet ihn
Von allen Wesen,
Die wir kennen.

schrieb Goethe. Kann man so stehen lassen, nicht?
Inzwischen hat sich ein neuer Zeitgeist etabliert, der Mindset der Millenials, wie man das heute nennt und worüber ich herzlich lachen mußte. Das ist eine Mode, aber leider zeigt sie Tendenzen, die sich immer weiter verstärken. Die Egozentrik nimmt immer weiter zu und Individualisierung wird positiv gesehen. Es war schon früher natürlich  so, doch inzwischen ist es auch akzeptiert und wird nicht als Gezicke (Bitch benutzen die Mädels ja inzwischen sogar als Kompliment) sozial reguliert, wenn man den Gegenüber nach seinem Nutzen und seiner Funktion für sich selbst beurteilt. Selbstdarstellung ist die Methode: Heidi Klums Hungerhaken sind symptomatisch für den Zustand dieser Gesellschaft. Sich verkaufen, sich zu prostituieren ist Lebensinhalt. Natürlich auch der Betriebswirte, Banker und Werbemanager, die vor Selbstoptimierung und -darstellung nur so strotzen. Und natürlich sind sie alle super fit und sportlich - ich meine, zum Thema Mittel und Zweck habe ich mich schon geäußert?
Das steht dem Goethe-Wort diametral gegenüber.

Im Gedicht heißt es etwas später

Nur allein der Mensch
Vermag das Unmögliche:
Er unterscheidet,
Wählet und richtet;
Er kann dem Augenblick
Dauer verleihen.

Er allein darf
Den Guten lohnen,
Den Bösen strafen,
Heilen und retten,
Alles Irrende, Schweifende
Nützlich verbinden.

Alles wichtig und richtig, was Goethe schreibt, doch ich habe die menschliche Fähigkeit, dem Augenblick Dauer zu verleihen hervorgehoben, weil es meinem Eindruck entspricht, daß in den Tag hinein zu leben dem Zeitgeist entspricht. Niemand glaubt mehr an einen richtenden Gott, dem wir am Ende unserer Tage Rechenschaft ablegen müssen. Und auch im Diesseits funktioniert es prächtig, solange wir selbst und nur toll genug fühlen. Der Zeitgeist geht davon aus: von uns bleibt nichts.




Auf dem Hohen Sand, dem jüdischen Friedhof in Worms, fand ich diesen Grabstein - und auch noch auf vielen anderen stand dieser Spruch. Und ich erinnere mich, in anderen Kulturen und früher auch bei uns galt die Erinnerung als Teil der Unsterblichkeit. Eine Strafe war, die Erinnerung an einen Menschen auszulöschen. Diese vielen Tausend Jahre an Kulturgeschichte werden heutzutage durch Herumgezicke ersetzt.

Ewig ist mein Herze nun voll Leid,
Nimmt die Lust nun solches Ende mir.
Leid ich Not und Bitterkeit,
Klein ist meine Klage;
Aber meine Tage
Hab' ich die verloren, thut mir's leid.
(Walter von der Vogelweide)

Diese Klage über die böse Welt soll nun meinen Weltschmerz ausdrücken und nicht Paranoia, auch wenn ich gestehen muß, daß sie ab und an vorbeischaut und der Weltschmerz sich in Gejammer a la Walter auslebt.

Was ist also der Zweck dieser Art zu leben? Man kommt durch, ja. Bedeutet gutes Leben, bis ins hohe Alter hinein fit zu sein? Auf einen ähnlichen Post antwortete matrixmann, er habe sich darüber noch nie Gedanken gemacht und fände es befremdlich, wenn das jemand tut. Das kam nun mir befremdlich vor. Aber es kann natürlich sein, daß es im aktuellen Zeitgeist nicht opportun ist, sich die Sinnfrage zu stellen. Gleichzeitig haben aber Ratgeber Konjunktur, Wunderheiler, Esoterik und Verschwörungstheorien sprießen wie Pilze aus dem Boden.
Die Frage, der ich mich heute eigentlich nähern wollte ist: Wie soll ich mich, als anders gestrickter Mensch, dort einbringen?
Tatsächlich fand ich es eigentlich immer erstrebenswert, anderen nach meinen Möglichkeiten zu helfen. Ich wollte mit dem Geklimper ein paar schöne Minuten schenken, meine Fotos sollten Schönheit und schöne Erlebnisse teilen, früher habe ich Briefe, Gedichte und Geschichten geschrieben - ich fand, ganz egoistisch, mehr Freude darin, wenn ich Freude teilen konnte. Auch die Arbeit für Mandolinenverein oder die Lautengesellschaft waren ja nicht für mich - ich frage mich noch heute, wie jemand erwarten kann, aus einem solchen Ehrenamt Nutzen zu ziehen. Dabei kam ich mir nie ausgenutzt vor. Was mich enttäuscht hat war immer, wenn diese Arbeit nicht respektiert wurde. Inhaltliche Diskussionen oder Kritik sind okay, solange man grundsätzlich akzeptiert, daß ich das gemacht habe, um Gutes zu tun - ein kleines positives Echo im Laufe der Zeit hinterlassen wollte.
Leider bin ich eigentlich überwiegend Respektlosigkeit begegnet. Menschen scheinen andere Menschen zu verachten, die danach streben, edel, hilfreich und gut zu sein. Der Idealtyp ist der sportliche Manager - der Steve Jobs, nicht ein Dalai Lama. Mit einem Macher ist derjenige gemeint, der Geld macht. Kreativität und Kunst wird in Geld gemessen. Etwas, was logisch unmöglich ist. Aber egal - die Aufgabe ist, sich und sein Verhältnis zum Umfeld zu hinterfragen.
Im heutigen Seelenstriptease gilt es also festzulegen, ob ich lieber Goethe folge oder dem Zeitgeist - und was ich anderen raten würde.
Letzteres ist die Aufgabe der Philosophen der Antike gewesen. Es waren ja keineswegs Schöngeister oder Menschen wie der Dalai Lama, sondern sie wurden für ihre Weisheit bezahlt.
Der Zeitgeist sagt, wir sollen fit und sportlich sein - dann leben wir länger. Wozu aber, wenn das Leben nur zum Genuß da ist. Warum nach Gran Canaria oder Australien oder sonst wohin reisen? Was ist der Nutzen? Was der Nutzen aus einer durchzechten Nacht? Oder von Partynächten? Geht es überhaupt um den Nutzen? Oder ist es Angst, etwas zu verpassen? Der aktuelle Lebensstil ist widersinnig und läßt sich kaum in eine Ordnung bringen. Es gibt einen Zyklus, dem der typische westliche Mensch folgt, aber hat dieser Zyklus eine Bedeutung? Für ihn? Für andere? Dann gibt es aber auch noch ein lineares Denken, wenn es um Karriere geht. Dort wird stringend gedacht - es geht darum, von Erfolg zu Erfolg zu hecheln. Wozu? Damit man im Zyklus außenrum mitmachen kann? Was befindet sich im Mittelpunkt? Nur man selbst! Oder? Kann so eine Art zu leben glücklich machen?
Tatsächlich verlagern viele immer noch, unbewußt, den Sinn ihres derzeitigen Tuns auf später. Man sammelt und hortet: für Später - als gäbe es einen Zeitpunkt, an dem das Leben anhält und ab dem man mit Zurückblicken beschäftigt ist. Egal, ob es Geld ist oder Erinnerungen, die man anhäuft - sie werden gesammelt für ein unbestimmtes Später. Das hat sich gegenüber unserer Eltern- und Großelterngeneration kaum geändert. Lediglich dachten die noch in Familie und nicht in reinem Egoismus. Und dieses Später wird immer weiter hinaus geschoben. Die meisten Motorräder werden von über 60-jährigen zugelassen! Inzwischen werden sich die meisten noch bis zum Beginn ihrer 70er aktiv wähnen. Auch wenn die Biologie diesem vom Wunsch getriebenen Fühlen Grenzen setzt.
Diese Art zu leben ist im Wortsinn hohl - Inhaltsleer.

Könnte ich nun meine Art zu leben jemandem empfehlen? Nur, wenn man Einsamkeit erträgt. Dann allerdings bietet sich viel Raum. Die einzige wirkliche Enttäuschung in meinem Leben sind Repektlosigkeit von Freunden und die allgegenwärtige Zurückweisung, wenn ich versuche, nett zu sein oder mich zu öffnen. Spätestens wenn ich es versuche finden mich die normalen Menschen befremdlich und gehen auf Abstand - "wie? Da interessiert sich einer für Kunst? Für Literatur? Der liest? Bücher? Und dann auch noch so komische ... merkwürdiger Typ! "  - damit muß man leben. Es wäre schön und würde helfen, nicht nur hier auf LJ über Bücher, Filme, Konzerte und andere schöne Sachen zu reflektieren. Aber wem das genügt, der lebt sicher zufriedener als wenn er ständig auf der Jagd nach neuen Sensationen ist. Die sich zudem abnutzen.
Da ich mit Goethe begonnen habe kann ich mit einem Goethe schließen, der mich ebenso seit vielen Jahren begleitet

Sei gefühllos!
Ein leichtbewegtes Herz
Ist ein elend Gut
Auf der wankenden Erde.

Dieser Ratschlag an Behrisch hilft, auf der wankenden Erde standfest zu bleiben - auch wenn das leichtbewegte Herz oft schwer ist. Ewig ist mein Herze nun voll Leid ...
Und zum Schluß, als Epilog quasi, der Rat: natürlich kann man sich im Leben treiben lassen. Doch irgendwann blickt man dann doch zurück und sucht nach dem Inhalt - egal wie man sich entscheidet - selbst wenn man am Ende bereut, eine Abzweigung im Leben falsch genommen zu haben - wichtig wird sein, daß man dort etwas findet. Etwas, was man gerne auf seinem Grabstein sehen würde und sei es "nur" so etwas




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