Ficathon:
Das WaisenhausFandom: Sherlock BBC
Prompt: [1109] Sherlock x John | Das erste Weihnachten ohne den Mann, der so lange sein Freund, Mitbewohner und eigentlich noch viel mehr war, ist überstanden und John nimmt sich zum neuen Jahr fest vor, die Vergangenheit endlich loszulassen und dafür im Hier und Jetzt zu leben.
Content Note: post-Reichenbach, also erwähnter Suizid
Neujahrsvorsatz
»Ich habe unten noch etwas Gebäck«, verkündet Mrs Hudson, während sie die Teekanne abstellt, und eilt wieder hinaus. Stumm starrt John auf den gedeckten Tisch und zählt ihre Schritte auf den Stufen, dann die Sekunden bis zum Knarzen ihrer Tür, dann wieder die Schritte. Die etwas ungleichen Abstände zwischen ihnen bemerkt er sofort, aber er zwingt sich, nicht weiter darüber nachzudenken. »Ach ja, meine Hüfte«, pflegt Mrs Hudson zu sagen, wenn er sie darauf anspricht, »ich werde ja auch nicht jünger.« Und dann schluckt sie ihre übrigen Worte hinunter und sie und John sehen sich still an, weil ihnen viel zu bewusst ist, was das bedeutet.
Es ist nicht seine Idee gewesen, dass sie sich heute bei ihm zum Tee einlädt. Aber vielleicht, denkt John, als sie einen Teller voller Weihnachtsplätzchen neben die Kanne stellt und anfängt, Teller und Tassen aus den Schränken zu holen, hätte er damit rechnen müssen. »Weihnachten ist keine gute Zeit, um alleine zu sein«, hat sie entschlossen wiederholt, wann immer er dazu angehoben hat zu protestieren.
»Gibt es überhaupt eine gute Zeit dafür?«, hat er beim ersten Mal bitter gefragt, aber der weiche, schmerzerfüllte Blick seiner Vermieterin hat ihn schnell davon abgebracht, das noch einmal zu versuchen. Sie hat nicht geantwortet, aber er weiß trotzdem, dass sie beide die Antwort kennen: Nein. Nein, für diese spezielle Art von alleine gibt es keinen passenden Zeitpunkt, und wenn John eine Wahl hätte, würde er sie nicht erleben.
Aber die hat er nicht, weil Sherlock sie ihm genommen hat. Sherlock hat auf einem Dach gestanden, eine Entscheidung getroffen und alles verändert. Und es ist nicht in Ordnung, dass es Johns Leben ist, das dabei aus den Fugen geraten ist, und es ist nicht in Ordnung, dass er manchmal nächtelang nicht schlafen kann, weil er mit jedem Herzschlag spürt, wie Schuld und Trauer und Wut sich als fester Klumpen in seinem Magen einnisten und wachsen und wachsen, bis ihm schlecht wird - aber es ist auch nicht zu ändern.
Wenn das Leben fair wäre, würde John nicht nach wie vor manchmal mit der Angst einschlafen, dass Sherlock am nächsten Morgen immer noch tot ist, und Mrs Hudson würde ihn weiterhin beharrlich daran erinnern, dass sie nicht seine Haushälterin ist, und ihn dafür schelten, dass er ihr in den letzten drei Minuten nicht zugehört hat, doch das ist es nicht. Deswegen geht Mrs Hudson einfach darüber hinweg, dass John nicht antwortet, und er kann sich ungestört einen Zimtstern nehmen, den er nicht gekauft hat, und sie beide ignorieren die Tatsache, dass niemand auf dem Sofa sitzen kann, weil dort Sherlocks Geigenkasten zurückgeblieben ist.
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Den ganzen Advent über ist John davon ausgegangen, dass Weihnachten am schlimmsten sein würde. Er hat befürchtet, dass sich jede Sekunde quälend in die Länge ziehen könnte und dass sein Blick alle zwei Minuten hoffnungsvoll zur Uhr wandern würde, nur um ihn enttäuscht feststellen zu lassen, dass es noch nicht vertretbar ist, sich zu entschuldigen und schlafen zu gehen.
Erstaunlicherweise hat er falsch gelegen. Auch wenn es schmerzt, Mrs Hudson von ihrer Begegnung mit Molly Hooper erzählen zu hören, weil Molly Hooper in Johns Kopf wohl für immer mit Sherlock verbunden sein wird, ist es erstaunlich angenehm, Gesellschaft zu haben. Er schafft es sogar, aufzutauen und selbst etwas zum Gespräch beizutragen, auch wenn es nicht viel ist, und er erkennt an Mrs Hudsons Lächeln, dass das die richtige Entscheidung gewesen ist.
Am wertvollsten bleiben dennoch die Momente, in denen er vergisst, dass das hier nicht ein Nachmittag wie alle anderen auch ist. Es fühlt sich dann weniger so an, als würde er gegen die zusätzliche Trübseligkeit an diesem Tag kämpfen, und mehr so, als wäre er dabei, sich seinen Weg zurück zur Normalität zu bahnen.
Am Ende sind es diese Momente, die dafür sorgen, dass er die Tür viel später als geplant hinter Mrs Hudson schließt und das benutzte Geschirr sofort abspült, statt es bis morgen in der Küche stehen zu lassen.
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In den ersten Minuten nach Mitternacht sitzt John auf einem Küchenstuhl am Wohnzimmerfenster und sieht hinaus. Er betrachtet das Feuerwerk, das die Nacht in unterschiedlichste Farben taucht, und fühlt sich sehr, sehr still.
Natürlich hat er den Gedanken nicht verdrängen können, dass es das erste Silvester ist, das Sherlock nicht mehr mitbekommt, und dass dieses neue Jahr das erste seit ihrer Begegnung sein wird, in dem er Sherlock von Beginn an verloren haben wird. In dem Sherlock keinen einzigen Tag mehr erleben, sondern von Anfang an tot sein wird.
Aber diese Gewissheit schnürt ihm nicht mehr brutal die Kehle zu oder lässt ihn beinah zusammenbrechen. Er ist noch weit genug davon entfernt, seinen Frieden damit geschlossen zu haben, aber nicht mehr ganz so weit wie am Anfang. Er ist auf seinem Weg, einem guten Weg dorthin, und nachdem er das erste Weihnachten ohne den Mann, der ihm Freund, Mitbewohner und vielleicht sogar etwas mehr gewesen ist, überstanden hat, spürt er zum ersten Mal, dass es nicht unmöglich ist.
Ruhig lehnt er sich in seinem Stuhl zurück, als direkt über dem Haus gegenüber grüne Funken herabregnen. Eigentlich ist er kein großer Freund von Neujahrsvorsätzen, ist es nie gewesen und wird es wohl auch nicht mehr werden. Wenn man ihn fragt, sind sie nichts als Ausflüchte, um Veränderungen nicht zeitnah verwirklichen zu müssen, und daher innerhalb weniger Wochen vergessen.
Aber - gerade jetzt, glaubt er, versteht er, warum Menschen bis zum Jahreswechsel warten, um sich all das vorzunehmen, was sie sowieso angehen möchten. Das neue Jahr bedeutet sowieso einen Neuanfang, einen erzwungenen, dem man sich nicht entziehen kann, und wer weiß, vielleicht ist es ja tatsächlich leichter, etwas zu verändern, wenn man sich sowieso umgewöhnen muss?
Einen Versuch ist es jedenfalls wert. Und es ist ja nicht einmal aufgeschoben, wenn er gerade eben erst festgestellt hat, dass er sich etwas vornehmen möchte, richtig? Also fasst er sieben Minuten nach Mitternacht den festen Vorsatz, sich nicht in der Vergangenheit zu verlieren. Der Anfang ist gemacht und in diesem Jahr, das das erste gänzlich ohne Sherlock sein wird, wird er seinen Weg weitergehen, auch, wenn es weh tut.
Ausziehen, selbst wenn Mrs Hudson ihm fehlen wird und er nicht weiß, wie er auf die Schnelle eine neue, bezahlbare Wohnung finden soll; nicht mehr so viel über die Zeit mit Sherlock nachgrübeln, obwohl sein eigener Blog und beinah all seine sozialen Kontakte in London ihn unweigerlich daran erinnern; wieder mehr unter Menschen gehen und in der Gegenwart leben. Ein merkwürdiges Gefühl der Erleichterung überkommt ihn, während er diese mentale Checkliste erstellt, und er weiß: Nicht alles davon wird einfach werden, aber das sind die Beerdigung und die ersten Wochen danach und das erste Weihnachtsfest auch nicht gewesen.
Nicht einfach bedeutet nicht unmöglich.