Jun 09, 2011 14:48
Zu Zeiten der Menschenfresserei fraßen die Starken die Schwachen, sie verzehrten einfach deren Leiber. Aber trotz der von den Menschen beschlossenen Gesetze, trotz der Errungenschaften der Wissenschaft fahren die Starken und Gefühllosen bis heute fort, auf Kosten der Schwachen, Unglücklichen und Dummen zu leben. Sie essen zwar nicht ihr Fleisch und trinken nicht ihr Blut, aber sie leben doch von ihren Entbehrungen und ihrem Elend. Die Ärmsten, die sich zuschanden arbeiten und ihr ganzes Leben in Sorge darum zubringen, wie sie sich und ihre Familie ernähren sollen, werden im Grunde genommen von ihren Mitmenschen aufgefressen. Sieht man die Agonie der zivilisierten Welt, ihre Unruhen, ihre Tränen, ihre zerstörten Hoffnungen, ihre klägliche Realität, ihre Hungersnöte und ihre Verbrechen, ihre Erniedrigung und ihre Schmach, so kommt man unwillkürlich zu dem Schluss, die Menschenfresserei sei auch keine grausamere Einrichtung gewesen, um auf Kosten anderer zu leben.
~ Mallory
[Aus: »Für alle Tage. Ein Lebensbuch« von Lew Tolstoi, S. 289]
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