Diese ganzen Menschen

May 24, 2012 00:50

Winfried Kretschmann verlässt an einem grauen Morgen sein Haus, die schwarze Mercedes-Limusine steht schon bereit, der Fahrer in der typischen grau-schwarzen Fahreruniform ohne Schulterstücke mit polizeilich anmutender Schirmmütze hält ihm die Tür auf. Herr Kretschmann lächelt zurück und antwortet mit "Guten Morgen Thomas" auf die Begrüßung durch den Fahrer und steigt in das Auto. Der Fahrer schließt die Tür, setzt sich auf den Fahrersitz und das Auto fährt los. Es fährt durch die kalten Straßen Stuttgarts an diesem abweisend grauen Morgen, wäre er verregnet, könnte man die bedrückende Stimmung besser ertragen. Der Ministerpräsident schaut aus dem Fester und friert innerlich beim Anblick der Straßen, er kann nichts dagegen tun, dass er im warmen klimatisierten Auto dennoch zittern muss. Seine Augen fallen wieder zu, er wünscht sich zurück in sein warmes Bett, zu seiner Frau und wundert sich, dass die Wirkung des Morgenkaffees so schnell verflogen ist. Für einen Augenblick beschleicht ihn sogar der Verdacht, dass das Frühstück der Kaffee, der liebevolle Blick seiner Frau im warmweiß beleuchteten Esszimmer, dass all das nicht passiert ist, das er das nur geträumt hat, dass es ja nie im Leben passiert sein kann, sonst wäre er doch nicht so müde. Aber dieser Gedanke ist schon in dem Moment verflogen, als er gekommen ist. Diese trostlosen Straßen! Diese Leere unter der Wolkendecke des schwäbischen Mai! Diese... Leere!.. Erst kurz vor dem Landtag, wo er in Kürze einer Debatte samt Abstimmung beiwohnen wird, bemerkt er, dass die Straßen leer sind. Es ist niemand da. Das Auto hält vor der Zufahrt an, die Schranke öffnet sich nicht. Der Fahrer hupt einige Male, steigt aus und schreit in die Richtung des leeren Geländes, ob denn jemand da sei. Das Glashäuschen mit dem Wachposten ist leer. Thomas steigt wieder ein und fährt vor den Haupteingang des Landtaggebäudes. Kretschmann steigt verblüfft aus, ohne zu warten, dass jemand ihm die Autotür aufmacht. Die Verblüffung ist nicht gespielt, er ist wirklich verdutzt von dem, was er sieht, nämlich niemanden. Die Müdigkeit ist schon wieder wie verflogen, die Überraschung hat eine ordentliche Adrenalinausschüttung ins Blut provoziert. Aber das Gefühl der etwas tauben Benommenheit bleibt, irgendwie steht er noch neben sich, die skurrile Situation verstärkt dieses Gefühl nur noch. Mit seinem Aktenkoffer schlapp in der Hand hängend geht er ins Gebäude hinein, niemand empfängt ihn, niemand ist drin. Er geht in sein Büro im Landtag und setzt sich an den Tisch. Im Sessel legt er seine Brille ab und reibt sich gequält die Schläfen, sein Gesicht verzieht sich, während er hofft, dass alles nur eine komische Wahnvorstellung ist, denn irgendwie real kann das ja nicht sein. Kurze Zeit später hört er Klopfen, seine Sekretärin schaut hervor hinter der Tür, die sie gerade geöffnet hat, ohne auf seine Antwort zu warten. Ihr Gesichtsausdruck ist genauso verdutzt und überrascht wie der des Ministerpräsidenten. Sie tritt ein und sagt mit etwas schwacher Stimme: "Es ist heute ein Brief für Sie gekommen... Nur einer..." Er antwortet nicht, irgendwie glaubt er, dass alles um ihn herum irreal ist, er will das jedenfalls glauben. Sie tritt an seinen Arbeitstisch und legt den Brief darauf. Es ist ein gewöhnlicher Brief, nur ohne Absenderadresse. Er macht ihn mit dem edlen Brieföffner, der auf seinem Tisch liegt, auf und nimmt das einzige Blatt Papier heraus, das drin ist, der Text ist ausgedruckt, anonym. Er liest ihn und kann seinen Augen nicht trauen. "Wir haben Ihre Bevölkerung gestohlen. Wenn Sie sie jemals wiedersehen wollen, Sorgen Sie dafür, dass bis morgen Mittag 500 Millionen Euro auf das unten stehende Konto überwiesen werden. Tun Sie nichts, was Sie später bereuen würden, wir scherzen nicht." Unten stehen Kontodaten eines nicht zurückverfolgbaren Kontos irgendwo auf den Cayman Islands oder in irgendeinem anderen gottvergessenen Steuerparadies. Als er den Brief gelesen hat, sind seine Augen schon ganz weit aufgerissen, der Mund unfreiwillig offen. So sitzt er etwa eine Viertel- bis halbe Minute da. Den Atem hält er auch unfreiwillig an. Die Sekretärin weiß nicht, was er gelesen hat und versucht durch aufdringliches Beobachten seiner Gesichtszüge etwas über den Inhalt des Briefes in Erfahrung zu bringen. Natürlich gelingt ihr das nicht, wie denn auch. Je weniger sie weiß, desto angespannter wird sie aber. Dann sagt er plötzlich mit müder Stimme nur "Die können mir doch alle gestohlen bleiben", wirft den Brief aus der Hand auf die aufgeräumte Tischplatte und lehnt sich genauso erstaunt wie zuvor zurück. An diesem Morgen hat er keine Lust auf niemanden. Heute können sie ihm alle gestohlen bleiben.
Die Sekretärin versteht nicht den Sinn seiner Worte, sie beobachtet ihn weiterhin voller Spannung und Neugierde, den Brief selbst hat sie vor lauter Anspannung schon wieder vergessen.

kreatiff

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