Ukraine
Menschen wollen die Freiheit "mit Blut" verteidigen
Die Sicherheitskräfte in Kiew gehen am Abend zum Gegenangriff über, aber die protestierenden Ukrainer wollen standhaft bleiben: "Wenn sie Menschenketten wegräumen, stellen wir anderswo neue auf."
Von Gerhard Gnauck
Foto: dpa
Im Schneegestöber stellen sich Demonstranten der Polizei in Kiew in den Weg
Kiew am Montagabend: Ein kalter Wind weht Schneeflocken über den Majdan, wo das
Camp der Protestierer steht. Wo der Platz in den Chreschtschatyk übergeht, in die breite Prachtstraße Kiews mit Schaufenstern und Restaurants, steht die erste Barrikade. Und auf der Barrikade steht unbeweglich Iwan.
Multimedia
Kiew
Regierung lässt Sondereinheiten aufmarschieren Links
"Ich stehe hier, um zu verteidigen", sagt der nicht mehr ganz junge Mann. Er hat zu Hause in Czernowitz, fast an der Grenze zu Rumänien, Frau und zwei Kinder, glücklicherweise erwachsen. Er selbst arbeitet in einer kleinen Firma, die mit Auto-Ersatzteilen handelt. "Ich habe dem Chef gesagt: Ich kann jetzt nicht mehr still sitzen. Ich muss nach Kiew. Dort wird unsere Freiheit verteidigt." Der Chef hat gesagt: Okay, wenn du musst, dann fahre. Meinen Segen hast du.
Und so fuhr Iwan Hunderte von Kilometern in die Hauptstadt. Jetzt steht er hier und hält Ausschau. "Wir werden hier stehen und verteidigen, wenn die Polizei kommt", sagt er. "Wir verteidigen uns, auch mit unserem Blut, wenn es sein muss. Und morgen kommen ja wichtige Politiker aus der EU und den USA nach Kiew, da wird es vielleicht nicht ganz so schlimm werden."
Foto: Gerhard Gnauck Kiew am Montagabend, an der Barrikade am Boulevard Chreschtschatyk: Hier versuchen Demonstranten, Provokationen gene die Polizei zu vermeiden
Foto: Gerhard Gnauck Iwan, der Angestellte aus Czernowitz, bewacht eine Barrikade am Majdan
Ein paar Schritte weiter tritt ein Demonstrant auf der Stelle, um nicht einzufrieren. Um die Schultern trägt er eine litauische Fahne, Gelb-Grün-Rot. Er ist Litauer, arbeitet in Kiew für eine deutsche Firma. "Ich lebe hier. Ich will nicht, dass aus diesem Land ein zweites Weißrussland wird, eine zweite Diktatur."
Paramilitärische Truppen stehen bereit
Ein paar Hundert Meter weiter noch eine Barrikade. Hier endet der "Perimeter", wie es heißt, das Gebiet der Demonstranten. Hier stehen Männer der paramilitärischen "Inneren Truppen" des Innenministeriums. Der Schnee schmückt ihre Helme und Kampfanzüge. Vor ihnen, nach außen, zur Stadt hin, stehen eine Reihe Demonstranten mit der Europafahne. Sie schützen die Polizei vor möglicherweise bestellten Provokateuren. Eine hübsche junge Frau versucht, einen der Polizisten in ein Gespräch zu verwickeln.
So sah es am Abend an mehreren Stellen der Hauptstadt aus. Im "Stab des nationalen Widerstands" wird zugleich auf Hochtouren gearbeitet. Arseni Jazenjuk tritt vor die Journalisten, ernst und kleinlaut wie selten, um eine Mitteilung vorzutragen: Einheiten von Polizei und Geheimdienst seien in das Hauptquartier seiner Partei eingedrungen und hätten einen Teil der Computereinrichtung mitgenommen.
Geheimdienst will Ermittlungen aufnehmen
Seine Partei "Vaterland" wird von der inhaftierten Julia Timoschenko geführt, er ist ihr Fraktionschef. Das Quartier sei besetzt, selbst Abgeordnete würden nicht hineingelassen. Das sei also der Preis, sagt der Politiker sarkastisch, für den "nationalen Dialog", den Präsident Viktor Janukowitsch für Dienstag angekündigt habe. Der Geheimdienst SBU hatte zuvor angekündigt, gegen (namentlich nicht genannte) Oppositionsführer wegen Vorbereitung zum Staatsstreich Ermittlungen aufzunehmen.
An anderen Orten ist es der Polizei gelungen,
Barrikaden und Zelte wegzuräumen. Jazenjuk verkündet als neue Taktik: "Wenn sie Zelte an einem Ort abräumen, bauen wir sie an einem anderen Ort wieder auf. Wenn sie Menschenketten wegräumen, stellen wir anderswo neue auf."
Ein schwieriger Tag für die Opposition geht langsam über in die Nacht. Nach und nach waren die Polizeieinheiten aufgefahren, während Priester auf der Bühne des Majdan Gebete sprachen.
Später wurden Reden gehalten. Am Ende gibt es wieder Rockmusik, Ethnopop, Country, italienische Schlager. Aber der Frost hat heute der anderen Seite geholfen. Ein Demonstrant sagt mit grimmigem Humor: "Väterchen Frost hat in diesem Teil Europas schon manche Schlacht entschieden."
Quelle: Reuters
08.12.13 0:36 min.Die Opposition um Boxweltmeister Klitschko und Ex-Wirtschaftsminister Jatsenjuk hat zu einer Kundgebung aufgerufen. Hunderttausende demonstrieren gegen den pro-russischen Kurs der Regierung.