PG-13
Mai 2008
Mein Nagellack splittert ab.
Nicht, dass das jetzt gleich Leben oder Tod bedeutet, aber ich habe im Moment nichts Besseres zu tun. Meine Handtasche baumelt mir tonnenschwer vom Handgelenk, drinnen stecken noch sämtliche Schulbücher, die ich der Schnelligkeit halber heute nach der Schule nicht mehr ausgepackt habe. Ich wollte meinen Zug nicht verpassen, habe dafür sogar den geplanten Nachmittag mit Alissa abgesagt.
Ich runzle die Stirn und versuche, so zu knibbeln, dass das Abgesplitterte wenigstens gleichmäßig aussieht. Sandi hat mir diesen blöden Glitter am Ende noch draufgeklatscht. Ich wusste doch, dass das Zeug nicht lange hält.
Der Parkplatz ist fast leer. Ein paar Autos sind noch geparkt, der Rest ist schon weg. Lewis wird sowieso zu Fuß gehen müssen, er hat seinen Führerschein noch nicht. Und ich, ich stehe hier, aufopferungsvoll wie ich bin und warte auf ihn.
Es ist nicht so, dass wir schon lange zusammen sind... nein. Zwei Monate sind für meine Verhältnisse noch nicht lange. Ich weiß einfach, wie man an einer Beziehung arbeiten muss. Irgendwann reicht die reine Verliebtheit nicht mehr, da bin ich realistisch... und bisher hatte ich, von allen Mädchen, die ich kenne, auch am meisten Erfolg mit dem Konzept.
Ihn muss ich noch richtig einweihen. Ich habe ihn an dem denkbar ungünstigsten Zeitpunkt überhaupt getroffen. Jetzt ist er gerade richtig groß rausgekommen, hat sein erstes Spiel von Anfang an gemacht. Ich habe es nicht live gesehen, bin mir aber auch nicht ganz sicher, ob es ihm soviel ausmacht.
Ich hole mein Handy aus der Tasche und drücke kurz auf die Sperrtaste, um nach der Uhrzeit zu schauen. Als Hintergrundbild blinkt mir Lewis und ein signierter Ball entgegen, und ich muss unwillkürlich lächeln, trotz der zwanzig Minuten Verspätung. Das schafft er fast immer: mich zum Lächeln bringen, mir gute Laune machen. Um nicht gleich zu sagen: er scheint mit der Sonne zusammen in mein Leben. So würde es höchstens Alissa ausdrücken, und auch wenn ich ihr manchmal insgeheim Recht geben muss.Vor ihm hat mir niemand um sieben Uhr früh ein Smiley geschickt, als Entschuldigung für die späte Schlafenszeit, die er mir mit seinem ewigen SMS-geschicke eingebrockt hatte. Ich habe ja noch Schule... und er beneidenswerter Weise erst am Nachmittag Training.
Außerdem gibt er mir das Gefühl, attraktiv zu sein. Und so viel man in Zeitschriften und Bravoheftchen auch davon liest, in Wirklichkeit ist das echt selten. Ich weiß also, woran ich bin... er ist, so würde Sandi sagen, ein echter Fang. Ein Hecht, aber ein Meterlanger. Und ich bin verliebt in diesen tollen Hecht, das gebe ich offen zu, wann auch immer ich gefragt werde. Deshalb stehe ich ja auch schon seit gut dreißig Minuten hier und warte, dass er sich mal aus der Umkleidekabine herauswindet, damit wir uns noch schnell einen Kaffee holen können, bevor ich auch schon wieder los muss.
Ein Mann kommt aus dem Trainingsgebäude heraus. Ich weiß nicht, ob es nur ein Funktionär ist oder doch einer der Spieler, aber ich habe die Warterei satt und frage einfach nach meinem Freund. Der Kerl ist recht freundlich, meint, dass er einer der Letzten sei und der Kleine sich heute extra beeilt hätte.
Der Kleine, so nennen sie ihn wohl. Aber wo steckt er jetzt, verdammt? Ich bedanke mich rasch und gehe dann einfach durch den Eingang, sehe mich um. Es ist sicher verboten, die Kabinen oder gar das Gelände ohne Erlaubnis zu betreten, also warte ich einfach noch ein Weile, setze mich auf einen der Sessel, die bereitstehen. Weitere fünf Minuten vergehen und langsam wird es mir zu bunt. Mit dem Handy am Ohr wähle ich den Gang rechts und blicke mich immer wieder suchend um. Niemand kommt mir entgegen, es ist scheinbar wirklich längst Feierabend.
Plötzlich höre ich eine Stimme, die mich zusammenfahren lässt. Ein Mann in Hemd und Sakko biegt um die Ecke und nimmt keine Notiz von mir, ist ganz in eine Gespräch am Handy vertieft. Ich fühle mich fast schon ertappt.
Das hier ist seine Welt... mit Fußball und Schwitzen und anderen Männern. Es ist fast schon ein bisschen so, als würde ich mich herein schleichen... wie ein Spion. Dabei besteht meine Mission lediglich daraus, ihn zu finden und mich auf ein Kaffee einladen zu lassen. Heute darf er nämlich sowas von zahlen: Ich werde mich auch nicht zurückhalten und den Latte mit extra viel Sahne bestellen.
Ich lasse mein Handy wieder zurück in die Tasche gleiten und seufze leise. Das bringt sich doch nichts, hier in diesen endlosen Gängen herum zu wandern. Ich kenne mich nicht aus und wer weiß, wie groß das Labyrinth noch werden kann. Also drehe ich mich um und gehe den exakten Weg wieder zurück. Die Türen sind allesamt aus einem neutralen, hellen Holz, nirgendwo steht auch nur eine Zahl drauf. Der dunkle Teppich dämpft meine Schritte ab. Ich denke mir Dekorationen für sie aus, Schilder die man basteln könnte und lustige Muster für die Bodenbedeckung. Sowas mache ich gerne.
Dann stutze ich. Eine Tür steht halb offen, und zur Abwechslung ist es auch klar, was für ein Raum sich dahinter verbirgt. In der Abstellkammer hat jemand das Licht angemacht und unterhält sich jetzt anscheinend auch noch laut. Es klingt fast schon wie ein Streit.
Ich will schon weiter gehen, denn ehrlich gesagt mag ich solche Auseinandersetzungen nicht und hier geht mich sowieso gar nichts an. Aber dann erkenne ich Lewis’ Stimme. Natürlich erkenne ich Lewis’ Stimme, er ist mein verdammter Freund. Und er streitet sich, ich kann richtig die Wut hinter seinen Worten vibrieren hören. Atemlos bleibe ich stehen, kneife die Lippen zusammen.
Bei der zweiten Stimme brauche ich ein bisschen länger. Ich glaube, es ist einer seiner Kumpels aus der A-Jugend, Chris. Ja, das könnte gut sein... warum zum Teufel lösen die ihre Konflikte in Besenkammern? Und was macht Chris überhaupt hier? Viel weiß ich ja nicht über den Verein, aber dass das Training von den Jugendmannschaften nicht parallel zu dem von der ersten Mannschaft ist ... außer, sie haben ihn auch befördert. Weil’s mit Lewis ja so gut geklappt hat.
Ich mache einen halben Schritt vorwärts und schaue durch den Türspalt in die Abstellkammer hinein. Die schwache Lampe erleuchtet den kleinen Raum nur bedingt, aber ich sehe es, sehe es ganz genau, als Chris einen Schritt nach vorne macht und Lewis hart an der Schulter packt. Er sagt etwas, vonwegen das ganze sei ein Scheißdreck. Lewis ruckt sich nicht minder wütend frei und entgegnet, dass er ja keine Ahnung habe, dass es so besser für alle Beteiligten sei. Ich verstehe nur Bahnhof, will schon die Tür öffnen und auf mich aufmerksam machen... Da macht Chris noch einen Schritt vorwärts und küsst Lewis auf den Mund.
Noch in der selben Sekunde gehe ich automatisch nach hinten, so lange, bis ich die gegenüberliegende Wand am Rücken spüre. Ich spinne nicht und meinen Augen geht es gut. Nein, ich habe mir nichts eingebildet.
Als ich wieder aufsehe, stehe ich im Eingangsbereich und werde von einer Putzfrau gefragt, ob ich etwas bestimmtes suche. Daraufhin schüttel ich nur den Kopf, lasse mich auf eines der Sofas fallen. Muss keine zwei Minuten warten, da kommen sie auch schon, mein Freund und... ja, sein Freund. Sie gehen in einem gehörigen Abstand hintereinander her und Lewis gibt mit sofort einen Kuss auf die Wange, entschuldigt sich für die Verspätung. Sein Kumpel Chris bleibt einige Meter neben uns stehen und aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sein Mundwinkel kurz aber merklich zuckt. Dann verabschiedet er sich, einfach so mir nichts, dir nichts, winkt kurz und verschwindet aus der Tür. Ich halte Lewis Hand in meiner und registriere mit voller Intensität, wie sich sein Kopf ein Stückchen zur Tür dreht, wie seine Augen kurz in Richtung Chris flackern.
Ich kann seinen Blick nicht deuten und er wird es mir nie sagen. Genauso wie ich nie erwähnen werde, was ich an diesem Nachmittag gesehen habe. Aber das weiß ich jetzt noch nicht, bin für den Moment völlig verzweifelt, ratlos.
Drücke nur seine Hand.