PG-15
November 2006
Ich lehne mich etwas zurück, rubbel dabei weiter durch meine nassen Haare.
In der Umkleidekabine wird immer alles so grässlich feucht und glitschig, sobald die ganze Truppe einmal unter der Dusche war. Dafür ist der Raum angenehm warm, keiner hat es sich nehmen lassen, das Wasser bis zur höchsten Stufe durch zu drücken. Ich mag Winter, ist fast schon meine Lieblingsjahreszeit. Nur der Schnee kann auf dem Feld ein bisschen lästig werden. Heute ist Luca bei einer Ballannahme seitlich weggerutscht. Muss wohl pausieren, so wie das Bein angeschwollen war.
Ansonsten ist das Team vollständig. Ich kenne die Jungs inzwischen schon ganz gut, dafür, dass sie uns erst vor drei Monaten neu zusammengewürfelt hatten. Aber so ist es halt bei den U-Mannschaften. Blöd, wenn man dann den besten Freund im Team hat und der gleich in der Winterpause ein neues Angebot kriegt. Die Scouts sind viel aktiver, als dass man es für normal halten könnte. Jeder verdammte Ansatz von Talent wird analysiert und durchdiskutiert und ...was weiß ich noch alles.
Fabi sitzt neben mir und liest ganz in sich versunken eine SMS, vermutlich von seiner Freundin. Marius unterhält sich mit Wolle und wedelt dabei wie immer heftig mit den Armen. Der andere hat kaum Zeit, etwas anderes zu tun als nicken und atmen. Man, der Spanner. Aber echt in Ordnung, wenn man ihn ein bisschen länger kennt. Er ist halt einer der Ausnahmen, mit ihm spiele ich nun schon seit knapp zwei Jahren zusammen.
Genauso wie Lewis, der gerade krebsrot aus der Dusche kommt. Wenn ich mich nich ganz irre, ist er in den zwei Jahren keine drei Zentimeter gewachsen. Zwergenmaße, damit ziehe ich ihn immer besonders gerne auf.
Ich schleudere mein Handtuch auf das Stück leere Bank neben mir und treffe dabei unabsichtlich Chris, der sich gerade frische Socke anzieht. Ich entschuldige mich und frage ihn, was er für die Woche noch alles vorhat. Reine Höflichkeitsfloskel. Er ist ein netter Kerl, aber bis jetzt habe ich mich noch nie so wirklich mit ihm unterhalten. Ich weiß nicht mal, von welchem Verein er zu uns gewechselt ist. Irgend so ein Dorfklub.
Unsere Koversation hält nicht lange an und ich widme mich bald wieder meinen Anziehsachen. Meine Sporttasche ist unordentlich wie immer. Ein entscheidender Nachteil, wenn man sich rasch und effizient saubere Klamotten heraussuchen will. Ein Versuch, mein Hemd herauszuziehen und schon segelt ein fleckiger Strumpf richtung Boden und bleibt gleich in einer Pfütze neben Chris’ Schuhen liegen.
Ich tippe ihm auf die Schulter, doch er reagiert nicht. Eigentlich ist er längst fertig, muss sich nur noch die Jacke schnappen und die Schuhe anstreifen, aber er sitzt einfach da und guckt ins leere. Ich sage leicht zögerlich seinen Namen, doch er scheint mich nicht zu hören.
Plötzlich dreht sich sein Kopf, aber nicht wegen mir. Lewis ist aufgestanden, um Marius eins mit dem Handtuch auszuwischen. Er lacht und springt quietschend davon, als er eine Ladung Wasser aus der Sportflasche über den Pulli gespritzt bekommt. Echt, wir sind manchmal ein großer Haufen Kindsköpfe, weiter nichts.
Dann schwebt mein Blick zurück zu Christoph. Er sitzt immer noch da, schaut dem Herumgealber zu und grinst leicht. Seine Augen sind auf Lewis geheftet. Oder... auf jemand anderen, vielleicht. Ich schüttel den Kopf und klopfe ihm diesmal erbarmungslos fest auf die Schulter, zeige auf meinen Strumpf. Er beugt sich und fischt ihn für mich hoch, fängt dann an, sich in echtem Schneckentempo die Schuhe zu binden. Eine Schleife macht er sogar zwei Mal.
Dabei schaut er immer wieder hoch, in Richtung... ja, in Richtung Lewis.
Nun sehe ich den Kleinen auch an. Er trocknet sich die Haare gerade in Windeseile, kann gar nicht schnell genug in seine Jeans kommen. Seine Augen flackern nur ganz kurz zu uns herüber und er grinst leicht, als er meinen Blick bemerkt.
Die Ersten sind inzwischen fertig geworden und die Kabine leert sich ein wenig. Ich muss nach Hause, meine Mutter hat heute irgendwen eingeladen und will, dass ich rechtzeitig beim Tischdecken helfe. Aber ich bleibe vorerst sitzen und tue so, als ob mein Handy dringend ein neues Hintergrundbild braucht. Der Tivoli vom weiten, zum Beispiel. Ist viel schöner als mein Hund.
Aus dem Augenwinkel beobachte ich Chris, der nun an seinem Jackenärmel herum fummelt. Lewis fährt sich ein paar Mal durch den Schopf und fängt an, seine Sachen wahllos in die Trainingstasche zu stopfen.
Mattes ruft nach mir. Eigentlich haben wir so ziemlich den selben Heimweg, und nach einem zögerlichen Nicken stehe ich auf und folge ihm.
Draußen hat es wieder angefangen zu schneien, auf dem Gelände brennt längst kein Licht mehr. Es ist stockfinster. Mattes beginnt sofort, irgendwas von einem neuen PS2 Spiel zu erzählen, das er zu seinem Sechzehnten bekommen hat. Ich höre nur mit halbem Ohr zu. Die Schneeflocken fliegen mir gegen das Gesicht und die plötzliche Kälte ist fast schon wie ein Warnsignal.
Ich sage Mattes, dass er ruhig mal vorgehen soll. Ich hätte mein Handy vergessen. Er verspricht mir, bei der Bushaltestelle auf mich zu warten. Der Angsthase, will nicht alleine durch den Wald gehen. Aber wir beide haben eben das Los, in solchen Käffen zu wohnen.
Ich renne fast schon ein bisschen, rutsche über den festgetretenen Schnee. Ich ziehe mir meine Mütze tiefer ins Gesicht und drücke die Seitentür von dem grauen Gebäude auf, gehe hastig durch die Gänge, schnurstracks auf unseren Kabinentrakt zu. Mein Handy spüre ich in der Hosentasche. In der Brust droht mir das Herz vor lauter Pumpen zu platzen.
Tatsächlich brennt noch Licht. Meine Schritte werden automatisch leiser, ganz sanft, so langsam ich kann, drücke ich die Tür noch einen Spalt weiter auf.
In dem vertrauten Raum ist eigentlich alles wie immer. Flaschen liegen auf dem Boden herum, vergessene Kleidungsstücke, vereinzelte Schuhe und sowas... dann erkenne ich zwei niedergelegte Trainingstaschen.
Mein Herz ist inzwischen stehen geblieben, doch ich mache trotzdem einen kleinen Schritt weiter vorwärts.
Chris hat eine Hand auf Lewis’ Nacken gelegt, sie stehen eng umschlungen. So kenne ich den Kleinen gar nicht. Er ist ganz still, reckt sich ein bisschen, um sich der Größe anzupassen. Der Kuss ist fast schon innig. Fast schon filmreif. Nur ohne Action, so, als hätte man auf die Stoptaste gedrückt. Dann lösen sie sich voneinander. Lewis macht rasch einen Schritt nach hinten und schaut sich ein paar Mal im leeren Raum um. Schnell ziehe ich den Kopf ein, sehe nun nur noch ein halbes Bild. Chris, der Lewis kurz und wortlos über die Wange streicht, dann gedämpfte Stimmen.
Ich gehe einen Schritt rückwärts, höre Christophs tiefere Stimme etwas sagen. Vonwegen, es sei schon spät und sein Zug würde bald fahren.
Dann drehe ich mich um und gehe rasch wieder den Gang hinunter, fange an zu rennen, sobald ich wieder in der Kälte bin. Laufe den ganzen Weg entlang, rutsche ein paar Mal aus. Sehe dabei immer wieder dieses Bild vor mir. Es ist verdammt seltsam.
Mattes lehnt eingemummt an der Bushaltestelle und beschwert sich sofort bei mir. Wir hätten den Bus verpasst und müssten nun wieder zwanzig Minuten warten. Ich entschuldige mich und eine Millisekunde lang will ich es ihm erzählen. Ihm und der ganzen Welt, nur damit es kein Geheimnis mehr ist, das mich für die kommenden zwei Jahre belasten wird.
Bis zu Lewis’ Transfer. Bis zu Chris’ Transfer. Gemeinsam, zu Schalke.
Aber jetzt weiß ich noch nichts davon. Atme nur.
Atme die Schneeflocken ein.