Titel: Mögliche Welt: Freund
Pairing: Mats Hummels/Neven Subotic
Rating: P-16
Anmerkungen: Und das ist der dritte Teil. Ich habe mir ernsthaft überlegt, ob ich diese Geschichte weiterführe - aber mich dann doch dagegen entschlossen. So ist sie am schönsten, für mich zumindest.
(2006)
Mats tut der Nacken weh.
Die Anzeigetafel verschiebt sich andauernd und die Lichter, hoch oben an der ausladenden Decke, sind geschäftlich grell. Hier geht das Licht nie aus - vierundzwanzig Stunden lang, rund um die Uhr, ohne Pause. Auf den leicht verdunkelten Fensterscheiben kann er wiederholt das Logo der Lufthansa gespiegelt sehen. Dahinter streckt sich die undefinierbare Farbe des frühen Morgenhimmels, ein unauffälliger Grauton, der an Ecken und Ende in wärmere Töne übergeht.
Heute soll das Wetter schön werden. Pünktlich zum Countdown, pünktlich, ja, so sind sie angeblich nun mal, die Deutschen. Und bei dieser WM muss auch das Wetter mitspielen, das ist fast jedem, der sich je mal die Fahne auf die Backe geschmiert hat, anzusehen. Alles so, wie es sich gehört - keine Wasserschlachten mehr. Und schon gar nicht in Frankfurt.
Pünktlich ist vieles, aber Nevens Flieger gehört nicht dazu. Die Anzeigetafel verschiebt sich wieder, die grünen Letter blinken leise. Oder blinzelt er nur selber? Mats muss ein Gähnen unterdrücken, legt den Kopf zurück und hört es unangenehm im Genick knacken. Unchristliche Zeiten sind das. Aber so ist das nun mal, hört er Marcel in seinem Kopf sagen. Fernbeziehungen fressen dich auf, psychisch, physisch, finanziell... Alles, was das Herz begehrt. Und den Schlaf rauben sie dir erst recht. Aber Marcel hat auch gut reden - im Vergleich zu Florida ist Magdeburg ein Katzensprung. Nicht mal erwähnenswert.
Es ist ja nicht so, als ob er nicht seine Zweifel gehabt hätte. Das Treffen, das Wiedertreffen, die lauwarme Sonne, ... all das ist nichts, woran man sich normalerweise festhält. Doch es hat gehalten. Ein bisschen über zwei Jahre hat es gehalten, bis jetzt. Und es wirkt immer noch stabil.
Erst letzten Mittwoch hat Mats seinem Skype Account ein Upgrade verpasst, bessere Bildqualität, billigere Anrufe ins Ausland. Den Neven den er nun vor dem geistigen Auge hat, ist immer in einen Bildschirm gequetscht. Im Hintergrund zuerst sein Schrank mit dem alten Playboy Poster, dann, nach dem Umzug, ein halbleeres Regal. Mats hat miterlebt, wie sich das Regal über die Monate gefüllt hat. Und mit jedem neuen Objekt kam es ihm so vor, als sei es schon immer da gewesen.
Seine Mutter hat sich nach langem hin und her zu ihm an den PC gesetzt, um endlich diesen mysteriösen Serben kennenzulernen, der ihrem Lieblingssohn so den Kopf verdreht hat. „Der Bart,“ hat sie danach lippenschürzend festgestellt. „Der sieht äußerst unappetitlich aus.“
Mats hat nur mit den Schultern gezuckt. Der Bart ist ihm egal. Die Sprachbarrieren sind ihm egal. Sogar der Atlantik zwischen ihnen ist ihm egal. Das ist Neven, und auch wenn das niemand begreifen will. Neven ist Neven.
„Alter, du hast ihn in den zwei Jahren kein einziges mal gesehen.“ Marcel hat sein Bier betont langsam geschlürft und die Augenbrauen vielsagend hochgezogen. Und Mats wusste, worauf er hinaus wollte - das kann doch nicht gut gehen. Zwei, die sich eigentlich so gut wie gar nicht kennen: Ein paar Monate als Teenager im Rheinland, ein paar Monate als Studenten in Florida. Dazwischen nichts als leere. Und jetzt soll das funktionieren?
Marcel kann ein pessimistisches Arschloch sein, das weiß Mats. Aber ein paar von denen braucht man eben immer im Leben.
Die digitale Uhr springt auf zehn nach halb fünf. Inzwischen ist der Flieger sicher schon gelandet. Weitere zwanzig Minuten bis das Flugzeug steht. Dann mindestens eine Stunde bis das Gepäck geholt werden kann. Warum ist er nochmal so früh aufgestanden?
Mats reibt sich die Schläfe und kneift kurz die Augen zusammen. Weil er nicht schlafen konnte, war doch klar. Weil ihm das Herz immer wieder bis in die Kehle gesprungen ist, sobald er sich getraut hatte, an den leibhaftigen Neven zu denken. An den blassen Jungen, der im Rasen sitzt. Die Sonne im Gesicht. An den schweren Arm, der über seine Mitte geworfen ist, die fremde Matraze unter ihm. Die nassen Strähnen an seiner Wange. Und nicht der Neven auf seinem Bildschirm.
Den hat er fast tagtäglich gesehen, über die letzten zwei Jahre, Internet sei Dank. Aber es ist anders, natürlich ist es anders.
Neben ihm setzt sich eine Familie mit zwei Kleinkindern und einem Baby hin. Urlaub, Stress, Elternsein. Die Kinder sind es sichtlich nicht gewohnt, um die Uhrzeit auf zu sein und quengeln nach den verschiedensten Sachen. Mats schließt kurz die Augen und kreuzt die Arme vor seiner Brust.
„Wenn es das ist, was du willst, mein Schatz.“ Seine Mutter hatte ihm nach den zwanzig Minuten auf Skype die Hand auf die Schulter gelegt und gelächelt. So, wie es nur Mütter können. Der Bart gefiel ihr trotzdem nicht.
Und irgendwie, irgendwie kann Mats spüren, dass mehr dahinter ist. Dass seine Mutter ihn gerne in einer Beziehung mit vorhersehbarem Ausgang gesehen hätte. Kirchlich heiraten. Enkel. Viele Enkel.
Neben ihm bricht eines der Kinder in Tränen aus und Mats schüttelt innerlich den Kopf. Sich darüber Gedanken zu machen ist sinnlos.
Inzwischen ist die Sonne halb aufgegangen. Der glatte, schwarze Steinboden der Wartehalle reflektiert das glühende Licht und Mats kneift für einen Moment die Augen zusammen. Er sitzt so ungünstig. Und nach einer durchwachten Nacht fällt es ihm schwer, die geschlossenen Lider wieder zu heben, um einen Blick auf die Digitaluhr auf der Anzeigetafel zu werfen. Er hat sowieso noch Zeit. Ewig Zeit, bis Neven sein Gepäck hat. Und es ist ja nicht wenig. Sachen für zweieinhalb Monate. Monate, die ihm zweieinhalb Jahre Skypen wieder aus den Knochen brennen soll. Neven auf seinem Bildschirm. Neven beim Fußballspielen. Neven am Telefon. Neven neben ihm, mit der Nase in seiner Halsbeuge. Alles so irreal, so vermischt. Kann das klappen?, fragt Marcel in seinem Kopf, dann kippt er sein Bier und Mats’ Kopf kippt nach hinten. Er schreckt hoch und flucht leise. Die Familie neben ihm ist weg, überhaupt ist der Saal viel heller, sonnendurchfluteter. Nicht mehr diese künstlich-grellen Lichter. Eine Frauenstimme lässt nach einem Fluggast rufen. Boarding, please.
Und Mats reibt sich die Augen, wendet sich zur Anzeigetafel und...
Ja. Da steht er schon. So, als hätte Mats die Wartezeit mit einem magischen Zeitsprung überbrückt. Neven sieht genau so aus wie vorgestern, als Mats mit ihm zum letzten mal über die Webcam gesprochen hat. Und doch irgendwie anders. Ganz anders, völlig anders.
„Hey.“
„Hi.“
Übers Internet hatten sie immer viel gesprochen. Über Gott und die Welt. Mats hatte in sein integriertes Mikro Sachen geflüstert, die er sich nie zugetraut hätte. Doch jetzt gehen ihm die Worte aus. Anscheinend ihnen beiden, denn Neven schaut ihn nur an, mit einer Hand auf seinem Koffer.
Dann lässt er ihn stehen und reicht Mats die Hand, ganz förmlich, so, als wären sie neue Geschäftspartner oder entfernte Verwandte, die sich zu Tante Agnes Achzigsten gezwungenermaßen kennenlernen müssen. Mats fühlt sich leich gelähmt. Er spürt sein Herzklopfen, bildet sich sogar ein, es zu hören, über die ganzen Ansagen und Stimmen hinweg.
Sein inneres Auge zeigt ihm die vorwurfsvollen Blicke seiner Mutter. Sie misstraut dem Internet. Und eine Beziehung, die mittels diesem geführt wird, ist de facto keine. Das sagt ihm ihr Blick, wann immer er von Neven berichtet.
„Ich glaube, das ist normal.“
Rasch hebt Mats den Kopf, um Neven anzusehen. „Was?“
„Das hier.“ Eine Geste, die sie beide umkreist und sich dann zwischen ihnen festsetzt. „Die letzten beiden Male sind wir uns begegnet. Diese Mal haben wir geplant.“
Mats nickt nur. Es stimmt. Als er Neven zum ersten Mal sah, war er noch ein halbes Kind. Kinder denken nicht lange nach, die finden sich und bleiben zusammen. In Florida lief er Neven über den Weg, ohne ihn zu suchen... nun ja, innerlich hatte er schon gesucht. Immer wieder, überall. Aber der Zufall hatte sie zusammengeführt. Diesmal haben sie die Zügel in der Hand.
Mats sieht Neven an. Es ist merkwürdig, wie gut man eine Person kennen kann, ohne sie öfters erlebt zu haben. Aber alles an Neven ist ihm vertraut, von der Haarsträhne hinterm Ohr bis zu den alten Turnschuhen, die er für den Flug angezogen hat. Und irgendwie doch nicht.
„Was ist jetzt?“ Neven klappt seine Sonnenbrille auf und setzt sie sich auf die Nase. Ohne die musternden Augen fühlt sich Mats fast schon wohler. In seiner Brust zieht sich etwas zusammen, es tut nicht weh, aber wie sooft an diesem Morgen - irgendwie doch.
„Klar, los gehts.“
Sie schweigen die Fahrt über. Mats alter Opel fährt sie brav über die A3, immer dem klaren, wolkenlosen Himmel entgegen.
Sie könnten über die bevorstehende Weltmeisterschaft reden. Über Nevens Arbeit und Mats’ Studium. Über Vergangenheit und Zukunft und verdammt nochmal, die Stille der deutschen Autobahnen sitzt wie festgenagelt zwischen ihnen.
Sie ist auch immer noch da, als Mats Nevens Koffer in seinem schmalen Flur abstellt und in die Küche geht, um etwas zu trinken zu holen. Marcel ist in Magdeburg, mal wieder. Ein Katzsprung, denkt Mats, und irgendwie schmeckt das unausgesprochene Wort bitter auf seiner Zunge.
Neven sitzt im Wohnzimmer und fummelt an der Fernbedienung herum. Mats stellt ihm eine Cola vor die Nase und bleibt unschlüssig stehen. „Willst du noch ne Runde schlafen? Was essen? Die Stadt sehen?“
Neven nimmt einen Schluck Cola, steht dann wieder auf. Und plötzlich schmeckt Mats die Sonne Floridas, so wie Neven ihn ansieht.
Dann geht alles ganz schnell.
Ein paar Nanosekunden später wacht Mats auf, weil ihm das Laken unbequem am Rücken klebt. Die Sonne strahlt und die Rollos sind nicht heruntergelassen. Neven liegt in einem seltsam schrägen Winkel zu ihm, die Füße hängen fast von der Bettkante, ein Arm ist gestreckt. Seine Fingerspitzen berühren ganz leicht Mats’ Taille. Fast so, als würde er ihn im letzten Moment vom Wegfliegen hindern wollen.
Es ist seltsam, ihn so zu sehen. Mats ist es gewohnt, morgens aus dem Bett zu springen und zum PC zu hasten, um Neven noch schnell zu erwischen. Verfluchter Zeitunterschied. Nun sind sie in der selben Zone. Im selben Bett.
Neven war bis jetzt immer eine Erinnerung. An Sonne und Wiese. An Strand und Meer. Ein tägliches Aufleuchten auf seinem Computer. Mats fährt sich ungeduldig über das Gesicht, spürt das ruhige heben und senken der flachen Brust. Dann schmiegt er sich näher an den Körper neben sich, will mehr fühlen. Und kann es dann doch nicht definieren.
Als sich Neven endlich ausgeschlafen hat, ist es schon später Nachmittag. Der Tag vergeht im Handumdrehen, so auch die Nacht.
Mats gewöhnt sich nicht daran, neben ihm aufzuwachen. Auch nicht, als Marcel wieder da ist und Neven die Hand gibt, sich mit ihm auf mäßigem Englisch unterhält. Trotzdem atmet Mats auf, als er bemerkt, dass die beiden sich gut verstehen. Natürlich tun sie das - Neven ist ein cooler Typ. Das hat sich Mats damals schon gedacht, bei ihrem ersten Zusammentreffen. Als Neven den Ball so mühelos über die Schulter lupfte, an diesem Sommermorgen vor sieben Jahren.
Sie grillen in Benedikts Garten als Phillipp Lahm gegen Costa Rica das erste Tor dieser Weltmeisterschaft schießt. Bierflaschen werden gehoben und Gabeln mitsamt Bratwürsten geschwenkt. Neven grinst nur und klopft dem Nächstbesten auf den Rücken. Nachher erzählt er Mats, dass er diesen Enthusiasmus vermisst hat. Fußball in Europa ist einfach anders als in den Staaten.
Mats zeigt ihm Köln, zeigt ihm Bonn, zeigt ihm jede Sehenswürdigkeit in Nordrheinwestfalen, die ihm nur annähernd sehenswürdig erscheint. Er will sie auf Trab halten. Will nicht die Stille zwischen ihnen haben. Nur zum Fußballgucken stoppen sie. Und Neven macht mit.
Sein Blick ist nie abweisend, aber doch anders. Natürlich, anders. Alles ist anders.
Serbien und Montenegro spielt in Gruppe C und verliert jedes einzelne Spiel in der Gruppenphase. Mats setzt sich mit Neven in eine Kneipe voller serbischer Fans und schaut sich das katastrophale 0:6 gegen Argentinien an. Die Atmosphäre ist aufgeheizt, hier und da bricht Streit in der jeweiligen Landessprache aus, und Neven, Neven starrt auf den Bildschirm und schweigt wieder.
Dann geht er doch zur Bar und unterhält sich. Mats schluckt sein obligatorisches Bier und sieht zu, wie Neven mit den Händen Linien durch die Luft zieht. Krampfhaft versucht er sich an die paar Wörter zu erinnern, die er damals auf Serbisch konnte.
Sie fallen ihm nicht ein.
„Hab ich dir mal von Milo erzählt?“
Mats liegt neben Neven auf dem provisorischen Schlafplatz, den sie bei einem Freund Marcels zugewiesen bekommen haben. Einen riesen Garten hat der. Genau richtig für das Achtelfinale gegen Schweden.
Mats stämmt sich ein wenig hoch. „Klar hast du das. Dein Hund.“
Neven blickt an die fremde Wohnzimmerdecke. „Ich hab ihn als Welpen geschenkt bekommen. You know, der Mann wollte die Hunde loswerden. Wer versorgt im Krieg auch noch Hundewelpen?“
Mats versteift sich leicht. Draußen hören sie lautes, angeheitertes Lachen. Bei den Nachbarn gehts noch bunt zu. „Ja.“ Meint er nur.
„Inzwischen ist er tot. Kein Hund lebt so lange.“ Neven dreht sich wieder auf die Seite, kehrt Mats den Rücken zu. Und der traut sich nicht, eine Hand auf die steife Schulter zu legen.
Das Viertelfinale gegen die Argentinier schauen sie bei Mats’ Eltern. Ein Zusammentreffen im kleineren Kreise, hat seine Mutter übers Telefon verkündet. Das Wetter ist strahlend und die Holzkohlen stapeln sich neben den Steaks und Würsten. Ein Onkel ist mitsamt Familie da und irgendeine Cousine. Mats kommt etwas früher an um am Grill zu helfen.
„Ich weiß noch, wie du ihn damals mitgebracht hast.“ Meint sein Vater nur versonnen mit einem Blick zu Neven, der einen Kasten Bier aus der Küche schleppt. „Nimms deiner Mutter nicht zu übel, Junge.“ Und dann greift er nach dem Zündholz, ganz so, als wäre damit das Gespräch beendet und die Sorgen aus der Welt.
Das Spiel ist zäh und die Spannung groß. Als Miroslav Klose zum Ausgleich trifft, muss sogar Neven jubelnd die Faust ballen. Mats legt ihm kurz einen Arm um die Schulter und merkt, wie seine Mutter zu ihnen herüberschaut.
Es geht in die Verlängerung und auf einmal ist Neven verschwunden. Mats reißt sich vom Bildschirm los und verdreht sich den Hals. Dann lässt er sein Bier stehen und geht ein wenig durchs Haus.
Oben, in seinem alten Kinderzimmer, findet er Neven. Sitzend, auf dem Boden, die Augen auf eines der verblichenen Fußballposter fixiert.
„Weißt du, was ich jetzt gerne machen würde?“
„Was?“ Mats setzt sich zu ihm und hört den Kommentator durchs offene Fenster herauf erregt aufschreien. Er blickt Neven ins Gesicht und erschrickt ein bisschen. So sieht keine Fußballlaune aus.
„Diese eine Sportschule, gibt es die noch?“
„Klar gibt es die noch.“ Mats spürt etwas Schweres in der Brust.
Und dann gehen sie los.
Um sie herum tobt das Fußballspiel. Aus jedem Haus ist der Fernseher zu hören, die Straßen sind wie leer gefegt. Mats geht den alten, vertrauten Weg entlang, geht die Abkürzung durch die Reihen von Schräbergärtchen. Neven ist still, sogar seine Schritte hört Mats kaum. Dann klettert er über den Zaun, der inzwischen schon etwas wacklig ist und landet leichtfüßig. Das konnte er schon immer gut.
Die Sportschule und das Gelände rundherum, der Sportplatz, alles... nichts hat sich verändert. Bis auf ein paar extra Graffitis an der Wand hätte die Zeit hier stehenbleiben können. Die Büsche sind grün wie vor sieben Jahren. Der Himmel strahlt blau. Und Neven steht genau dort, wo er mal stand, als Siebzehnjähriger, mit Mats’ Ball in der Hand und dem Blick. Dem Blick, den er jetzt gerade auch drauf hat. Kombiniert mit einem kleinen Lächeln.
Dann zuckt er mit den Schultern. „Es war richtig gewesen, hier her zu kommen.“
„Warum?“
„Darum.“
Mats spürt Nevens Lippen ganz sachte, so, als wäre es ein erster Kuss, ein vorsichtiger Kuss. Abtastend, weich. Er erinnert sich an den verschmierten Schriftzug auf seinem Ball und muss sich unwillkürlich auf die Hände schauen. Damals waren sie nach dem Abschied mit Neven Tagelang blau gefärbt gewesen.
Jubelschreie reißt Mats aus seiner Trance. Vereinzelt und doch kollektiv. Überall hören sie das grölen und jubeln.
„Jetzt sind wir im Halbfinale.“ Sagt er zu Neven und lächelt ein bisschen. „Na?“
„Ja. Das seid ihr.“ Neven grinst zurück. Dann setzt er sich in den gemähten Rasen und streckt die Beine aus. „Fährst du mit mir nach Hause, Mats?“
Ein Vogel zwitschert, hat sich nach dem Schock durch das Jubeln der Menschen wieder erholt und pfeift weiter im Baum, da, wo er wahrscheinlich auch sein Nest hat. Mats sieht Neven an und weiß nicht, woran er denke soll. An Amerika? An sein Kinderzimmer? Seine Wohnung? „Du meinst dein Dorf?“
„Vielleicht.“ Neven zieht die Augenbrauen zusammen. „Vielleicht weiß mein Nachbar noch, wo er Milo begraben hat.“
Mats fühlt das Ziehen in der Brust. Neven findet sich nicht. Und er findet Neven nicht. Wegen den Umständen. Wegen der Welt. Weil sie nunmal so ist, wie sie ist.
Er müsste fragen: Was versprichst du dir davon? Was willst du sehen? Die Zerstörung? Den Wiederaufbau? Deine Kindheit? Aber er hält die Lippen zusammengepresst und richtet seinen Blick in den Himmel.
Irgendwie lernt er Neven jetzt gerade erst richtig kennen.
„Klar komm ich mit.“
Und er hat keine Ahnung, was dieses Versprechen hinter sich birgt. Ob er es in naher Zukunft mal bereuen wird. Für diesen Moment fühlt es sich richtig an. Endlich nicht mehr undefinierbar, oder anders, oder seltsam... sondern einfach nur richtig.
„Wir könnten das Finale in Belgrad schauen. Vielleicht kann ich dir noch was zeigen.“ Neven hat sich rücklings ins Gras fallen lassen. Die Sonne streift ihm über die Wange und seine Mundwinkel haben etwas Entspanntes an sich.
Neven sucht nach Milo. Aber er sucht auch die Stunden bei seiner Mutter in der Küche, die frühe Morgensonne über seinem Dorf, seine taunasse Kinderhose. Wenigstens hat er mich gefunden, denkt sich Mats, denkt sich das und beugt sich über Neven, verdeckt das Sonnenlicht.
„Eigentlich kenne ich dich gar nicht, kann das sein?“
Neven zuckt liegend mit den Schultern. „Ich kenn dich genauso wenig.“
Da lässt sich Mats fallen, landet präzise so, dass seine Wange an Nevens gepresst ist und ihre Herzen auf selber Höhe im selben Takt schlagen.
„But, you know, ...vielleicht ist es gerade das.“ Neven pustet gegen sein Ohr, und seine Stimme ist ein lautes Flüstern. „Deshalb kennst du mich eigentlich am Besten.“
Eine Weile schweigt er, dann schiebt er Mats sanft von sich und stützt sich auf den Ellenbogen hoch.
Aus der Ferne können sie vage ein Hupkonzert hören, gepaart mit begeistert singenden Stimmen, ein Partylied nach dem anderen. Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin! Und wir in ein serbisches Dorf, denkt sich Mats, irgendwo in der Nähe von Banja Luka. Da findet sich Neven. Und ich finde ihn.
„Ich muss dich immer suchen.“ Sagt er schließlich, blinzelt der Sonne entgegen.
„Und ich dich finden.“ Neven grinst ein bisschen. Mats weiß, welche Szene sie beide vor Augen haben. Sein Dorm room auf dem Campus. Wei, der sich sein Handtuch umbindet. Neven, der in der Tür steht. So plötzlich. Aber auch einfach.
Sie müssen beide grinsen. Und Mats hält Neven eine Hand entgegen, lässt sich hochziehen. „Wir finden Milo.“
Ein Weile schweigt Neven, dann legt er Mats einen Arm um die Schulter. „Nein, wir finden ihn nicht.“ Sein Blick hält Mats gefangen. Hinter seinem Rücken geht die Sonne unter, goldgelb und gleißend. Durch jede einzelne Haarsträhne huscht das Licht, blendet Mats ein wenig.
„Ich habe ihn schon gefunden.“