Nicht von dieser Welt Teil 1 [Rolfes/Kießling], 30. 9. 2009

Jul 08, 2012 18:10

Titel: Nicht von dieser Welt (Teil 1)
Pairing: Simon Rolfes/Stefan Kießling
Rating: PG-15
Anmerkungen: Ich bin der absolute AU Freak, also hab ich mich mal mit ein paar... äh, historischen Sachen beschäftigt.



1944
Es ist ein Gemisch aus Farben.

Die Schwärze der Nacht ist beißend, verschlingt alles. Den Horizont, den er seit Tagen nicht mehr gesehen hat, die Felder, Wälder. Kahle Bäume mit dünnen, skelettartigen Zweigen, die die Last des frischen Schnees bald nicht mehr halten können. Alles dunkel, schwarz, verschlungen.

Die Kälte ist nicht beißend. Sie streichelt, haucht sanfte Eisblumen, zarte Schneeflocken, ein ewiges Weiß. Blendend, als wäre die Jungfrau Maria zu den Menschen herabgestiegen, friedlich, als würde die Mutter dem Kind durch den Schopf streicheln.

Wie viele schon in diesem weichen Bett entschlafen sind.

Simon steht gerade, tritt von einem Fuß auf den anderen. Er hat noch klar in Erinnerung, was der alte Heydrich gesagt hat. Nicht die Augen schließen, oder es soll dein Tod sein. Und er hat es ja auch selber gesehen. Lubanski, Bäckergehilfe aus Zittau, er war ihm vorher nicht groß aufgefallen. Bis er die Worte gesagt hatte. Ich bin müde, ich lege mich hin. Nur für ein paar Minuten. Die weiße Decke, dicker und dicker wurde sie, richtete ihm das Grab.

Simon atmet tief ein. Seine Lungen haben sich längst an das Stechen gewöhnt, klare Luft hält ihn wach. Damit er beim Morgengrauen wieder die glühend rote Sonne sehen darf, damit er vielleicht etwas von der Suppe abbekommt. Er hat Glück, sein Helm ist ihm erhalten geblieben. Andere haben es mit Mützen und Händen versucht. Die wässrige, lauwarme Flüssigkeit hat Löcher in den tiefen Schnee gebrannt.

Das Schneetreiben wird wieder dichter, das Weiß vermischt sich an Ecken und Enden mit der Schwärze. Die vagen Umrisse seiner Kameraden verschwimmen noch mehr, doch das Feldgrau sieht Simon immer noch. Wird er immer sehen diese Farbe, wo auch immer er hinschaut. Manchmal mit dunklen Flecken übersät, die nach Metall schmecken. Anfangs kann man die rote Farbe noch erkennen, dann wird sie dunkler, verkrustet, wird vergessen, von der nächsten Schicht überdeckt. Heiß und pulsierend. Kalt und tot.

„Osten.“
Simon fährt herum. Die Stimmer ist so nahe, er hat sie nicht erwartet.
Etwas goldenes springt ihm ins Auge, dann ein blauer Schimmer, aufblitzend, kurz wie ein Schuss.
„Osten,“ sagt die Stimme wieder und nun zeigt auch eine Hand in die Richtung, dick in Tücher und Stofffetzen gewickelt.
Simon schaut ihr nach. Das haben schon viele behauptet, dass sie nach Osten ziehen. Durch ganz Russland, bis sie einzeln krepiert sind. Oder auch in ein Arbeitslager gebracht wurden, ein weiß bedecktes Gebäude mit weiß bedecktem Hof, im weißen Sibirien.

„Woher?“ fragt Simon. Seine Stimme ist heiser, er hat schon lange nicht mehr gesprochen.
Der Mann zuckt mit den Schultern, kommt ein paar Schritte näher. Unter seiner Mütze hängen ihm blonde Locken nass heraus, die Augen schauen wachsam. Blau sind sie, wie das Meer, wie der Himmel, wie etwas, das Simon schon lange nicht mehr gesehen hat.
Sie stehen nahe beieinander, fast glaubt Simon, seinen Atem zu spüren.
„Heydrich liegt,“ sagt der Mann schließlich.
Simon senkt den Blick, schweigt für einen Moment. „Du kennst ihn.“
„Kannte ihn. Alle kannten ihn.“ Der Mann kneift die Augen zusammen. Seine Iris blitzt durch die Dunkelheit noch intensiver auf. Blau, blitzend, klar.
„Ich ging ein paar Tage lang hinter ihm.“ Simon macht wieder seine Schritte, auf und ab.
„Er sagte mir, ich solle nach innen rücken.“ Der Mann schweigt für eine Weile. „Links vor mir ging ein Junge. Ganz außen.“
Simon versucht einzuatmen. Die Luft ist stechend.
„Es kamen Russen vorbei. Haben ihn hinausgeschleift, ihm die Stiefel ausgezogen.“

Sie schweigen beide. Simon weiß nicht, warum er nichts sagt. Er hat Ähnliches gesehen, Raub, mit dem Gewehr im Kreuz, bis auf das letzte Hemd.

„Es waren gute Stiefel.“ Der Mann bewegt sich nun auch, macht Simons Schritte mit. Auf und ab, auf und ab. Sie hinterlassen im Schnee Fußstapfen.
Simon schaut ihn an. Die blauen Augen blicken für einen Moment stumpf, als würden sie trauern.

„Ich komme aus Franken. Es ist schön dort.“ Der Mann hat die Augen geschlossen, macht die Schritte immer noch, hin und her.

„Simon Rolfes.“
Simon hält seine Bewegung an, wartet darauf, dass der Mann seine Augen öffnet. Dann reicht er ihm die Hand, spürt nichts, seine Hände sind taub. Der Mann schüttelt sie, blickt dabei in die Ferne, die er nicht sehen kann.
„Kießling. Stefan Kießling.“

„Jetzt ist er dort,“ sagt Stefan. Er zeigt nach oben, wieder seine umwickelte Hand, wieder ein stumpfer Blick.
„Er schläft,“ entgegnet Simon. Heydrich war ein guter Mann. Alle Seelen, gefroren und eisig, waren gut. So gut, wie jeder andere von ihnen.
„Für immer,“ flüstert Stefan.

„Ich komme aus Westfalen.“ Simon schließt nun auch die Augen, wenn auch nur kurz. „Dort war es schön.“
Stefan schaut ihn an und es fühlt sich an wie eine Patrone, die ihn streift. Ganz sanft sein Feldgrau berührt, den Stoff mit sich reißt, ihn aber heil lässt. „Letzten Herbst,“ sagt er, „hab ich ihn gesehen. So groß ist er nun schon.“ Und wieder ist es seine Hand, die Stofffetzen und Bandagen, die hüfthoch schwebt, Simon einen kleinen Jungen zeigt. Mit denselben goldenen Locken und den Augen. Den Augen.

Stefan macht wieder die Schritte. Auf und ab, auf und ab.
Simon bleibt still. Er sieht den kleinen Jungen. Er liegt still, um ihn herum ist alles grau, Schutt und Asche. Seine Augen sind stumpf, die Locken sind kohlschwarz und Stefan macht weiter seine Schritte.

Die Augen werden stumpf bleiben, ob sie nun den Endsieg feiern oder nicht.

„Stefan,“ sagt Simon.
Stefan sagt nichts. Er blickt zu den herabfallenden Flocken hinauf, seine rissigen Lippen sind bleich. Dann schaut er Simon an. Schaut ihn an.

„Du hast meine Augen.“

Der Schnee fällt, unendlich, sanft, zart, weiß. So weiß.

„Es wird hell,“ sagt Simon.

Und er spürt Stefans Atem.

1988.
„Tita!“ brüllt Stefan. „Er macht es. Er macht es!“

Um ihn herum ist die Hölle los. Alle sind aufgesprungen, ausnahmslos, sie schreien, werfen die Arme hoch. Der Nachthimmel wirkt neben der grellen Beleuchtung des Stadions so pechschwarz, so unendlich weit. Sie liegen mit drei Toren zurück und Tita hat gerade den Anschlusstreffer erziehlt. Ja, gottverdammt, er hat es gemacht.

„Schiri!“ Stefan wischt seine schweißnassen Hände an der Jeans ab, beißt die Zähne zusammen. „Was?! Nein!“ Um ihn herum ertönen Stöhnen und laute Verfluchungen.
„Der hätte zählen sollen. Der hätte zählen sollen!“ Fassungslos greift sich der alte Herr zu Stefans Rechten an die Stirn.
„Fick dich doch du Sau! Du pfeifst einen Scheißdreck!“ Seine Stimme ist ein wütendes Aufkrächzen. Es ist noch nicht mal Halbzeit, und er fühlt sich schon ausgepowert und benommen.

Das Spiel zieht sich dahin, doch auf den Tribünen brodelt es. Sie sind in der gegnerischen Hälfte, permanent, doch erwähnenswertes kommt dabei nicht heraus.
Stefan steckt die Hände in die Jackentaschen, reckt sich bei einer halbwegs passablen Aktion hin und wieder über die Köpfe der Menge hinweg. Für sein Alter ist er hoch aufgeschossen. Vielleicht sogar ein bisschen zu hoch. In letzter Zeit hat er das Gefühl ständig Hunger zu haben, über die eigenen Füße stolpern zu müssen, so verdammt ungelenk zu sein. Aber jetzt ist er im Vorteil. Kann sich recken, mehr erspähen, ab und zu sogar den Hinterkopf vom Ribbeck.
Der steht die meiste Zeit nur da, sieht zu wie seine Jungs arbeiten wie die Irren, gleichzeitig aber auch Unmengen von Chancen vertändeln.

Endlich Halbzeit.

Stefan betet, dass Ribbeck in der Kabine irgendein Wundermittel hervor zaubert, oder einen Reservespieler, auf den keiner je aufmerksam geworden ist, der ihnen jetzt aber drei Tore und den Sieg schenkt.

„Eine Sauerei.“ Die Stimme kommt von hinten. Da hat sich ein Junge aus seinem Sitz erhoben, reckt sich ein bisschen, schaut zu Stefan hinab.
„Ja, der Schiedsrichter auf jeden Fall.“ Stefan dreht sich zu ihm um, froh jemanden zu haben mit dem er reden kann.
„Das Tor hätte auf jeden Fall gelten sollen.“ Der Junge hat eine etwas hohe Stimme, mit einem krächzenden Unterton, als hätte er den Stimmbruch noch nicht richtig durch. Seine Augen sind blau, ein wenig glasig und er trägt ein Trikot von der vorletzten Saison.
Stefan nickt, und der Junge springt von seiner Reihe zu Stefans Platz hinab. Überrascht stellt er fest, dass sie beide gleich groß sind.
„Und, glaubst du noch dran?“ Er grinst und sein Grinsen ist leicht resigniert. So als hätte er schon mit sich und dem Fußballgott abgeschlossen. Der Gesichtsausdruck macht Stefan leicht agressiv.
„Klar, sonst könnt’ ich mir ja gleich die Birne zuknallen.“
„Gar keine so schlechte Idee.“
„Elender Pessimist.“
„Realist.“
Sie schauen sich an, und auch wenn Stefan noch das verärgerte Kribbeln im Bauch spürt, der Kerl ist ihm nicht unsympathisch.
„Wie heißt’n du?“
„Simon.“
„Stefan.“
Sie klatschen ab, kurz und freundschaftlich.

Die Spieler kommen wieder aus dem Tunnel, das Spiel geht weiter. Rückspiel. Endspiel. Titelgewinn?
Simon ist gleich neben ihm stehen geblieben. „Er wechselt den Waas ein!“
„Endlich mal was sinnvolles,“ knurrt Stefan.
Sie sehen sich wieder an, ballen die Hand zur Faust und stimmen in die Gesänge mit ein.

Stefan brüllt, er ist elektrisiert, und als Andrzej Buncol zwölf Minuten nach der Halbzeitpause den Ball über rechts nach vorne schickt fühlt es sich an wie ein Stromschlag. Da ist der Pass. Waas nimmt ihn an, zieht an zwei Gegnern vorbei, und wieder ist es ...
„Tita! Es ist Tita! Tor, Tor, Tor!“ Am kurzen Pfosten. Über die Linie.

Stefan springt hoch, versetzt der Nachtluft einen harten Faustschlag, landet wieder auf dem Beton des Ulrich-Haberland-Stadions und fällt erstmal Simon um den Hals. Der brüllt etwas unverständliches, um sie herum ist der Freudentaumel immer noch viel zu laut. Tor, Tor, Tor.
„Was hab ich gesagt? Was hab ich gesagt?“ Stefan kann sein Grinsen nicht verbergen. Auch Simon strahlt, sein Atem riecht nach Pfefferminze und Malzbier. Er zuckt mit den Schultern. „Noch zwei.“
„Ach, halt die Klappe, man, sieh’ hin.“

Und sie sehen hin, alle beide.
Klaus Täuber wird eingewechselt und findet sofort ins Spiel. Ist genau so aufgedreht wie alle anderen im Stadion. Er bekommt den Ball von Reinhardt, zirkelt aus vollem Lauf eine Flanke Richtung Fünfmeterraum.
Stefan bleibt der Atem weg. Falko Götz hechtet, springt, reckt sich. Und dann fehlt nur noch ein Tor. Ein Tor.

„Zugabe!“ schreit Simon.
„Zugabe!“ brüllt auch Stefan.
Die Spieler von Espanyol wirken sogar von hier aus mutlos, schieben sich den Ball kleinlaut hin und her. Fast wirkt es, als glaubten sie gar nicht mehr daran.
„Es ist nicht unmöglich,“ meint Simon nach einer Weile.
„Es ist mehr als möglich,“ gibt Stefan zurück. Dieser Simon ist aber auch ein seltsamer Typ. Ein bisschen seltsam, aber auch nicht in negativem Sinne.

Als acht Minuten vor dem Ende Bum-kun Cha das Leder aus fünf Metern ins Tor wuchtet, sehen sich die beiden erstmal an. Ausgleich. Das Stadion explodiert, ein paar Dutzend Tränen fließen. Es ist alles möglich, alles offen.
Simon starrt Stefan an, zieht die Brauen zusammen. Stefan ist ganz wirr im Kopf. Weil sein Verein gerade im UEFA-Cup Finale das goldene Ausgleichstor erzielt hat und weil ein Junge, den er erst seit der Halbzeit kennt, jetzt nur noch Zentimeter entfernt ist.

Die reguläre Spielzeit läuft.
Nichts passiert, die Spannung steigt. Im Espanyol-Strafraum fällt Täuber. Sofort sind Pfiffe und Buh-Rufe zu hören. „Elfmeter!“ brüllt Simon und seine Miene ist so wutverzerrt, dass Stefan den Blick nicht abwenden kann. Sie bekommen den Elfmeter nicht.

Und die Zeit zieht sich dahin. 120 Minuten.
Auf dem Spielfeld herrscht heilloses Chaos. Spieler, Reporter, Trainer, Fotografen. Im Tor hockt Rüdiger Vollborn, versucht sich zu konzentrieren. Stefan starrt auf seine sitzende Gestalt, spürt das Herz in der Kehle.

Die ersten zwei Schützen der Spanier verwandeln sicher. Falkenmayer vergibt, das Stadion stöhnt auf. Es ist fast körperlicher Schmerz. Wolfgang Rolff schnappt sich den Ball und Stefan hält den Atem an. Er merkt, wie Simon neben ihm dasselbe tut.
Der Libero. Der jetzige Kapitän auf dem Platz. Der Ball saust ins Netz, unten links.

Stefan bekommt wieder Luft.

Waas macht das 3:2.
„Wir liegen vorne,“ keucht Simon atemlos. Stefan nickt nur mit zusammengebissenen Zähnen.
Vollborn steht auf der Linie, rudert mit den Armen. Losada legt den Ball zurecht. Vollborn springt auf und ab. Losada setzt an. Vollborn springt.

Der Ball fliegt in den Nachthimmel. Über die Latte, über die tausend und abertausend Köpfe der Menge, über das halbgebaute Stadion, bis in die Wolken.
Und Stefan schwebt.

Simon reißt die Arme hoch. Vollborn reißt die Arme hoch. Beide verschwinden für einige Augenblicke. Der Torwartheld unter seinen Mitspielern, Simon in Stefans Armen.

Die Anzeigetafel blinkt. ‚Bayer 04’ steht drauf, ‚UEFA-Cup Winners 1988’.

„Ja!“ brüllt Stefan. Sein Herz setzt fast aus, als sich Simons Arme um seine Hüfte legen, ihn fest drücken.
„Hattest Recht,“ murmelt er.

Und der dunkle Himmel war noch nie so hell. Erleuchtet vom Triumph, vom größten Sieg der Vereinsgeschichte, von Simons goldgelben Locken, in die Stefan nun sein Gesicht presst.

Nachher, eines Tages, wenn sie mit dem Feiern fertig sind, wird er Simon noch näher kennenlernen. Ihn nach seiner Telefonnummer fragen, wo er zur Schule geht, ob er spielt.

Ob ihm diese Nacht auch wie ein Traum vorkommt.

2009*.
Kies fährt seinen Laptop hoch.

Es ist Sonntag und er hat den ganzen Abend noch vor sich, bevor seine Mutter irgendwann ins Zimmer kommt und ihn anschreit, er solle doch die Musik leiser stellen und ins Bett gehen, ob er seine Hausaufgaben auch gemacht hätte, so viel Zeit wie er doch hätte...
Vorsichtshalber lässt er seit Neustem immer BBC Radio im Hintergrund laufen, damit es sich anhört als würde er über seine nichtvorhandenen Zukunftspläne nachdenken. Studieren, ja, gute Noten in Englisch und Französisch, und was für ein weltgewandter Junge er doch schon ist. Blabla.

Seine Finger wandern geschickt über die Tastatur. E-Mails hat er keine bekommen, auf MSN sind nur ein paar läppische Mitschüler, und ganz ehrlich, die meisten von denen haben eh den PC vierundzwanzig Stunden lang laufen. Andreas zum Beispiel, der behauptet immer, dass das letzte Mal, als er seinen Computer heruntergefahren hat, schon drei Jahre zurück ist.
Kies weiß nicht, ob das stimmen kann oder nicht und es interessiert ihn auch nicht wirklich. Um ehrlich zu sein, interessieren tun ihn die wenigsten Sachen. Fußball, ja, aber das ist unter den Jungs Standard. Zocken. Gilt das überhaupt als Interesse, oder gehört das in die Kategorie ‚Hirnlose Beschäftigung für Beschränkte’? Oder es ist einfach nur für Leute die keine Interessen und ganz nebenbei auch kein Leben haben.

Deshalb geht Kies online, liest bei 11Freunde ein paar Artikel durch und überlegt, ob das schon als intellektuell durchgehen kann. Die von 11Freunde sind auf jeden Fall ziemlich wortgewandt, schreiben sarkastisch und witzig, lassen ihre Meinung deutlich durchsickern.

Seufzend schliesst er das Fenster des Browsers wieder, kaut auf seiner Lippe herum. Im Hintergrund quakt eine seriöse Frauenstimme die Nachrichten vor.
Kies öffnet wieder ein Fenster, geht auf Google und sucht sich einen Chatraum heraus. Das ist fast zur Angewohnheit geworden: immer, wenn nichts abgeht, MSN einem virtuellen Friedhof gleicht und alle Bundesligaspiele schon zu Ende sind, geht er aufs Internet und unterhält sich mit Leuten, die scheinbar noch viel weniger vom Leben haben als er. Einmal hat ihn eine Lydia36sexymieze pausenlos angechattet, hat pseudo-erotische Nachrichten geschickt. Weil Cybersex die Leute ja so heiß macht.

Das ist recht amüsant gewesen. Auch lustig sind Leute, die schon nach dem ‚hi’ wissen wollen für welchen Verein er ist. Wenn Kies’ der Benutzername zu unsympathisch ist antwortet er einfach ‚Schalke’. Ansonsten ist er auch mal ehrlich, redet mit Leuten über Nürnberg und den Aufstieg, über die Bayern und wie scheiße die in Wirklichkeit sind... allgemein so Sachen wo man nicht groß nachdenken muss.

Kies’ Gehirn wird nicht gefördert davon.

Heute sind wenige Leute drin. Im Gemeinschaftschat werfen sich Lünsche66 und cutemikaaa sinnfreie Kommentare zu, und Kies ist drauf und dran das Teil wieder runterzufahren und sein Glück beim Fernseher zu versuchen, als in jemand anchattet.

SR6 heißt der Kerl, wie Kies jetzt mal annimmt. Auf der Alterangabe steht 19, kommt aus Deutschland, so wie jede andere Sau die hier rum hängt. Kies hat bei sich selbst vorsichtshalber 18 Jahre angegeben... wer weiß. Das eine Jahr mehr oder weniger spielt jetzt auch keine so große Rolle mehr.
„Hey“ sagt der Typ.
„Hi“ tippt Kies zurück.
„Wie gehts“
Sehr nette Frage. Kies rollt mit den Augen, na, den Typen kanns ja einen Dreck kümmern wie’s ihm geht. Aber das ist, wie alles andere auch, Standard hier.
„gut“ Eine kurze Antwort. Dazu macht er noch ein Smiley, damit das ganze ein bisschen freundlicher wirkt.
„na, bist deprimiert :D“
„nein warum“
„weil du rein zufällig aus köln kommst???“
„nnnäh“

Kies denkt kurz nach. Was war nochmal? Ach ja, Derby, da oben am Rhein haben sie sich gestern wieder die Köpfe eingeschlagen. Und Leverkusen hat gewonnen.
„na gratulationen“ hämmert er in die Tasten, spürt wieder den Ärger von Freitag raufkommen. Verloren. Gegen Bochum. Aber wirklich jetzt! Bochum!
„danke. nicht so fußball begeistert?“
„doch. auch verloren.“
„gegen wen?“
„bochum“
„8Q“
Über dieses Emoticon muss Kies lachen. Natürlich weiß er, dass es sowas gibt, aber so richtig benutzt hat er’s noch nicht.
„XDD“
„und ich dachte du bist depri“
„XDDD“
„aha“
„XDDDDD“
„interessant“

Kies hat absolut keine Ahnung, wie das überhaupt passiert ist, aber SR6 ist eigentlich ganz in Ordnung. Er erzählt Witziges, gibt komische Kommentare über sämtliche Spieler und Trainer ab, verdammt die Bayern und will sie gleichzeitig nicht verlieren. Im Großen und Ganzen verstehen sie sich prächtig. So weit man sich eben mit einem SR 6 in einem Chatraum gut verstehen kann.
Nach einer Weile gibt Kies dann auch sämtliche Informationen über sich selbst preis, mit denen er in solchen Situationen eigentlich nicht oft rausrückt. Also weiß SR6 dass er in Oberfranken wohnt, dass sein Herz dem FCN gehört und dass der Saisonstart ganz schön verkorkst ist. Von SR6 erfährt er so manches über Leverkusen, dass er vorher nicht wirklich gewusst hat, und lernt einen neuen Verein kennen. TuS Recke, für den spielt der nämlich.

Als Kies das nächste Mal aufschaut ist es schon zehn vor elf. Bald wird seine Mutter sich von ihren Soaps lösen, die Treppe raufkommen und seine Tür einschlagen. Das bedeutet meistens Streit oder endloses Meckern, und darauf hat Kies wirklich keine Lust. Nur hat er auch keine Lust, sich so schnell wieder von SR6 zu trennen.
„ey, is spät“
„überhaupt nich“
„doch. muss noch in die schule morgen“
„nagut“
„jap“
„schlafgut, KiesKeks“
„tschau“
SR6 schickt noch ein Smiley, dann drückt Kies widerspenstig das Fenster weg und fährt seinen Laptop herunter, bevor seine Mutter zu schreien anfängt.

Die Woche vergeht schnell, in Handumdrehen sind Montag und Dienstag verstrichen. Mittwoch hat Kies keinen Nachmittagsunterricht, er geht nach der Schule noch kurz mit David zum Saturn, guckt sich die neuen PC Spiele an, bevor er auch schon nach Hause fährt.

Die ganze Zeit hat er’s im Hinterkopf gehabt, und heute will er mal wieder online gehen, in diesen Chatraum wo er SR6 getroffen hat. Einfach mal so. Er weiß ja schon relativ viel über den Typen: er ist 19, er wohnt in Recke, spielt für den Verein, unterstützt Leverkusen... und sie haben sich einfach gut verstanden, verdammt noch mal.

Kies kann seinen Laptop gar nicht schnell genug anbekommen, seine Hände zittern sogar ein bisschen, als er auf Google den Suchbegriff eingibt, sich den Link zum Chatraum heraussucht. Könnte aber auch daran liegen dass er noch nichts gegessen hat. Begierig scrollt er die momentan ziemlich lange Liste herunter, und... ja. Tatsächlich, da ist er wieder. SR6.
Kies schickt ein ‚Hi’ und bekommt eines zurück. Und wieder geht die Unterhaltung los. Sie sprechen fast über die selben Sachen wie letztes Mal, aber mit SR6 ist es einfach interessant.

So geht es weiter. Nein, vielleicht bildet sich sogar ein gewisses Muster heraus. Jeden Mittwoch und Sonntag setzt sich Kies vor seinen Laptop, loggt sich in eben diesen Chatraum ein und redet mit SR6. Drei Wochen nach ihrem ersten virtuellen Zusammentreffen erfährt Kies, dass SR6 für Simon Rolfes 6 steht. Sechs ist seine Rückennummer bei TuS Recke. Und einen Monat danach tauschen sie E-Mail Adressen aus.

An einem verregneten, langweiligen Montagabend ist in Kies’ Mailbox dann auch tatsächlich eine Mail von Simon drin. Er schreibt über seine letzte Woche, entschuldigt sich, dass er am Sonntag nicht online war, ein Freund hatte Geburtstag, und erzählt Kies ein wenig von seinem neuen Trainer. Der Brief ist ziemlich lang, und sehr korrekt geschrieben. Keine Rechtschreibfehler! Kies ist ein wenig beeindruckt und freut sich insgeheim auch, dass Simon sich so viel Mühe gegeben hat.

Von da an verbessern sich seine Deutsch-Aufsätze merklich. Er schreibt jeden Tag eine Mail an Simon und bekommt am Tag darauf eine zurück. In den Chatraum gehen sie nicht mehr. Nicht, wenn man sich alles so ausführlich in Briefen erzählen kann. Und inzwischen weiß Kies schon so viel über Simon, dass er das leise Gefühl hat, er sei ein Kindheitsfreund gewesen, der umgezogen ist.

Simon macht sein Abi, ist ständig im Lernstress, hatte bisher zwei Freundinnen, wobei die letzte ihm zum Schluss wirklich sehr lästig geworden ist, und im Januar wird er zwanzig. Er will Physik studieren oder vielleicht das Lehramt machen, nebenbei weiter in der Kreisliga kicken, das macht ihm nämlich Spaß.

Eines Samstagabends, nach dem Abendessen und der obligatorischen Sportschau, öffnet Kies wie gewohnt einen ellenlangen Brief, wo ganz am Ende eine Telefonnummer angegeben ist.
Kies starrt sie erst gute fünf Minuten an, bis er hektisch anfängt, aus dem heillosen Wirrwarr auf seinem Schreibtisch einen Stift hervorzufischen. Er kritzelt sich die Nummer auf den Unterarm und stolpert die Treppe hinunter, wirft sich aufs Sofa und wählt.

„Rolfes?“
Es ist eine Frauenstimme, und Kies ist für ein paar Sekunden sprachlos. Er hat ganz vergessen, dass Simon auch noch zu Hause wohnt.
„Ähm. Ja, ist der Simon da?“
„Einen Moment bitte.“
Der Moment dauert so lange wie eine Doppelstunde Geschichte. Und dann, dann kommt jemand ans Telefon, und es ist ganz sicher Simon. Der Typ, der da „Ja, Hallo?“ sagt, klingt genauso, wie sich es Kies vorgestellt hat.
„Hey, SR6,“ sagt er und muss dann lachen.
„Kies!“ Überraschung und Freude schwingt in Simons Stimme mit. „Ach nee, hast dich aber ganz schön beeilt.“
„Kann man wohl sagen.“
Und dann sind beide für eine Weile still. Bis Kies automatisch zu reden anfängt, die Stille überbrückt und Himmel, Hölle, es ist genau so gut wie das Chatten. Oder die E-Mails. Ehrlich gesagt ist es besser als beides zusammen, denn nun kann Kies Simon lachen hören und es fühlt sich wirklich, wirklich echt an.

Kies’ Handyrechnung braust im kommenden Monat auf dramatische Weise in die Höhe. Simon geht es genauso, all sein Taschengeld, und auch das, was er bei der Nachhilfe verdient hat, geht drauf. Es gibt Abende an denen Kies seinen Laptop erst gar nicht anrührt. Es liegt auf dem Bett und redet und redet, und verdammt, er weiß nicht mal warum sie sich immer so viel zu sagen haben!

Aber er kann Simon auch wirklich alles erzählen, von verbockten Schularbeiten bis zu heißen Mädchen, die leider schon mehrfach vergeben sind. Katastrophale Spiele in der Bundesliga, Tod und Hass dem oder jenem Verein gegenüber, grenzenlose Trauer wegen dem einen Pokalspiel. Kies kann ihm sogar Sachen sagen, die ihm eigentlich viel zu peinlich sind, als dass er sie sonst je erwähnen würde. Simon hört zu, Simon ist verständnisvoll. Und außerdem ist es ziemlich cool einen Kumpel in Nordrheinwestfalen zu haben, der schon neunzehn ist und sein Abi macht, noch dazu ganz gut Fußball spielt und eben diese zwei Jahre Erfahrung mehr hat.

Sie kennen sich schon gute vier Monate, als das Thema zum ersten Mal hochkommt. Kies hängt auf dem Sofa, beschwert sich über seinen Lehrer, der die schwierigsten Schularbeiten im Universum aufgibt, als Simon sich räuspert.
„Sag mal,“ meint er. „habt ihr da unten nicht nächste Woche ein langes Wochenende?“
„Ja.“ Überrascht hält Kies inne. „Woher weißt du das denn so genau?“
„Tja. Ich hab da auch gerade Zeit, hab’ mich gefragt, ob du nicht mal rauf fahren möchtest. Oder umgekehrt.“
Kies braucht ein bisschen Zeit, um zu kapieren was Simon da meint. Als er endlich verstanden hat, was dieser Satz zu bedeuten hat wird ihm ganz schwummrig.
„Klar.“ Ja, klar will er Simon treffen. Auch wenn er dazu quer durch Deutschland tuckern muss.
„Und?“
„Ja, ich buch mir was.“
„Super.“ Simon freut sich.

Und tatsächlich geht Kies am nächsten Tag zur Deutschen Bahn und bucht sich Hin- und Rückfahrt. Er bezahlt mit seinen eigenen Ersparnissen und legt seiner Mutter die vollendete Tatsache vor die Nase. Er fährt nächste Woche zu Simon, aus, basta.

Als er dann im Zug sitzt ist er sich nicht mehr ganz so sicher.
Der Zug hat gerade Nürnberg verlassen und draußen brausen schon die ersten Wälder vorbei. Was, wenn sie sich dann doch nicht so gut verstehen? Was, wenn sie sich erst gar nicht finden? Was, wenn Simon hässlich ist? Lauter unmögliche, kindische Fragen. Verstehen werden sie sich sowieso. Finden werden sie sich auch, Kies hat nämlich extra sein Nürnberg Trikot von der letzten Saison angezogen. In Recke werden sicher nicht so viele Fans von der gleichen Sorte rum laufen. Außerdem kann so jemand wie Simon gar nicht hässlich sein. Nein, egal wie er letzten Endes aussehen wird, es wird alles andere als hässlich sein.

In Osnabrück muss Kies umsteigen. Inzwischen ist er schon ganz erschöpft, steckt sich die Stöpsel seines MP3s in die Ohren sobald er den richtigen IC gefunden hat. Nach einer Weile schläft er ein, lehnt sich gegen die kalte Glasscheibe, wird in unregelmäßigen Intervallen wach. Und das Gott sei Dank, denn das nächste Mal, als er die Augen aufschlägt, sind sie schon kurz vor der Einfahrt.

Der Bahnsteig ist ziemlich leer als Kies mitsamt Tasche aus dem Zug steigt.

Deshalb sieht er die Person auch gleich, die mit den Händen in den Hosentaschen ein Stückchen weiter rechts steht. Kies macht ein paar Schritte vor und ist sich todsicher, dass das Simon ist. Alles stimmt. Die Locken, die Augen, die Statur, und auch das Lächeln, das sich nun auf dem Gesicht ausbreitet ist genau so, wie Kies es sich vorgestellt hat. Oder nein, es ist noch viel, viel besser.

Simon sieht verdammt gut aus.

Kies geht auf Simon zu und der breitet die Arme aus. „Grüß Gott!“ sagt er grinsend und seine Augen blitzen auf. „Tach,“ entgegnet Kies und wird unter Lachen in eine Umarmung gezogen. Und, echt jetzt, so vertraut hat sich in Kies’ Leben überhaupt noch nichts angefühlt.

Dann stehen sie einfach da, während sich der Bahnsteig um sie herum gänzlich leert. Simon hat nicht übertrieben, das ist wirklich das ärgste Kaff.
Und Simon hat ihn noch nicht wirklich losgelassen, eine Hand hängt auf Kies’ Schulter, die andere hat er auf seiner Hüfte. Sie sehen sich in die Augen und für Kies ist es wie eine magnetische Anziehungskraft, die da wirkt. Er lehnt sich gegen Simon, Simon lehnt sich gegen ihn, und ihre Lippen berühren sich. Wenn auch nur ganz kurz.

Dann lösen sie sich schnell voneinander, Simon packt Kies’ Tasche, und sie machen sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Sehen sich noch mal an, müssen beide grinsen.

SR6 und KiesKeks.

au, player: simon rolfes, repost, fiction, football, player: stefan kießling, pairing: rolfes/kießling

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