Dec 10, 2019 16:04
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Die neue Pisa-Studie bescheinigt sehr unterschiedlichen Ländern herausragende Schülerleistungen. Dabei gibt es Kritikpunkte
Nachdem die erste Enttäuschung über die nachlassenden Pisa-Testergebnisse deutscher Schüler abgeflaut ist, lohnt sich ein Blick ins Ausland: Wer hat Deutschland überrundet und es in die Oberliga der 79 Teilnehmer geschafft - und was steckt jeweils hinter diesen guten Resultaten? Dieser Frage gehen Korrespondenten der Süddeutschen Zeitung am Beispiel von China, Estland, Polen und Japan nach. Und was bitte war da los in Spanien - warum führt die OECD in ihrem offiziellen Ranking das Land nur außer Konkurrenz auf? Ein Blick hinter die Kulissen:
China - nicht repräsentativ
Die Metropolen Peking, Shanghai und die ostchinesischen Provinzen Zhejiang und Jiangsu sind die Sieger dieser Bildungsolympiade. Repräsentativ ist das kaum, denn die Regierung schickt ohne Frage ihre besten Schüler ins Rennen. In vielen ärmeren Regionen Chinas sieht es deutlich düsterer aus: schlecht ausgebildete Lehrer, überfüllte Schulklassen, wenig Aufstiegschancen. Die Kinder von Wanderarbeitern sind häufig weitestgehend vom regulären Bildungssystem abgehängt. Um es an eine gute Uni zu schaffen, müssen Schüler in China bei der Abschlussprüfung zur Spitze gehören. Für viele endet die Kindheit in der Vorschule. Sie pauken bis tief in die Nacht, sitzen am Wochenende in Nachhilfeschulen. Der Wettbewerb ist gnadenlos.
Schon lange versucht die Regierung den Druck zu verringern. Doch „hausaufgabenfrei“, das hören Chinas Tigereltern nicht gerne. Wenn man ihnen erzählt, Kinder in Deutschland wüssten nicht, wofür sie lernen, schütteln sie nur den Kopf. Die meisten Familien geben für nichts mehr Geld aus als für die Ausbildung ihres Kindes. Sie sind ehrgeizig, vor allem hoffen sie aber, ihren Kindern einen bestmöglichen Start ins Leben zu ermöglichen. Auch in ärmlichen Regionen glauben die Menschen daran, dass Fleiß eine Chance sein kann. Anders als in westlichen Ländern, blicken viele junge Menschen nicht zu Popsternchen auf, sondern zu Unternehmern wie Steve Jobs und Jack Ma, zu Menschen also, die aus nichtprivilegierten Familien stammen. Der Glaube, sein eigenes Schicksal in die Hand nehmen zu können, herrscht nicht nur in Peking oder Shanghai, sondern im ganzen Land. Auch das steckt in Chinas Pisa-Resultaten. Lea Deuber
Estland - viel für wenig Geld
Anfangs sei man ja besorgt gewesen, „weil wir uns hier mit Staaten messen, die sich viel mehr Ausgaben im Bildungsbereich leisten können“, erklärte die estländische Bildungsministerin Mailis Reps diese Woche. Anfangs, das war 2006, als Estland zum ersten Mal bei Pisa mitmachte - und Deutschland locker überrundete. Seitdem geht es stetig aufwärts, längst ist das Land ein Pisa-Star, diesmal sogar das beste aller europäischen OECD-Mitglieder, noch vor Finnland und Polen. Und das, obwohl es fast ein Drittel weniger ausgibt als der Durchschnitt der OECD-Staaten.
Das Erfolgsrezept? Beobachter verweisen auf gut ausgebildete Lehrer und motivierte Schüler, denen es hilft, dass Bildung in der Gesellschaft viel gilt. Vor allem aber: Das System ist erstaunlich egalitär, die Herkunft der Schüler spielt eine viel kleinere Rolle als anderswo. Ein armes oder bildungsfernes Elternhaus ist in Estland kaum ein Hinderungsgrund für gute Schulleistungen. „Kinder, die nicht aus brillanten Familien stammen, erhalten Unterstützung, und die meisten estnischen Schulen haben es geschafft, die Effekte unglücklicher Familienumstände abzufedern“, heißt es aus dem Bildungsministerium.
Raum für Perfektion bleibt: Die Jungen hinken den Mädchen nicht mehr ganz so arg nach, aber die Kluft ist noch da. Die Schüler in russischsprachigen Landesteilen schneiden schlechter ab als die im übrigen Land. Und schon im letzten Jahr diagnostizierte das Online-Magazin Estonian World, die Leistung sei da, „die Freude“ fehle aber noch an estnischen Schulen. Es gebe zu viele Prüfungen, zu viele Hausaufgaben, zu viel Druck. Das Erziehungsministerium will nun die bislang obligatorischen Prüfungen am Ende der Grundschule abschaffen. Kai Strittmatter
Polen - der letzte Sieg
Dreimal unter den zehn Besten - man sollte meinen, Polens Schüler und Lehrer können jetzt ausgelassen feiern. Doch das ist kaum der Fall, denn sie sind die letzten ihrer Art. Die 253 Schulen, an denen die OECD 5625 polnische Schüler im März 2018 testete, gibt es nicht mehr. Polen hat das Gimnazjum abgeschafft - jene Schulform (nicht zu verwechseln mit dem deutschen Gymnasium), die dem Land in dieser Pisa-Studie so gute Ränge bescherte.
Dabei war Polen von einem niedrigen Niveau aus gestartet. Nach dem Ende des Kommunismus blieb zunächst das zweistufige System aus acht Jahren Grundschule und weiterführender Schule erhalten. Im Jahr 1998 machte der konservative Bildungsminister Miroslaw Handke dann ein dreistufiges System daraus: Er verlängerte die Schulpflicht von acht auf neun Jahre und verkürzte die Grundschulzeit auf sechs Jahre. Auf die Grundschule folgte das neu gegründete, dreijährige Gimnazjum, danach gingen Schüler aufs Lyzeum (das der Sekundarstufe II des deutschen Gymnasiums ähnelt) oder eine der berufsbildenden Schularten. Diese Reform war alles andere als schmerzlos; für Dorfkinder bedeutete sie weite Wege in die meist nur in Städten eingerichteten Gimnazja.
Bei der ersten, im Jahr 2000 durchgeführten Pisa-Studie, lagen Polens Fünfzehnjährige noch deutlich unter dem OECD-Durchschnitt. Danach aber kletterten die immer in der letzten Klasse des Gimnazjums getesteten Schüler in Mathematik, im Lesen und in den Naturwissenschaften in die internationale Mittel- und von da in die Oberklasse. Allerdings wurde ihr Erfolg auch einer von Schülern wie Eltern beklagten neuen Testmanie zugeschrieben.
Nachdem Ende 2015 die nationalpopulistische Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) an die Regierung gekommen war, setzte die damalige Bildungsministerin Anna Zalewska trotz massiver Proteste von Eltern und Bildungsspezialisten die Rückkehr zum alten Modell durch - und läutete damit das Ende des Gimnazjums ein. Dass auch der sechste Pisa-Durchlauf der Schulform sehr respektable Plätze bescherte, stimmte die Ministerin nicht um. Berühmt-berüchtigt wurde ihr Satz: „Die internationale Studie betrifft nur Fünfzehnjährige und hat also nichts mit dem Schulaufbau zu tun.“ Ab September 2017 durfte das Gimnazjum keine neuen Schüler mehr aufnehmen und nur noch die letzten bestehenden Jahrgänge zu Ende führen. Stattdessen gibt es nun wieder die achtjährige Grundschule. Dafür wurden in vielen Dörfern die zwar bequem zu erreichenden, aber oft leistungsschwachen Landschulen reaktiviert.
Das war nicht alles. Längst belegen Studien weltweit, dass der Besuch von Vorschulen und Kindergärten die Bildungschancen verbessert. Im nationalpopulistisch regierten Polen aber müssen Kinder nicht mehr mit spätestens fünf, sondern erst mit sechs Jahren in den Kindergarten, eingeschult werden sie dann erst mit sieben. Die Schulpflicht sank wieder auf acht Jahre, und auch die Lehrpläne büßten ein, sie wurden umgekrempelt zugunsten „patriotischer und staatsbürgerlicher Grundlagen, des Gefühls der Identität und des nationalen und kulturellen Bewusstseins“.
Auswendiglernen steht seitdem wieder hoch im Kurs, kritisches Denken und selbständiges Arbeiten haben an Stellenwert verloren. Die Hauruck-Reform der PiS-Partei verursachte zudem ein organisatorisches Chaos. Etliche Schulen waren baulich noch nicht bereit, neue Lehrpläne bauten teilweise nicht auf alten auf, Inhalte wie die Französische Revolution fielen mancherorts komplett unter den Tisch. Lehrer klagen, das inhaltliche Chaos dauere in Teilen bis heute an. Ob Polen angesichts seiner Rolle rückwärts im Schulwesen die noblen Pisa-Plätze auch noch beim nächsten Durchlauf im Jahr 2021 verteidigen kann, ist fraglich. Florian Hassel
Japan - Lesen fällt schwer
Eigentlich dachten Japans Bildungspolitiker, ihre empfindlichste Niederlage längst hinter sich zu haben - die japanische Version des Pisa-Schocks liegt immerhin 15 Jahre zurück. Damals stürzten die Schülerinnen und Schüler in der Disziplin Lesekompetenz von Platz acht auf 14. Eine Debatte setzte ein, die Praxis des Yutori, des milderen Unterrichts, kam auf den Prüfstand.
Und jetzt? Schon wieder sind Japans 15-Jährige beim Lesen abgerutscht, wieder von Platz acht - aber diesmal auf den Tiefststand seit Beginn der Tests: Platz 15. So ungelegen kam das dem Bildungsministerium, dass es die Schuld dem veränderten Design der Studie zuschob. Japans Jugendliche seien es nicht gewohnt, lange Texte am Computer zu lesen - das verlangt Pisa erst seit 2015 von ihnen.
Allerdings passt das enttäuschende Ergebnis auch recht gut zu der Kritik, die japanische Schulbildung lege zu wenig Wert auf den freien Ausdruck. Denn vor allem die Fragen, bei denen statt einfacher Kreuzchen selbst formulierte Antworten gefordert waren, brachten Japans 15-Jährige in Rückstand, wie OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher feststellte. Das Bildungsministerium räumte dann auch ein, dass Nippons Jugend beim Verstehen von Texten noch Entwicklungspotenzial hat.
Allzu dramatisch fand man die Resultate aber wohl nicht. Selbst beim Lesen lagen sie schließlich über dem Durchschnitt. Und in den anderen beiden Sparten waren die japanischen Jugendlichen schlicht gut: Unter den 37 OECD-Mitgliedern belegten sie Platz eins in Mathematik und Platz zwei in Naturwissenschaften. Außerdem: Lesen ist in Japan ziemlich schwierig, wenn man bedenkt, dass die japanische Schriftsprache gleich drei Alphabete und mehr als 2000 aus chinesischen Zeichen entstandene Kanji bereithält. Thomas Hahn
Spanien - blamable Noten
Selten hat die Pisa-Studie in Spanien für so viel Aufregung gesorgt wie dieses Mal. In der Tat sind die Testergebnisse ziemlich unerfreulich: In den Naturwissenschaften sackten die Schüler ab auf einen neuen Tiefstand, in Mathematik ging es ebenfalls weiter bergab. Und die Resultate in der Sparte Leseverständnis wurden erst gar nicht bekannt gegeben, weil die OECD bei den 2018 durchgeführten Tests auf Unregelmäßigkeiten gestoßen sein will. In der Gesamtbilanz fällt Spanien knapp unter den Durchschnitt der getesteten Staaten, was Kommentatoren als blamabel für das fünftgrößte EU-Land bezeichnen.
Bei so viel schlechter Stimmung ist der politische Streit nicht weit: Die Sozialisten machen für die Resultate die Sparmaßnahmen der bis 2018 regierenden Konservativen verantwortlich. Unter ihrer Ägide wurden im ganzen Land mehr als 2000 Lehrerstellen gestrichen, Junglehrer mussten sich mit prekären Arbeitsverträgen zufriedengeben, Klassenstärken erhöhten sich. Doch die Konservativen verweisen darauf, dass Bildung Sache der Regionen ist. Und da liegen bei den Pisa-Tests die konservativ regierten Regionen Madrid, Kastilien-Leon und Galicien klar vorn - während Andalusien, bis vor einem Jahr Hochburg der Sozialisten, das Schlusslicht ist. Ähnlich schwach schneiden die beiden nordafrikanischen Enklaven Ceuta und Melilla ab.
Unklar ist indes, wer die Schuld an den angeblichen Unregelmäßigkeiten bei den Lesetests trägt. Wie in vielen anderen Ländern haben auch die spanischen Behörden die Durchführung der Tests Privatfirmen übertragen. Es wird vermutet, dass ein Teil des Materials, mit dem die Schüler auf die Testformate vorbereitet wurden, inhaltlich mit den endgültigen Aufgaben übereinstimmte. Jedenfalls fiel bei Stichproben auf, dass Schüler bei Fragen zum Verständnis des Inhalts nicht, wie es normal gewesen wäre, mehrere Sekunden überlegen mussten, sondern spontan die richtigen Antworten gaben. Die OECD wiederholte ihre Empfehlung an die spanische Bildungspolitik, das kritische Denken und selbständige Arbeiten zu fördern und das Auswendiglernen zurückzufahren. Spanien ist in der EU das Land mit dem höchsten Anteil an Arbeitslosen unter den Hochschulabsolventen. Thomas Urban
Sueddeutsche 11.12.2019
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