Tief ins Gehirn Die elektrische Stimulation von Nervenzellen gilt neuerdings wieder als Allheilmitt

Sep 01, 2019 11:00

Tief ins Gehirn

Die elektrische Stimulation von Nervenzellen gilt neuerdings wieder als Allheilmittel gegen neurologische Erkrankungen. Dabei wissen die Mediziner noch nicht mal genau, was dabei im Kopf passiert

Von Boris Hänssler

Die Geschichte der Medizin ist reich an Grausamkeiten. Man würde sie gerne vergessen, hätten sie die Medizin nicht vorangebracht. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren implantierte der amerikanische Psychiater Robert Galbraith Heath an der Tulane-Universität in New Orleans 50 Menschen Elektroden im Gehirn, um die Auswirkungen elektrischer Impulse auf Gefühle zu erforschen. Heath wollte das Gehirn stimulieren, um Euphorie zu erzeugen und um psychotische Patienten, die sich in sich zurückgezogen hatten, in die Realität zurückzuholen. Er hatte teilweise Erfolg, aber er kannte keine Grenzen. Für seine Experimente hatte er vermutlich keine Zustimmung eingeholt, zudem versuchte er, einem homosexuellen Mann durch Stimulation beim Sex mit einer Prostituierten gute Gefühle zu induzieren, um ihn zu „heilen“. Auch vor Experimenten an Strafgefangenen schreckte er nicht zurück.

Heute gilt er dennoch als Pionier der tiefen Hirnstimulation, eine Methode, in die Mediziner große Hoffnungen setzen. Einige Forscher glauben, ein Allheilmittel gegen sämtliche Erkrankungen des Gehirns gefunden zu haben: Strom gegen Alzheimer, Zwangsstörungen, essenziellen Tremor, Epilepsie, Schlaganfall, Multiple Sklerose, ADHS, Tourette-Syndrom und sogar gegen Tumore. Aber Heaths Nachfolger wissen immer noch nicht genau, warum die Stimulation in einigen Fällen funktioniert und in anderen nicht - und welche Langzeitfolgen sich für die Patienten ergeben könnten.

Eigentlich ist es naheliegend, Gehirnstörungen mit Elektrizität zu behandeln. Das Gehirn besteht aus Milliarden von Neuronen, die in komplexen Netzwerken organisiert sind. Ein Neuron kann mit bis zu mehreren Hunderttausend anderen Nervenzellen über sogenannte Synapsen verknüpft sein. Diese faserartigen Strukturen dienen als Transportwege für elektrische Impulse. Die Netzwerke tauschen damit laufend Informationen aus. Auf diese Weise denken und fühlen wir. Bei Erkrankungen des Gehirns funktioniert dieses System nicht mehr richtig. Forscher vergleichen das oft mit einem Orchester, dessen Instrumente im Idealfall perfekt harmonieren. Bei einer Erkrankung ist die Harmonie gestört - einige Instrumente produzieren falsche Töne. Ein Dirigent muss versuchen, die Harmonie wiederherzustellen. Die Hirnstimulation erfüllt demnach diese Funktion - sie soll die fehlerhaften elektrischen Aktivitäten korrigieren.

Dafür gibt es verschiedene Ansätze. Als bisher größter Erfolg erwies sich die tiefe Hirnstimulation bei Parkinson-Kranken. Mit ihr hat die Medizin inzwischen mehr als 30 Jahre Erfahrung. Dabei werden operativ Sonden im Gehirn implantiert, die einen elektrischen Strom produzieren. Er lindert unter anderem den sogenannten Tremor, des typische Zittern bei Betroffenen. Für Patienten ist es oft eine immense Erleichterung. „Ihnen gelingt es mit der medikamentösen Therapie nicht mehr, eine ausreichende Lebensqualität zu erreichen“, sagt Volker Arnd Coenen, Professor für Neurochirurgie am Universitätsklinikum Freiburg.

Bei Parkinson sterben Neuronen ab, die Dopamin produzieren, einen Botenstoff, den das Gehirn benötigt, um Bewegungen zu koordinieren. Der Mangel verursacht eine Art Kommunikationsstörung: Einige Gehirnareale werden überaktiv, andere unteraktiv. Folge sind Zittern, Bewegungsverlangsamung, Steifheit sowie - unter Therapie - Überbewegungen. Die Stimulation wirkt dem entgegen. „Die tatsächlichen Wirkungsmechanismen haben wir aber noch nicht vollständig verstanden“, sagt Bernhard Haslinger, Oberarzt und Leiter des Bereichs Bewegungsstörungen an der Neurologischen Klinik der Technischen Universität München. „Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, wie lange wir dies schon einsetzen.“ Lange Zeit gingen Forscher davon aus, dass der Strom überaktive Kerngebiete im Gehirn einfach deaktiviere. „Tatsächlich scheint es eher so, dass die Stimulation die fehlerhafte Aktivität im Gehirn aktiv stört und so die Symptome schwächt“, sagt Haslinger.

Die Sonden senden 130 elektrische Impulse pro Sekunde durch die betroffenen Gehirnareale, Tag und Nacht, von denen die Patienten in der Regel nichts mitbekommen. Allerdings nehmen einige Patienten die Sonden als Fremdkörper wahr, auch die psychosozialen Folgen von Gehirnimplantaten sind noch nicht ausreichend untersucht.

Der operative Eingriff dauert im Schnitt mit Vorbereitung sechs bis sieben Stunden. Die Chirurgen verbinden die Sonden - Mikroelektroden - über Drähte mit dem batteriebetriebenen Stimulator, wobei alles unter der Haut platziert wird. Der Eingriff ist nicht ohne Risiko: Die Elektroden müssen durch intaktes Hirngewebe zum Zielort transportiert werden. Es kann in seltenen Fällen zu Entzündungen oder Blutungen kommen. Letzteres betrifft bis zu bis zwei Prozent der Patienten. Negative Langzeitfolgen haben Ärzte bislang nicht festgestellt. Jedoch müssen sie den Stimulator für die optimale Wirkung bei jedem Patienten individuell programmieren. „Es dauert etwa ein halbes Jahr, bis das System optimal eingestellt ist“, sagt Coenen.

Die Technik hat sich in den vergangenen 30 Jahren deutlich verbessert. Mittels Kernspintomografie konnten die Forscher den zu stimulierenden Gehirnbereich eingrenzen, um die umgebenden Strukturen nicht in Mitleidenschaft zu ziehen. Ein Ziel aktueller Arbeiten ist, nicht mehr dauerhaft zu stimulieren, sondern mithilfe von maschinellem Lernen die Stimulation an die Gehirnaktivitäten anzupassen. Coenen sagt: „Das wäre ein sogenannter Closed Loop: Die Sonden reagieren direkt auf die Symptome. Das wirkt effektiver, spart Batterie und reduziert möglicherweise die Nebenwirkungen der Dauerstimulation.“

Mit der Technik behandeln Ärzte inzwischen auch das Zittern, das in seltenen Fällen bei Multipler Sklerose auftritt, sowie den sogenannten essenziellen Tremor. Letzterer kann Menschen meist im mittleren Lebensabschnitt betreffen. Gängige Therapie ist ein Betablocker, ein Medikament, das Adrenalin hemmt. Bei einigen Betroffenen ist der Tremor jedoch so stark, dass er den Alltag einschränkt. Sie fühlen sich stigmatisiert, weil sie zum Beispiel im Restaurant angestarrt werden.

Die tiefe Hirnstimulation ist nicht für alle Patienten geeignet - bei Parkinson oft für ausgerechnet jene nicht, die auch nicht gut auf Medikamente ansprechen. Zudem kommen alte Patienten oder Patienten mit starken kognitiven Einschränkungen nicht infrage, weil bei ihnen die Operationsrisiken zu hoch sind. Unter anderem deshalb bemühen sich Forscher um nichtinvasive Alternativen.

An der Universität Bonn etwa forscht man an einem Verfahren, das auf Ultraschall basiert. Dabei erzeugt der fokussierte Schall kleinste Läsionen im Gehirn, die ähnlich wirken wie die Störungen durch Strom. Jüngere Studien zeigten bei Patienten mit mittelschwerem bis schwerem essenziellen Tremor nach drei Monaten eine Verbesserung um 47 Prozent. Erst nach ein bis zwei Jahren nahm die Wirkung langsam ab. Bei vielen Studienteilnehmern traten jedoch Gangstörungen und Taubheitsgefühle auf, bei ungefähr jedem zehnten anhaltende Kopfschmerzen, Bewegungs-, Gleichgewichts- und Geschmacksstörungen sowie Müdigkeit. Außerdem kommen nur Patienten mit einer bestimmten Schädeldichte für die Behandlung infrage.

Auch die sogenannte Transkranielle Magnetstimulation (TMS), das vielversprechendste nichtinvasive Verfahren, macht nur kleine Fortschritte. Dabei befestigen Ärzte den Patienten eine Kupferspule am Kopf. Für den Bruchteil einer Millisekunde induziert sie ein starkes Magnetfeld im Gehirn. Die Patienten hören ein Klickgeräusch und spüren ein leichtes Klopfen auf der Kopfhaut. „Durch die magneto-elektrische Induktion entsteht ein Stromfluss im Gehirn, das heißt, das Magnetfeld dient nur als Trojanisches Pferd, um Strom schmerzlos ins Gehirn zu bringen,“ sagt der Neurowissenschaftler Til Ole Bergmann am Deutschen Resilienz-Zentrum (DRZ) in Mainz. „Durch die Stimulation im Bereich der Hirnrinde, der für die Bewegung der Muskeln zuständig ist, gelingt es damit etwa, bei Probanden eine leichte Bewegung eines Fingers auszulösen.“ Die TMS kann jedoch nur wenige Zentimeter tief in das Gehirn eindringen. Evidenz für eine zumindest kurzfristige Wirksamkeit der TMS gibt es bislang nur bei Depressionen, Schmerzen und Schlaganfällen.

Gerade bei Schlaganfällen hoffen Mediziner, die Rehabilitation zu verbessern. Bergmann sagt: „Normalerweise hemmen sich die beiden Hirnhälften gegenseitig. Durch den Schlaganfall ist die eine Hirnhälfte gestört, weshalb die andere Hemisphäre überaktiv ist und dabei die schon geschwächte umso mehr hemmt.“ Es komme zu einem Ungleichgewicht, das die Rehabilitation erschwere. Mit der Stimulation wolle man versuchen, die geschwächte Seite anzuregen oder die aktive zu schwächen. Letzteres ist sicherer, da die TMS von geschädigtem Hirngewebe prinzipiell Krampfanfälle auslösen kann. Allerdings funktioniere die Stimulation nicht nachhaltig, da sie die Ursache nicht behebt. „Das ist der große Knackpunkt bei allen Anwendungen. Auch wenn es effektiv ist, hält es oftmals leider nicht lange an.“

In dem europäischen Forschungsprojekt „ConnectToBrain“ versuchen Forscher um den Neurologen Ulf Ziemann von der Universität Tübingen, dieses Problem an den Beispielen Schlaganfall und Alzheimer-Demenz zu lösen. Sie setzen mehrere Magnetspulen in eine helmartige Vorrichtung ein. Deren Felder überlagern sich, sodass sie mit höherer räumlicher Präzision jeden Ort der Gehirnrinde erreichen können. „Wir erwarten eine Genauigkeit und Auflösung im Bereich von drei Quadratmillimetern“, sagt Ziemann. „Die Stärke des induzierten Feldes kommt zwar auch hier nicht in die tiefen Kerngebiete hinein. Aber wir wissen ziemlich genau, dass wir bestimmte Punkte stimulieren können und so das gesamte Netzwerk indirekt anregen. Die Impulse breiten sich dann bis in tiefgelegene Strukturen aus.“

Zudem kombinieren die Forscher die Spulen mit Elektroenzephalografie (EEG), sodass sie in Echtzeit die Reaktion auf die Impulse messen können. Das EEG erfasst Spannungsschwankungen an der Kopfoberfläche und gibt Rückschlüsse darauf, was im Gehirn passiert. „Unser Ziel ist, diese Stimulationsprotokolle an den individuellen instantanen Zustand des Gehirns anzupassen“, sagt Ziemann. Auch hier entstünde ein Closed Loop. „Wir denken, dass wir dann zahlreiche neurologische Netzwerkerkrankungen des Gehirns irgendwann mit so einem System behandeln können.“ Allerdings gibt Til Ole Bergmann aus Mainz zu bedenken, dass bei neurodegenerativen Erkrankungen die Zellen absterben - dies lässt sich durch Stimulation nicht aufhalten. Somit hat auch der Kampf gegen die Symptome Grenzen.

Dafür gibt es auch außerhalb des medizinischen Bereichs mögliche Anwendungen für die Magnetstimulation. Ein Forscherteam um Jost-Julian Rumpf vom Universitätsklinikum Leipzig und Gesa Hartwigsen vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften versucht, auf diese Weise das Lernen zu erleichtern. So weiß man, dass das Gehirn durch Wiederholung lernt, Bewegungen besser zu steuern, sei es beim Schreiben oder beim Klavierspiel. In einem Versuch wurden die Teilnehmer deshalb gebeten, immer wieder die gleichen Bewegungen auszuführen, unterbrochen von wenigen Sekunden Pause. „Wir haben genau in diesen Pausen das Gehirn stimuliert, und obwohl es in diesem Moment keine Bewegungen koordiniert, führte die Stimulation zu einer Verfestigung des Gelernten - die Versuchsteilnehmer konnten die gelernten motorischen Sequenzen später besser abrufen“, sagt Hartwigsen. Allerdings sei ein solcher Ansatz bei komplexen Lernprozessen deutlich schwieriger umzusetzen, denn hier seien größere, wenig bekannte Netzwerke beteiligt.

Womöglich ist bei der TMS das Anwendungsspektrum ähnlich begrenzt wie bei der tiefen Hirnstimulation. „Das Gehirn ist ein unheimlich fein austariertes System, welches bei bestimmten Krankheitsbildern gestört ist“, erläutert Bergmann. Die TMS sei eine vergleichsweise grobe Methode. „Wenn Sie auch nur einen Kubikmillimeter stimulieren, sind das trotzdem Millionen von Synapsen. Das ist, als würden Sie versuchen, eine Schweizer Uhr mit Vorschlaghammer zu reparieren.“

Süddeutsche 24.8.2019

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