s gibt kein Menschenrecht auf Glück Und auch keine Pflicht, danach zu streben von Maurizio Ferrari

Jan 17, 2019 10:50

Es gibt kein Menschenrecht auf Glück

Und auch keine Pflicht, danach zu streben

von Maurizio Ferraris*

Die Vorstellungen vom Glück wandeln sich über die Zeiten hinweg. Und nicht jeder versteht dasselbe darunter. Und doch gehört die Sehnsucht nach dem Glück zu einer Konstante des Daseins.

Die Vorstellungen von Glück sind so unterschiedlich, dass sie an Tolstois Aussage, alle glücklichen Familien ähnelten sich, zweifeln lassen oder zumindest die Frage aufwerfen, ob mit Glück immer ein und dasselbe gemeint sei. Um eine äußerst schematische Antwort auf diese Frage zu versuchen, können wir auf herkömmliche Unterteilungen zurückgreifen: die Alten und die Modernen, die Klassiker und die Romantiker oder, um Schiller zu bemühen, die Naiven und die Sentimentalischen, wobei „naiv“ keineswegs mit unbedarft, sondern vielmehr mit unverfälscht, echt und ursprünglich, während „sentimentalisch“ bei näherer Betrachtung mit ironisch, pervers und künstlich gleichzusetzen ist.

Solche Unterscheidungen sollten mit Vorsicht eingesetzt werden, denn der Mensch besitzt die Gabe, die zugleich sein Unheil ist, auch gegen den Zeitgeist glücklich oder unglücklich sein zu können. Sinnlos sind diese Vereinfachungen dennoch nicht. Das „naive“ Glück der Alten, jenes aus Epikurs „Über das Glück“ oder aus Aristoteles' „Nikomachischer Ethik“, fällt grundsätzlich mit dem Mass zusammen und ist eng mit dem Wissen verwandt. Ein Mensch der Antike oder des Mittelalters, der von „glückseliger Unwissenheit“ spricht, ist nur schwer vorstellbar (dass den Armen im Geiste das Himmelreich versprochen wird, ändert wenig daran).

Der Segen der Unwissenheit ist heute indes aktuell, vom Titel des neuen Films des italienischen Regisseurs Massimiliano Bruno („Beata ignoranza“) bis zum berühmten Ausspruch einer Figur aus „Matrix“ („ignorance is bliss“). Von Sokrates bis Montaigne besteht das Glück im ausgewogenen Verhältnis von Lust und Wissen, das wir in Platos „Philebus“ oder in der „geistigen Glückseligkeit“ von Dante und Cavalcanti finden.

Ein neuer Gedanke in Europa

Die Dinge ändern sich für die Modernen, sie verwickeln sich und werden pervers. Zu welchem Zeitpunkt findet dieser Bruch statt? Das Ende des Ancien Régime stellt mit Sicherheit eine Zäsur dar, wenn wir Talleyrand Glauben schenken wollen (und wir haben keinen Grund, dies nicht zu tun): „Wer die letzten zehn Jahre vor der Revolution nicht erlebt hat, der weiß nicht, was Glück ist“ - wobei unter Glück der Wohlstand zu verstehen ist, den nur Stand und soziale Ungerechtigkeit ermöglichen konnten. Talleyrand ist ein Nostalgiker und ein Reaktionär. Als sich seine Suche nach dem Glück noch am persönlichen Geschmack orientierte („c'est mon plaisir“), hatten die neuen Ideen bereits begonnen, sich rasant auszubreiten.

Das irdische Glück wurde demnach als gemeinschaftliches Projekt begriffen, das weder im Bündnis von Thron und Altar noch in den Boudoirs, sondern allein in der Umwälzung der bestehenden Ordnung und in der Rückkehr zum Naturzustand zu finden war. Wie schon Saint-Just sagte: „Europa soll erfahren, dass ihr auf französischem Boden nicht einen Unglücklichen und nicht einen Unterdrücker mehr dulden wollt.“ (Dabei vergaß er, dass er selbst zumindest ein unglückliches französisches Schicksal herbeigeführt hatte: dasjenige des enthaupteten Unterdrückers Louis XVI.) Saint-Justs Schluss lautet: „Das Glück ist ein neuer Gedanke in Europa!“.

Einerseits gilt die Kultur ab nun als Quelle allen Übels, während die Glückseligkeit mit Unkultur, mit einer künstlich herbeigeführten Naivität verwandt ist. Da ist zum Beispiel Rousseaus edler Wilder, der die geistige Entfaltung seiner Kinder verhindert, um sie von der Last der Gedanken zu befreien. Auch abseits solcher extremen Beispiele scheint klar, dass das Glück eine Art Flucht impliziert - vor der bestehenden Ordnung des Ancien Régime, aber auch vor der Zivilisation als solcher.

Was in der Antike als Barbarei, animalisches Dasein und im besten Fall als asketische Übung für Säulenheilige und thebanische Mönche gegolten hatte, wird nun als seliges Leben betrachtet. Man denke an Thoreau, der sich für zwei Jahre in die Wälder zurückzog, um nach dem Absoluten zu suchen, aber auch an die säkularisierten Versionen davon, die uns der Club Méditerranée, die Campingplätze und der Extremsport anbieten.

Andererseits wird das Glück institutionalisiert. Glücklich zu sein, ist für die Modernen ein Imperativ, der jede andere Pflicht ersetzt - mit widersprüchlichen Folgen, denn das Glücksstreben als Befehl kann nur Leistungsdruck und somit höchstes Unglück erzeugen. Mehr noch: Das Glück ist ein in der Verfassung verankertes Recht (wie dies in den Vereinigten Staaten der Fall ist), das sich überdies berechnen lässt (man denke an das hedonistische Kalkül, das Bentham theoretisierte und Benjamin Constant praktizierte, indem er in seinem Tagebuch jeden Augenblick des Glücks und der Lust mit entsprechenden Zeichen festhielt).

Glück als ideologischer Ballast also, als Ziel für verbissene Streber (an der Harvard University werden Glückswissenschaften gelehrt) und als das zwanghafte Bedürfnis, aus dem der sogenannte „Happysm“ hervorgeht, der uns mit lächelnden Emojis und „Smile!“-Aufforderungen daran erinnert, wie recht die Beatles hatten, als sie das Glück „a warm gun“ nannten. Es ist also nicht verwunderlich, dass das Unglück oder die einfache Abwesenheit von Glück zum Gegenstand sozialer und gewerkschaftlicher Forderungen geworden ist und dabei aus der politischen Debatte ein Spielfeld für Emotionen und Emoticons gemacht hat.

Indem es zur gesellschaftlichen Unterhaltung wird, erfährt das Glück schließlich eine Verschiebung: Was wir heute als „Glück“ betrachten, wäre in der Antike wahrscheinlich anders ausgelegt worden. Sex, Drugs and Rock'n'roll, die im vorigen Jahrhundert als die höchste Form des Glücks galten, wären aus Sicht der Antiken vielmehr dionysische Riten gewesen, die nicht zwingend Glück oder Vergnügen bescheren sollen und deren Grundstimmung am ehesten von der Tragödie vergegenwärtigt wird. Die Verbindung von antiker Tragödie und modernem Glück geht bekanntlich auf Nietzsche zurück, der in der „Geburt der Tragödie“ eine Brücke zwischen Beethovens „Ode an die Freude“ und dem dionysischen Geist schlägt.

Ein unverdientes Geschenk

Sind durch diese Transformationen die Modernen glücklicher oder unglücklicher als die Alten? Die Frage ist an sich natürlich sinnlos, denn die Glücksvorstellungen erzeugen genauso wenig Glück oder Unglück, wie die Ideen der Gerechtigkeit aus uns gerechtere oder ungerechtere Menschen machen können. Gewiss, die Modernen neigen stärker zu Schuldgefühlen, wenn sie unglücklich sind (als ob sie eine grundlegende Forderung nicht erfüllt hätten), und dazu, nicht eingelösten Glücksversprechen nachzutrauern.

Vor allem sind sie weniger dazu bereit, sich mit der Vorstellung anzufreunden, dass Glück weder ein Recht noch eine Pflicht, sondern vielmehr ein flüchtiges und oft unverdientes Geschenk darstellt, aus dem sich keine Forderungen ableiten lassen. Im Gegenteil: Wie Kant zu Recht bemerkte, ist Glückseligkeit höchstens die Belohnung dafür, dass man sich ihrer würdig erwiesen hat.

Als ich vor vielen Jahren die Erinnerungen von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff las, stieß ich auf eine denkwürdige Passage. Der Philologe und Erzfeind von Nietzsche erzählt, wie er am Sterbebett seiner Mutter saß und, um ihr Trost zu spenden, sinngemäß sagte: «Wir sind nicht geboren, um glücklich zu sein, sondern, um unserem Dämon zu folgen.» Im ersten Augenblick schien mir sein Verhalten grausam und nahezu unheilbringend. Heute bin ich anderer Meinung, denn schließlich wollte der Philologe seiner Mutter, die zu jenem Zeitpunkt wenig Grund hatte, glücklich zu sein, einen weiteren Grund ersparen, unglücklich zu sein - nämlich den Verdacht oder die Sorge, nicht glücklich genug gewesen zu sein.■

* Maurizio Ferraris ist Professor für theoretische Philosophie an der Universität Turin und zählt zu den Begründern des neuen Realismus. 2016 ist von ihm bei Klostermann erschienen: «Nietzsches Gespenster. Ein menschliches und intellektuelles Abenteuer». Aus dem Italienischen übersetzt von Federica Romanini.

Luxemburger Wort, Die Warte, 17.1.2019

glück, philosophie

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