Die Mär vom lebenslangen Lernen Die Welt: 25.09.2018 Von Christine Haas Zur Milderung des Fachkr

Sep 26, 2018 11:29

Die Mär vom lebenslangen Lernen
Die Welt: 25.09.2018
Von Christine Haas

Zur Milderung des Fachkräftemangels wäre Weiterbildung der Schlüssel. Doch eine Studie zeigt: Die Teilnahme an den Angeboten stagniert. Die öffentliche Förderung hat demnach sogar abgenommen. Besonders eine Gruppe leidet darunter.

Geredet wird seit Jahren viel über lebenslanges Lernen. Denn in immer mehr Bereichen fehlen Fachkräfte. 1,6 Millionen Stellen können laut dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) längerfristig nicht besetzt werden.

Das Problem: Die naheliegendste Lösung, um diesen Engpass zu überwinden, also entsprechende Qualifizierung, wird zu wenig genutzt. Das zeigt der „Weiterbildungsatlas 2018“ der Bertelsmann-Stiftung. Nahmen im Jahr 2012 noch 12,6 Prozent der Deutschen an Weiterbildungen teil, so lag der Anteil 2015 nur noch bei 12,2 Prozent.

„Anders als man erwarten würde, ist die Teilnahme an Weiterbildung eher rückläufig“, sagt Frank Frick, Leiter des Programms „Lernen fürs Leben“ bei Bertelsmann. „Und gerade bei denen, die eine Weiterbildung dringend bräuchten, um ihre Situation zu verbessern, ist keine Verbesserung in Sicht.“

Gemeint ist die Gruppe der Geringqualifizierten, also der Menschen ohne berufsqualifizierenden Abschluss. Die Arbeitslosenquote ist in dieser Gruppe der Erhebung zufolge mit 20,3 Prozent fünfmal so hoch wie bei allen anderen (4,0 Prozent). Trotzdem nehmen nur 5,6 Prozent der Geringqualifizierten an Weiterbildungsangeboten teil. Das sei alarmierend, heißt es in der Studie. Denn sie liegen damit um zwei Drittel unter der Beteiligungsquote der Durchschnittsbevölkerung.

Das Erschreckende: Die Anstrengungen, um diese große Gruppe, die 13,2 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht, besser zu unterstützen, sind gering. Die öffentlichen Mittel für Weiterbildung seien zwischen 1995 und 2012 von 3,6 auf 1,3 Milliarden Euro gesunken, sagt Bertelsmann-Experte Frick. Untersuchungen der letzten Jahre laufen noch, aber die Tendenz sei bereits erkennbar: „Diese kritische Entwicklung wird sich auch hier bestätigen.“

Gegenläufige Angaben des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) findet Frick nicht plausibel. Das IW hatte gemeldet, dass die Bundesagentur für Arbeit mehr in Weiterbildung investiere, aktuell nämlich rund 1,2 Milliarden Euro. Der dramatische Einbruch der öffentlichen Ausgaben werde damit nicht ausgeglichen, meint Frick, das Niveau sei deutlich niedriger als noch vor einigen Jahren: „Der zentrale Trend des Rückzugs der öffentlichen Finanzierung ist keineswegs gebremst oder gar umgekehrt.“

Auch die Weiterbildungsquote der armutsgefährdeten Menschen in Deutschland ist mit 7,7 Prozent extrem niedrig. Einen Vergleichswert gibt es nicht, da dieses Merkmal von Bertelsmann zum ersten Mal untersucht wurde. Und die Gruppe überschneidet sich zum Teil mit der der Geringqualifizierten. Doch Frick sagt: „Gerade hier gibt es zu wenige Angebote. Denn viele von ihnen - zum Beispiel Alleinerziehende - bringen die Voraussetzung mit, um sich auf hohem Niveau weiterzubilden.“

Neben den einzelnen Bevölkerungsgruppen nimmt die Studie auch die einzelnen Bundesländer in den Fokus. Spitzenreiter ist hier Baden-Württemberg mit einer Weiterbildungsquote von 15,3 Prozent. „Berücksichtigen muss man, dass die Voraussetzungen in den einzelnen Regionen sehr unterschiedlich sind“, sagt Frick. „Baden-Württemberg ist eine wirtschaftlich boomende Region. Es sind viele große Unternehmen angesiedelt, die stark in Weiterbildung investieren.“ Zudem sei die Infrastruktur gut ausgebaut, sodass die Bevölkerung die Orte, an denen die einzelnen Maßnahmen angeboten würden, leicht erreichen könne.

Auch wenn man diese guten Voraussetzungen berücksichtigt, zeigt sich laut der Studie, dass das Bundesland überdurchschnittlich gut abschneidet. Die Erhebung berücksichtigt nämlich, wie die Regionen ihr Potenzial ausschöpfen. Werden die Erwartungen genau erfüllt, liegt der Wert bei 100 Prozent. Und das Land des grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann ist auch hier ganz vorne - vor Rheinland-Pfalz, Sachsen und Thüringen.

Besonders schlecht sieht es hingegen im Saarland aus: Nur 7,8 Prozent der Menschen nahmen an einer Weiterbildung teil, und auch das Potenzial wurde nur zu drei Vierteln ausgeschöpft. Eine Erklärung für dieses schlechte Abschneiden kann Frick nicht geben, doch er weist darauf hin, dass einzelne Bundesländer unterschiedlich stark für ihre Weiterbildungsangebote werben: „Wer online etwa Atlanten mit den einzelnen Angeboten zur Verfügung stellt und so Transparenz schafft, erreicht die Öffentlichkeit viel besser.“

Mehr Transparenz würde er sich auch bei der Qualität der Weiterbildung wünschen. Bislang bestehe keine Möglichkeit zu vergleichen, ob ein Kurs besser oder schlechter ist als ein anderer. Nur weil sich in Baden-Württemberg besonders viele Menschen weiterbilden, sind sie dort nicht automatisch am qualifiziertesten. „Beim Erfolg der Weiterbildung hängt so viel davon ab, wie gut die einzelnen Lehrkräfte sind“, sagt Frick. „Doch dazu lässt sich gar nichts sagen; jeder kann sich ‚Weiterbilder‘ nennen, ohne dass er festgelegte Voraussetzungen erfüllen muss.“ Nötig seien mehr Investitionen in die Qualitätssicherung.

Rückschlüsse darüber, wie zumindest ein Teil der Teilnehmer zu den von ihnen in Anspruch genommenen Maßnahmen steht, lassen sich durch die aktuelle „Erfolgsstudie Weiterbildung“ des DIHK ziehen. Befragt wurden rund 17.500 Teilnehmer, die einen Abschluss der Höheren Berufsbildung bei einer Industrie- und Handelskammer abgelegt haben. Das Ergebnis: 65 Prozent von ihnen gaben an, dass die Weiterbildung einen positiven Effekt auf ihre berufliche Entwicklung gehabt habe.

Beobachten lässt sich, dass sich die Motivation der Bewerber über die Zeit deutlich verändert hat. So war die Sicherung des Arbeitsplatzes im Jahr 2010 noch für 29 Prozent ein wichtiger Grund, an einer Weiterbildung teilzunehmen. In der aktuellen Studie war er nur noch für elf Prozent ausschlaggebend - ein Hinweis darauf, dass Fachkräfte angesichts der guten wirtschaftlichen Entwicklung weniger Angst vor Arbeitslosigkeit haben. Die meisten Teilnehmer erhoffen sich beruflichen Aufstieg (66 Prozent) oder ein höheres Einkommen (46 Prozent).

Unterschiede zeigen sich auch zwischen den Geschlechtern: 70 Prozent der Männer gaben an, dass Weiterbildung sich beruflich positiv auswirke, bei den Frauen waren es nur 60 Prozent. Allerdings steht der Karriereaufstieg für Frauen (59 Prozent) auch seltener im Fokus als für Männer (71 Prozent). 85 Prozent der Frauen sagen zudem, dass sie an Souveränität gewonnen haben.

Welt 25.9.2018

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