Jul 10, 2017 12:20
Gewalt und Pferdezucht
Im Labyrinth des Palazzo Ducale in Mantua wird der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit anschaulich: Ein Besuch bei dessen Direktor Peter Assmann, der zwischendurch seines Amtes enthoben war
Von Thomas Steinfeld
Vom Kaiser zum Verräter erklärt, verließ der letzte Herzog von Mantua seine Stadt im Januar 1707 und floh nach Venedig. Im Gepäck des Ferdinando Carlo di Gonzaga sollen sich tausend Gemälde befunden haben. Zurück blieben ein kleines Gemeinwesen in strategisch einzigartiger Lage, eingeschlossen zwischen drei künstlichen Seen, und ein über Jahrhunderte zu einer gigantischen Anlage gewachsener Palast. Mit der Flucht setzte eine lange Geschichte des Niedergangs ein. In Giuseppe Verdis Oper „Rigoletto“, uraufgeführt im Jahr 1851, erscheint die Stadt Mantua als ein Ort für gespenstische Höflinge, intrigante Zwerge und Mörder, die ihren vermeintlich getöteten Herzog in einen Sack stecken und bei Nacht und Nebel im See versenken wollen. Erst im späten 19.Jahrhundert begann man, sich um den Erhalt des Palastes zu kümmern, nachdem die Stadtmauern und die Tore abgerissen worden waren. Und erst im späten 20. Jahrhundert fing man an, den Palazzo Ducale als das zu behandeln, was er ist: als einen der wichtigsten Repräsentationsbauten, die es in Italien, dem an Kunstschätzen so reichen Land, überhaupt gibt.
Als Dario Franceschini, der italienische Kulturminister, im Herbst 2014 ankündigte, die Leitungsposten der zwanzig bedeutendsten Museen des Landes neu besetzen zu wollen, und zwar nach einer internationalen Ausschreibung, war die Aufregung groß - nicht nur, weil es wenig Grund zu geben schien, verdiente Direktoren aus ihren Ämtern zu entfernen, sondern auch, weil Nicht-Italiener in solchen Positionen nicht vorgesehen waren. Die Aufregung wurde noch größer, als sich bei der Vorstellung der zwanzig neuen Direktoren herausstellte, dass sieben von ihnen tatsächlich Ausländer sind, darunter der Leiter des berühmtesten aller staatlichen italienischen Museen, nämlich der Uffizien in Florenz. Auch der Palazzo Ducale in Mantua erhielt einen Direktor aus dem Ausland: den Österreicher Peter Assmann, der zuvor unter anderem die oberösterreichischen Landesmuseen geleitet hatte. Im ersten Jahr seiner Amtsführung stieg die Zahl der Besucher im Palazzo Ducale um mehr als die Hälfte, auf jetzt mehr als 360000 Menschen im Jahr. Das sind mehr Besucher, als etwa in der Accademia in Venedig gezählt werden.
Zehn Mal mindestens wird man den langen Weg gegangen sein müssen, der vom Eingang des Palazzo Ducale zum Zimmer des Direktors führt, bis man die Route allein findet: zuerst durch einen Säulengang, der an einem kleinen Park entlangführt, in dem Schildkröten leben, dann eine hohe, weite Treppe hinauf, daraufhin durch ein Gewirr von kleinen, niedrigen, aber reich geschmückten Räumen, die man die „Wohnung der Zwerge“ („Appartamento dei Nani“) nennt, an einer Flucht hoher Fenster vorbei, in deren Laibung Soldaten der Wehrmacht ihre Truppenzeichen hinterließen. Ein riesiges Labyrinth ist diese Anlage. Ein mittelalterlicher Palazzo gehört dazu und eine Burg aus der Zeit um 1400, große Paläste und kleine Häuser aus allen Perioden der Renaissance und des frühen Barock, eine noch existierende, große Kirche und eine verschwundene, die in andere Gebäude einging, ein halbes Dutzend grüne Innenhöfe oder Gärten, teilweise hängend, Verbindungsgänge, Spiegelsäle, offene und geschlossene Galerien, Fluchten ohne Zahl. Gerne hätte man den Riesenpalast gesehen, nachdem auch die Österreicher die Stadt verlassen hatten, um das Jahr 1880 vielleicht, wenn möglich an einem Novembermorgen, als der Palazzo, ganz und gar aus der Geschichte gefallen, in seiner kolossalen Verlassenheit dalag und nicht einmal eine rußende Fackel das Grau erhellte.
Immer wieder heißt es, der Palazzo Ducale habe fünfhundert Räume. Das könne nicht stimmen, sagt Peter Assmann. Er hat sein Büro in einem der minder prächtigen Säle und besitzt einen Fächer, mit dem er ein wenig frische Luft herbeiwedelt. Es ist heiß und schwül, und eine Klimaanlage gibt es im Palazzo nur in wenigen Sälen. Er habe von verlässlicher Seite gehört, dass es sich tatsächlich um mehr als tausend Räume handele, und wenn er durch sein Haus gehe, komme ihm die Zahl plausibel vor. Wenn er spricht, hört man, dass er sich noch immer auf Entdeckungsreise befindet: im „studiolo“, den beiden Studierzimmern der Isabella d’Este (1474 bis 1539) zum Beispiel, der wichtigsten Politikerin und Kunstmäzenin der Renaissance. Die Gemälde, die sie für das Studierzimmer hatte anfertigen lassen, unter anderem von Mantegna, hängen schon lange nicht mehr dort (die beiden Mantegnas befinden sich im Louvre). Aber die Räume sind ansonsten nicht angetastet, die Täfelungen sind noch da, die Intarsien - und die in Holz gelegte Zahl „XXVII“ im Übergang zur Decke des einen Raumes, von der man nicht weiß, ob sie ein Wortspiel ist oder eine Reverenz an die Kabbala.
Vor einem Monat wurde Peter Assmann seines Amtes enthoben. Über tausend Bewerbungen hatte es im Herbst 2014 für die zwanzig Direktorenposten gegeben. Einige der unterlegenen Kandidaten hatten gegen das Verfahren geklagt. In fünf Fällen gab ein Verwaltungsgericht den zurückgewiesenen Kandidaten recht: weil die Kommission Bewerbungsgespräche über Internet („Skype“) geführt hatte, was den Ansprüchen an die Öffentlichkeit des Verfahrens nicht genügte, und weil es ein Gesetz aus dem Jahr 2001 gibt, in dem es heißt, staatliche Führungspositionen seien mit Italienern zu besetzen.
Während sich in Italien ein paar rechte und ein paar linke Nationalisten freuten, fand sich die ausländische Presse in einem Vorurteil bestätigt: dass in Italien der Klüngel herrsche, immer und überall. Das könne man aber nicht sagen, meint Peter Assmann. Es sei in den meisten Ländern so, dass man die Hoheitsverwaltung mit Bürgern des eigenen Staates besetze. Oder gebe es in Deutschland Leiter von großen Behörden, Polizeipräsidenten etwa, die keine Deutschen wären? Das besonders Italienische an diesem Gesetz bestehe weniger in seinem Protektionismus als vielmehr darin, dass den Direktoren der großen Museen derselbe politische Rang wie den Präfekten (in der deutschen Verwaltung: den Regierungspräsidenten) zugemessen werde.
Im Aufgang zum Museumstrakt hängt ein Gemälde des Veroneser Künstlers Domenico Morone aus dem Jahr 1494. Vom damaligen Markgrafen von Mantua in Auftrag gegeben, zeigt es, wie dessen Geschlecht, eben die Gonzaga, ihre Vorgänger als Herren über die Stadt und das dazugehörige Territorium dahinmetzeln. Das Bild ist, ohne irgendeinen Vorbehalt, eine Verherrlichung der Gewalt. Ihr blieben die Markgrafen (nach 1530: die Herzöge) von Mantua ebenso treu wie der Pferdezucht - wovon sowohl im Palazzo Ducale als auch im Palazzo Te, dem Lustschloss im Süden der Stadt, zahlreiche individualisierte Pferdeporträts zeugen. Und noch etwas ist bei den Gonzaga von vornherein gegenwärtig: ein lebendiges Interesse an der Bildung, ein ungebrochenes, sich immer wieder erneuerndes Interesse an den Künsten und an der Wissenschaft, ein Bewusstsein von Modernität. Diesen Neigungen verdankt auch das berühmteste Kunstwerk im Palazzo Ducale, Andrea Mantegnas Fresken in der „Camera picta“ (heute eher „Camera degli Sposi“, „Kammer der Brautleute“, genannt; 1465 bis 1474) genannt, seine Entstehung. Zum ersten Mal wird darin in einer Wandbemalung ein offener Raum vorgetäuscht, zum ersten Mal auch eine Familie (oder besser: eine Dynastie) aus gleichsam ewiger Perspektive dargestellt, in einer einzigartigen Dialektik des Schauens und des Angeschaut-Werdens.
Es gibt ein Argument dafür, die großen italienischen Museen von einheimischen Fachleuten betreuen zu lassen. Sie sind in der Mehrzahl keine nationalen Einrichtungen, sondern jeweils aus einer besonderen historischen Konstellation in einer bestimmten Region hervorgegangen - so wie die Uffizien, die in ihrer Stadt zuerst als eine Einrichtung der Bürgerschaft, dann als eine Institution der Toskana und erst zuletzt als eines der bedeutendsten Museen der Welt wahrgenommen werden. In Mantua liegen die Verhältnisse anders, denn der Fürstenhof und die umliegende, von Landwirtschaft und mittelständischer Industrie geprägte Region sind zwei sehr verschiedene Angelegenheiten. Mantua ist nicht abgelegen. Die Stadt liegt knapp fünfzig Kilometer südlich von Verona, an der Autobahn, die von München nach Bologna und Florenz führt. Aber dennoch ist es, als läge hier eine befremdliche Welt, die nicht nur aus der Historiografie, sondern auch aus der Geografie gerutscht ist.
Die Amtsenthebung sei ein Schock gewesen, sagt Peter Assmann, nicht nur für ihn, sondern für alle Beteiligten einschließlich des Ministers. Damit habe niemand gerechnet. Drei Wochen später konnte er in sein Amt zurückkehren. Die Regierung hatte beim Staatsrat eine einstweilige Verfügung gegen die Entscheidung des Amtsgerichts durchgesetzt. Einen endgültigen Beschluss wird es wohl erst im Oktober geben, auch wenn es jetzt schon ein neues Gesetz gibt, nach dem Ausländer in Italien Museumsdirektoren werden dürfen.
Mantua, sagt Peter Assmann voller Zuversicht, sei etwas unerhört Komplexes, das in seiner Weltgeltung noch unbekannt sei. Wenige Orte gebe es, an denen man den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit so anschaulich repräsentiert finde, in der labyrinthischen Anlage des Palazzos zum Beispiel, in Mantegnas Fresken, in einem einige Jahrzehnte zuvor entstandenen, riesigen Wandgemälde Pisanellos, das ein Turnier darstellt und die Geschichte der Gonzaga als Ritterroman erzählt. Je länger Peter Assmann spricht, desto mehr entpuppt sich der Palazzo Ducale als Wunderkammer: mit den Resten, die Napoleons Truppen von Rubens’ Gemälde „Die Familie Gonzaga in Anbetung der Heiligen Dreifaltigkeit“ (1604/05) zurückließen, mit einem Altar von Cima da Conegliano (um 1500), der, in Folie verpackt, in einem stillen Winkel des Labyrinths steht und darauf wartet, an eine prominente Stelle gerückt zu werden, mit der Kirche Santa Barbara, einem der ersten nach dem Konzil von Trient (1545 bis 1563) errichteten Sakralbauten - mit einer der Musik gewidmeten Architektur, in der sich die Orgel gegenüber der Empore für den Chor befindet.
Mit dem „Appartamento dei Nani“ hat es eine besondere Bewandtnis. Lange hatte man glauben wollen, es sei tatsächlich die Heimstatt der Hofzwerge gewesen, die auf Mantegnas Wandgemälde so sorgfältig porträtiert sind. Dann wurde jedoch nachgewiesen, dass diese Räume einen miniaturisierten Nachbau der Scala Santa und der angrenzenden Räume in der Lateranbasilika in Rom darstellen und vermutlich zu religiösen Zwecken benutzt wurden. Das geschah im Jahr 1979. Es passt zu Mantua, dass eine der größten architektonischen Seltsamkeiten des Palazzo Ducale erst nach Jahrhunderten aufgeklärt werden konnte - und seine Seltsamkeit behält.
Süddeutsche Zeitung, Montag, den 10. Juli 2017, Seite 12
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