Apr 24, 2017 10:27
Besser im Plural
Stellen Zweifel an der Globalisierung auch das junge Fach der Globalgeschichte infrage? Nein - denn historisch ist die Entwicklung hin zur Weltgesellschaft keineswegs zwangsläufig
Nach dem Fall der Berliner Mauer schien die Globalisierung unaufhaltsam zu sein. Für Befürworter wie für Kritiker wurde sie zum Begriff unserer Epoche. Eine Serie im SZ-Feuilleton fragt, ob die weltweite Verflechtung in der Ära von Donald Trump durch Populismus und Protektionismus nunmehr ins Stocken gerät. SZ
Von Gustav Seibt
Nationen entstanden nicht naturwüchsig aus „Völkern“, die es schon immer gab, sie wurden politisch, kulturell und wirtschaftlich geschaffen, und zwar von oben, von fortschrittlichen Eliten, die Öffentlichkeiten bildeten, Märkte vereinheitlichten, Verfassungen und Bürgerliche Gesetzbücher durchsetzten, Eisenbahnen bauten und Generationenverträge formulierten.
Zu diesen Vorreitern gehörten auch die Dichter und Professoren, die den neuen Nationen schöne Geschichten „erfanden“ (wie man heute gern sagt), in denen sie zurückdatiert wurden bis zu mythischen Anfängen. Das gibt es bis heute: „Was ist deutsch?“ heißt der aktuelle, sympathische Schmöker des Germanistikprofessors Dieter Borchmeyer mit seinem verheißungsvollen Untertitel „Die Suche einer Nation nach sich selbst“. Als ob es die Nation schon gegeben hätte, bevor sie sich selbst „suchte“!
Wer hier skeptisch ist, muss auch die junge Disziplin der Globalgeschichte („Global History“) kritisch befragen. Sucht sie nicht, was sie längst gefunden hat: die immerwährende Verbundenheit aller Menschen auf dem Globus? Vor dem Internet gab es Telegrafen und Kabel, ja die Feuersignale zur Verbreitung einer Nachricht, mit denen schon die „Orestie“ des Aischylos vor 2400 Jahren begann. „Migration“ hieß früher „Völkerwanderung“, später „Europäische Welteroberung“ und überwand mühelos Steppen und Weltmeere.
Nachschublinien verliefen über die Seidenstraße, der Sklavenhandel bildete ein afrikanisch-amerikanisches „System“, gelenkt von arabischen Händlern und iberischen Seefahrern. Am Ende steht eine einheitlich bunte, allseitig vernetzte Weltgesellschaft aus Easy-Jettern, Instagrammern, Investmentbankern, Studenten, Kreativen und Aktivisten.
Hat diese neue globale Klasse ein Geschichtsbewusstsein? Wer sind ihre Uhlands, Treitschkes und Gustav Freytags, ihre Dichterhistoriker also, die von heute aus die Vergangenheit so formen, wie ihre Vorläufer es für die Bildungsbürger im 19. Jahrhundert taten? Wer ist ihr Borchmeyer? Vermutlich Yuval Noah Harari und andere „Big Historians“, die gern Impulsreferate auf TED-Konferenzen abliefern und für ihre Vorlesungen den Hörsaal mit Youtube vertauschen. Hararis „Sapiens“ („Eine kurze Geschichte der Menschheit“, deutsch 2013) war das erfolgreichste Weltgeschichtsbuch der letzten Jahre, schon darum musste der Autor soeben mit „Homo Deus“ nachlegen, einer Geschichte der Zukunft.
Die „Big History“ ist allerdings keine ausschließlich geschichtswissenschaftliche Disziplin. Sie verknüpft Zivilisationsgeschichte mit Evolution und Anthropologie, es geht ihr um den Menschen („Sapiens“) als Ausnahmewesen der Natur. Die wichtigste Frage, die sie stellt, lautet: Warum bilden Menschen nicht nur tribale Kleinverbände aus, sondern Städte, Staaten, Großreiche und Zivilisationen, im Gegensatz zu allen anderen Naturwesen? Wie geht das, Gesellschaften zu bilden, in denen sich nicht mehr alle persönlich kennen, am Ende gar eine Weltgesellschaft?
Dafür entwickelt das Gattungswesen Sapiens komplexe Wissens- und Zeichensysteme, dazu einen unvergleichlich gesteigerten Stoffwechsel mit der Natur. Solche Überlegungen passen zu unserer globalisierten Gegenwart, die sich ums Internet, um Welthandel und Ökologie dreht. Vom Faustkeil bis zur künstlichen Intelligenz schreibt die Big History eine Geschichte der Steigerungen - es gibt keine passendere Lektüre für Interkontinentalflüge. Identitäre Verhocktheiten, religiösen Fundamentalismus, Kampf der Kulturen kann die Big History nur wegschnippen wie Fliegendreck. Hass erklärt sie biologisch als einen Steinzeitüberrest.
So groß und schnittig ist die Globalgeschichte, oft verstanden als Geschichte der Globalisierung, nie gewesen. Schon den Singular lehnt sie ab, sie spricht nur noch im Plural von Globalisierungen. Damit macht sie klar, dass historische Raumausdehnungen von „Interkonnektivität“ in Wanderungsbewegungen, Handelsströmen, Großreichen und Weltreligionen nie unumkehrbar waren. Auf das Römische Reich folgten der Feudalismus und das oft chaotische europäische Mächtesystem mit seinen vielen Sprachen. Das Ende des Kalten Kriegs führte nicht nur zu Grenzöffnungen, sondern auch zu einer fragmentierten Staatengesellschaft an der ehemals sowjetischen Peripherie. Global sind heute Pop und Textilien, aber nicht der Rechtsstaat und der Schutz der Menschenrechte, übrigens auch noch nicht das Internet. Großreiche und See-Imperien konnten auch erstaunlich kurzlebig sein, man denke an Mongolen und Portugiesen.
Heute stellen viele Menschen Fragen oder lesen Bücher wie „Was ist deutsch?“ nicht trotz, sondern wegen der Globalisierung. Insofern ist die Globalgeschichte auf die Rückschläge vorbereitet, über die derzeit diskutiert wird: Kein Fortschritt ohne Fortschrittsfeinde, das wusste schließlich schon die Umweltgeschichte. Trotzdem steht die „Global History“ auch im Verdacht der Ideologie, die der globalen Klasse ein falsches Bewusstsein vermittelt.
Kulturell prämiert die Globalgeschichte nämlich stets Vermischung und Vernetzung. Der Vielfalt der Sprachen und Völker setzt sie das Idiom Globish entgegen, die eher öde angelsächsische Einheitssprache der internationalen Forschung. Der Historiker Jeremy Adelman, Direktor des „Global History Lab“ der Princeton University, hat kürzlich in einem polemischen Essay, „What is global history now?“, diese Gegenrechnung aufgemacht und auch darauf hingewiesen, dass die überwältigende Masse historischer Forschung immer noch den nationalen Vergangenheiten gilt.
Jürgen Osterhammel, der führende deutsche Vertreter der Globalgeschichte, hat in seinem äußerst lesenswerten neuen Aufsatzband „Die Flughöhe der Adler“ die Unterschiede von Globalgeschichte und Geschichte der Globalisierung ausbuchstabiert. Globalgeschichte ist eine bestimmte Hinsicht auf die Vergangenheit, ein Blick auf Gleichzeitigkeiten und simultane Querschnitte im planetarischen Maßstab; sie muss keineswegs immer in langen Entwicklungen denken, mit aller Fracht von scheinbarer Notwendigkeit. Darum schätzt sie Vergleiche ebenso hoch wie Verbindungen.
Folglich achtet eine solche Globalgeschichte genauso auf Unterschiede wie auf Konvergenzen. Sie muss keinen Prozess zu einer einheitlichen Weltgesellschaft unterstellen. Im Gegenteil, sie kann eine geschärfte Wahrnehmung für Abweichungen und Ausbrüche entwickeln: Warum eroberte Europa die Welt und nicht das zivilisatorisch ebenso entwickelte China? Wieso entstanden hier Kapitalismus und Industrialisierung? Wann und warum öffnete sich die große Wohlstandsschere zwischen dem „Westen“ und dem „Rest“? Eine intelligente Globalgeschichte kann auch alle Zweifel aufnehmen, die der Globalisierung derzeit entgegenschlagen: Was verliert man, wenn man den Nationalstaat aufgibt zugunsten von Weltmarkt, Weltfirmen und Nichtregierungsorganisationen, die sich ihre Gesetze selber schreiben?
Globalisierungen sind also nur ein Teilgebiet der Globalgeschichte. Ein äußerst wichtiges allerdings, das keineswegs nur helle Seiten hat, wenn man an die Verbreitung von Infektionskrankheiten wie Pest, Cholera und Syphilis über den Erdball denkt, an die damit verbundene Ausrottung ganzer Populationen, neben der Globalisierung von Pflanzen- und Tierwelt. Kluge Globalgeschichte kann mühelos auch mikrohistorisch vorgehen: In Akten der Stadt Bern fand beispielsweise der Mediävist Arnold Esch die Spuren von Schweizer Bergbauernsöhnen, die als Soldaten 1526 das päpstliche Rom plünderten, um wenige Jahre später als Söldner der Spanier am Untergang des Inka-Reichs mitzuwirken - Karl-May-Romane der frühneuzeitlichen Globalisierung.
In brandenburgischen Dorfkirchen des 13. Jahrhunderts fand man jüngst byzantinische Schalltöpfe: aus Ton geformte Hohlräume in Gebäudezwickeln, die dazu dienten, die Stimmen der Pfarrer zu verstärken - diese Technik muss von Kreuzrittern aus dem Heiligen Land mitgebracht worden sein. Aber änderte sie viel am dörflich beschränkten Lebenskreis damaliger Bauern? Wohl kaum. Das Globalste, was sie hatten, waren eben Kirchen und Priester.
Die frühere Weltgeschichte sonderte „Völker und Kulturen“, die erst spät und nacheinander zusammenfanden; „Eintritt in die Weltgeschichte“ hieß das in alten Sammelwerken, was meist auf europäische Kolonisierung hinauslief. Die Big History dagegen spricht vom Menschen als Gattungswesen, dessen Differenzen vernachlässigenswert erscheinen. Die Globalgeschichte liegt vernünftigerweise genau zwischen diesen Konzepten. Sie vermeidet ideologische Vorstellungen von der Einen Welt ebenso wie statische Konzepte von kulturellen Individualitäten. Ihr Feld liegt also zwischen den beliebten Fragen „Was ist der Mensch?“ und „Was ist deutsch?“.
Süddeutsche Zeitung, Montag, den 24. April 2017, Seite 9
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