Jan 08, 2017 22:28
Ganz weit vorne
Live-Übertragungen von Sportereignissen sollen Virtual Reality massentauglich machen. Die Technologie könnte darüber hinaus weitere Sparten der Medienbranche grundlegend verändern
Von Jürgen Schmieder
Natürlich ist es eine Farce, die außerweltlichen Fähigkeiten von Roger Federer auf einem zweidimensionalen Fernsehschirm zu betrachten - das ist, als würde einem jemand eine Mozart-Sinfonie auf der Maultrommel vorspielen. Die über und hinter der Grundlinie angebrachte Kamera verlangsamt die Bewegungen, verpasst die Grazie und verzerrt die grotesken Winkel der Grundschläge. Wer die Kunst des besten Tennisspielers der Geschichte erleben, ja begreifen möchte, der muss live dabei sein. Auf Höhe des Netzes, ganz unten, direkt neben dem Spielfeld.
Die nächste Gelegenheit sind die Australian Open, doch braucht es dafür ein Flugticket nach Melbourne und eine 200-Euro-Eintrittskarte für die Rod-Laver-Arena. Die bequemere und billigere Variante wäre die Anschaffung einer Virtual-Reality-Brille: Besuch bei Federers Erstrunden-Partie, ein Plätzchen am Spielfeldrand des Basketballvereins San Antonio Spurs oder in der Ringecke bei einem Boxkampf. Anbieter NextVR hat im Sommer bereits die Bundesliga-Partie FC Bayern gegen Werder Bremen in virtueller Realität übertragen.
Virtual Reality (VR) gilt als Heiliger Gral der Unterhaltungsindustrie, aus dem derzeit jedoch fast ausschließlich die Computerspiele-Industrie trinkt und in diesem Jahr mit VR etwa eine Milliarde Dollar umsetzen wird. Die anderen Sparten der Medienbranche verhielten sich bislang zurückhaltend. „Der Kunde muss etwas erleben, was ohne Virtual Reality nicht möglich wäre - dann investiert er in Brillen und Inhalte“, sagt Brian Krzanich. Der Chef des Chipherstellers Intel hat sich gerade für 170 Millionen Dollar die VR-Firma Voke gegönnt und verkündet nun auf der Technologiemesse CES in Las Vegas den Beginn der Revolution: „Live-Übertragungen von Sportereignissen sind der Katalysator für den Massenmarkt.“ Laut der International Data Corporation wurden im vergangenen Jahr acht Millionen VR-Headsets verkauft, diese Zahl soll sich 2017 mehr als verdoppeln und bis 2020 auf 76 Millionen steigen.
Wer sich das Gerät Oculus Rift VR aufsetzt, der glaubt tatsächlich, dass ihn jemand in der Basketballarena der Villanova University abgesetzt hat. Auf Höhe der Mittellinie, ganz unten, direkt neben dem Spielfeld. Die Partie gegen die Butler Bulldogs wird live übertragen, der Zuschauer kann sich auch hinter dem Korb positionieren - was Mitte der ersten Halbzeit dazu führt, dass er einmal Angst haben muss, über den Haufen gerannt zu werden. Für die schreckhaften Gäste liegen deshalb weiße Kotztüten bereit, eine Mitarbeiterin hat vorher eine freundliche und verständnisvolle Einführung gehalten, sie hätte aber auch einfach sagen können: „Wem übel wird, der nimmt das verdammte Ding einfach ab!“ Die Übertragung verläuft ohne erkennbaren Zwischenfall.
Konkurrent Next VR präsentiert dienstags das NBA-„Spiel der Woche“ in VR. „Es gibt bei jeder Partie zehn Kameras in verschiedenen Positionen“, sagt Produzent Matt Drummond: „Derzeit transportieren wir das Equipment von einer Arena zur anderen, wir werden aber demnächst gewaltig aufrüsten und können dann mehr Spiele und auch Ereignisse aus anderen Ligen übertragen.“ Er will keine Zahlen nennen, Anbieter und Beobachter sprechen von „ein paar Tausend Zuschauern“ pro Partie. Schuld an diesen überschaubaren Werten ist, dass eine Live-VR-Übertragung zwar nicht wirkt wie Mozart auf der Maultrommel - es ist aber auch kein Philharmonie-Konzert im Opernhaus von Sydney. Es ist prickelnd und faszinierend, die Akteure sehen dennoch bisweilen aus wie 3-D-Pappkameraden, bei schnellen Kopfbewegungen sind noch Bildwackler zu erkennen. Dazu muss der Zuschauer nicht nur eine virtuelle Eintrittskarte (ein VR-NBA-Spiel kostet etwa zehn US-Dollar) kaufen, sondern auch ein Gerät, von denen die hochwertigen Exemplare derzeit mehr als 400 Dollar kosten. „Die Brillen werden immer besser und günstiger, die Verbindungen schneller“, verspricht Krzanich: „Was wir heute sehen, ist nur ein Teil dessen, was bald möglich sein wird.“
Was bald möglich sein soll: Der Zuschauer sitzt auf der Fashion Show in New York neben Vogue-Chefredakteurin Anna Wintour, bei der Oscar-Verleihung neben Brad Pitt oder bei einem Basketballspiel von Dirk Nowitzki neben Dallas-Mavericks-Besitzer Mark Cuban. Der sagt: „Solange die Stimmung in der Arena dadurch nicht getrübt wird, bin ich ein Fan dieser Technologie - zumal es für mich auch wirtschaftlich sinnvoll klingt. Wenn 10000 Menschen drei Dollar für einen virtuellen Platz in der ersten Reihe bezahlen, dann verzichte ich doch gerne auf die 300 Dollar, die ich sonst dadurch einnehmen würde.“
Virtual Reality soll sich lohnen für Anbieter und Zuschauer, dürfte gerade deshalb aber auch interessant werden für Sportarten, die derzeit mangelnde TV-Präsenz beklagen; senderunabhängig könnten sie eigene VR-Erlebnisse schaffen und über den Mittendrin-Effekt eine Renaissance erleben. Die Technologie könnte darüber hinaus mehrere Sparten der Medienbranche grundlegend verändern: Journalisten können Virtual-Reality-Reportagen produzieren, wie etwa die New York Times in ihrer eigenen VR-Abteilung - keine 360-Grad-Videos, sondern volle Virtual-Reality-Erlebnisse. Es wird interaktive Fernsehserien geben, bei denen der Zuschauer per Kopfbewegung aus unterschiedlichen Handlungen wählen kann.
„Sportereignisse werden den Weg ebnen für die virtuelle Revolution“, sagt Drummond: „Das sind die Events, bei denen die Menschen live dabei sein wollen - bestenfalls im Stadion, so nahe wie möglich.“ Die Natur hat den Menschen ein Wesen wie Roger Federer geschenkt. Die Technologiebranche schenkt ihnen nun ein Gerät, über das sie einen der zauberhaften Auftritte erleben können. Von der Couch aus und dennoch auf Höhe des Netzes. Ganz unten, direkt neben dem Spielfeld.
Süddeutsche Zeitung, Montag, den 09. Januar 2017, Seite 21
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