Buch mit Blutspur Man trug sie über dem Herzen, man nahm sie mit zum Morden: Wie die Mao-Bibel China

Dec 09, 2016 10:22

Buch mit Blutspur
Man trug sie über dem Herzen, man nahm sie mit zum Morden: Wie die Mao-Bibel China bis heute prägt

Von Kai Strittmatter

Die Mao-Bibel. Nur in Deutschland wurde das kleine rote Büchlein so genannt. Im Englischen heißt es „the little red book“. Und im chinesischen Original sind es die „Worte des Vorsitzenden Mao Zedong“. Dabei trifft es der deutsche Name recht gut. Es gab einen Erlöser. Einen Glauben. Ein heiliges Buch. Und einen blutigen Kreuzzug gegen die angeblich Ungläubigen.

Das Büchlein war klein, damit man es in der Brusttasche tragen konnte, über dem Herzen. Man las es laut, auf dem Feld, in der Fabrikhalle. Man streckte es sich zum Gruß entgegen. „Dem Volke dienen, Genosse! Ein Pfund Chinakohl bitte.“ Man hielt es den reaktionären Klassenfeinden ins Gesicht, bevor man sie beschimpfte, bespuckte, zu Boden trat. Man drückte es sich ans Herz, jeden Morgen, wenn man vor der Arbeit in der Volkskommune antrat vor dem Porträt des Vorsitzenden, um die „Instruktionen unseres großen Führers zu erbitten“. Und ebenso jeden Abend vor dem Schlafengehen, wenn man an der gleichen Stelle „dem Vorsitzenden Mao Bericht erstatten“ musste.

Man las einander daraus ausgiebig vor. „Alle Reaktionäre sind Papiertiger.“ Oder: „Alle Macht kommt aus den Gewehrläufen.“ Oder: „Eine Revolution ist kein Gastmahl.“ Nein, eine Revolution hatte „ein Gewaltakt“ zu sein (Kapitel 2: Klassen und Klassenkampf). Man hielt das Büchlein in der Hand, wenn man den „Loyalitätstanz“ tanzte, wie das Jung und Alt, Bauern, Arbeiter und Funktionäre im ganzen Land Tag für Tag taten: Mit den Füßen das Schriftzeichen „Zhong“ (Loyalität) nachtänzelnd, die Hände und Gesicht stets gen Himmel gereckt, aus Respekt vor IHM, auf den Lippen die Liebe für IHN, die „rote Sonne in unserem Herzen“.

Wei Yamei war zehn Jahre alt damals, sie erinnert sich auf dem Webportal der Volkszeitung, dem Parteiorgan der chinesischen KP: „Wenn Mädchen wie ich damals mit dem Büchlein in der Hand in einen Bus einstiegen und laut riefen: ‚Die ‚Worte des Vorsitzenden Mao‘ vorzeigen! Alle!‘ - dann mussten alle ihr Exemplar vorzeigen. Wer das nicht konnte, wurde von den anderen kritisiert und nach seiner Klassenherkunft ausgeforscht.“

Das Büchlein war wie ein Amulett. Man trug es auch zum Schutz. „Man konnte aufs Schlafen verzichten und aufs Essen - aber nicht darauf, die ‚Worte‘ alle auswendig vortragen zu können.“ Weis Mutter, Tian Xiaoguang, Redakteurin der Zeitung der Volksbefreiungsarmee, hatte das Buch zusammengestellt. 1964 in einer ersten Version, die an alle Soldaten verteilt wurde. Auf Befehl das Mao-Höflings Lin Biao, damals Armee-Chef. Lin Biao war es, der das Vorwort zu jener berühmten zweiten Ausgabe schrieb, die vor 50 Jahren am 16.Dezember 1966 erschien, und die die ganze Welt erleuchten sollte. Mao, heißt es da, sei „der größte Marxist-Leninist aller Zeiten“, seine Gedanken „eine geistige Atombombe von unermesslicher Macht“. Pech nur für China, dass Mao die Bombe über seinem eigenen Volk zündete.

Der große Denker Mao, dessen Politik während des „Großen Sprungs nach vorn“ (1958 bis 1961) 30 bis 40 Millionen Chinesen das Leben gekostet hatte. Sie verreckten vor Hunger, weil sie oder ihre lokalen Kader an Maos Ideen geglaubt hatten. Der Große Vorsitzende Mao, den die eigenen Genossen wegen dieses Irrsinns Schritt für Schritt beiseite gedrängt hatten. Der große Steuermann Mao, der sich die Macht mit einem noch irrsinnigeren Schachzug wieder holte: mit der Kulturrevolution (1966 bis 1976), in der er seine Jünger, die Jugend des Landes vor allem, auf die eigenen Genossen hetzte.

Als die 1966er Ausgabe erschien, war die Große Proletarische Kulturrevolution noch kein halbes Jahr alt. Sie verwüstete Chinas Seele. Schüler schlugen ihre Lehrer tot, Männer schickten ihre Ehefrauen ins Arbeitslager und Söhne ihre Mütter in den Tod. Und sie alle schwenkten dabei die Mao-Bibel im roten Einband. Die Jungen, die Rotgardisten, waren Mao, ihrem Messias, in blindem Glauben ergeben. China Pictorial, damals eine der vier noch erlaubten Zeitschriften, berichtete 1969 von den „Wundern des Vorsitzenden Mao“. Darin heißt es: „Unter Anleitung der großen Mao-Zedong-Ideen behandelte das Mao-Zedong-Ideen-Ärzteteam der VBA-Einheit 3125 insgesamt 105 Schüler der Taubstummenschule in Fuhsien in Liaoning, woraufhin alle von ihnen ihr Gehör und ihre Sprache wiederfanden. Jetzt können sie alle „Lang lebe der Vorsitzende Mao!“ rufen und die ‚Worte des Vorsitzenden Mao Zedong‘ rezitieren.“

Keiner weiß, wie viel Exemplare des Büchleins bis heute gedruckt wurden. Schätzungen gehen in die Milliarden. Hunderte Druckereien wurden eigens für die Mao-Bibel gebaut. Im Land wurde sogar das Plastik knapp (für den roten Einband) und das Papier. Als nach dem Ende der Kulturrevolution im Jahr 1977 zum ersten Mal wieder Hochschul-Aufnahmeprüfungen stattfanden, da wurde aus den Mao-Bibel-Druckereien Papier abgezweigt, damit die Prüfungsaufgaben gedruckt werden konnten. Heute findet man die Mao-Bibel nur noch in den Händen von Nostalgikern. Aber Maos Porträt hängt noch immer am Tor des Himmlischen Friedens in Peking, sein Bild ziert die Banknoten des Landes, und der neue starke Mann, Parteichef Xi Jinping, hat jede Kritik an Mao, die Aufarbeitung seiner Verbrechen, zum Tabu erklärt.

Mao, der Atheist, der Mann, der seinem Volk einst Religion und Aberglauben austreiben wollte, hat derweil längst selbst Einzug gehalten in die Götterwelt der Volksreligion. Die Pekinger Zeitung Global Times berichtete im vergangenen Jahr von einem Dorf in Gansu, in dem die Bauern unter Anleitung daoistischer Priester und unter Absingen der revolutionären Hymne „Der Osten ist rot“ für den Dorftempel eine Mao-Statue weihten. Es gibt viele solcher Tempel, in denen der Gott Mao nun neben dem Jadegott seinen Platz gefunden hat. Auch Maos Geburtsort Shaoshan ist längst nicht mehr nur revolutionärer Wallfahrtsort, er ist das Lourdes des Mao-Kultes: Pilger bringen den Mao-Statuen dort Opfer, beten an ihrem Fuße für die Geburt eines Jungen oder für die Heilung des kranken Vaters. Die Partei missbilligt das, aber sie hat einst den Boden dafür bereitet.

Süddeutsche Zeitung, Freitag, den 09. Dezember 2016, Seite 2

„Demokratie ist kein Deckchensticken“
Maos Lehren fanden im Westen keinen Anklang, seine Sprüche schon

Am 24. November 1966 erreichte die chinesische Kulturrevolution Berlin. Eine Handvoll Studenten der Freien Universität stürmte eine Veranstaltung des Uni-Präsidenten Hans-Joachim Lieber, der ihren Anliegen keineswegs abgeneigt und sogar als Marxismus-Experte ausgewiesen war. Die Revolutionäre hatten sich mit rot-goldenen Mao-Buttons bewaffnet, die aus der Botschaft der Volksrepublik China in Ost-Berlin stammten, und verteilten Flugblätter mit der Weigerung, „uns von professoralen Fachidioten zu Fachidioten ausbilden zu lassen“.

Eine besonders entschlossene Gruppe gründete am Jahresende nach dem Vorbild der chinesischen Volkskommune die „Kommune 1“. Vier Monate später, im April 1967, wurde sie ausgehoben, weil die Berliner Polizei unterstellte, es werde dort ein Attentat auf den amerikanischen Vizepräsidenten Hubert Humphrey vorbereitet. Für die stramm antikommunistische Berliner Boulevardpresse handelte es sich bei den Tätern um „FU-Chinesen“, die einen „Mao-Cocktail“ hergestellt hätten: „Maos Botschaft in Ost-Berlin lieferte die Bomben.“

Bomben waren es keine, die chinesische Botschaft lieferte vor allem Worte, nicht irgendwelche, sondern die „Worte des Vorsitzenden Mao Tse-tung“, wie Maos Name damals ins Deutsche transkribiert wurde, in leicht abwaschbares rotes Plastik geschlagen, deshalb bald bekannt als „rotes Büchlein“. Es passte in jede Jeans-Tasche und war bei der Suche nach einer passenden Losung jederzeit zu konsultieren. Der große Germanist Peter Szondi klagte 1967, dass die Studenten „heute Maos Sprüche nicht anders zitieren, als es ihre Großväter mit den Sprüchen des Weimarer Dichterfürsten taten“.

Goethe war er nicht, aber der greise Revolutionsheld wurde plötzlich populär. Andy Warhol siebdruckte ihn zur Ikone, gleichauf mit Elvis und Marilyn Monroe. Die Beatles erwähnten ihn, allerdings abwehrend, in ihrem Song „Revolution“. Sergio Leone zitierte ihn als Motto für seinen Film „Todesmelodie“ (im italienischen Original: C’era una volta la rivoluzione, 1971): „Die Revolution ist kein Festessen, kein literarisches Fest, kein Deckchensticken, die Revolution ist ein Akt der Gewalt.“ Sogar Richard Nixon und Henry Kissinger hofierten ihn. Auch der ebenfalls nicht unbedingt kommunistischer Sympathien verdächtige Franz Josef Strauß machte 1975 dem Großen Vorsitzenden seine Aufwartung und kam damit dem kaum weniger faszinierten Kanzler Helmut Schmidt knapp zuvor.

Maos Gedichte erschienen nicht bloß in der eindeutig linken Zeitschrift Kursbuch, sondern auch im Thomas-Mann-Verlag S.Fischer. Der einflussreiche linksliberale Publizist Sebastian Haffner bevorwortete 1966 bei Rowohlt Maos „Theorie des Guerillakrieges“. Der Sinologe und Mao-Übersetzer Joachim Schickel besuchte Carl Schmitt, den Kronjuristen des Dritten Reiches, und tauschte sich mit ihm von links nach rechts über Maos Lehren aus.

Der politische Einfluss Maos im Westen blieb dennoch gering. Zwar orientierte sich ein Teil der entstehenden K-Gruppen nach Peking, aber das Agitieren der Arbeiterklasse erwies sich als mühsam und recht fruchtlos. Auch die sogenannte Rote Armee Fraktion (RAF) konstituierte sich 1970 mit dem Mao-Imperativ „Dem Volke dienen!“, allerdings verstand sie unter diesem Dienst am Volk tatsächlich brutale Gewalt. Im Untergrund studierte Ulrike Meinhof nebenbei Mao und spickte das von ihr verfasste „Konzept Stadtguerilla“ mit seinen Sprüchen. Der Imperialismus und alle Reaktionäre seien nichts weiter als „Papiertiger“, es gelte das Primat der Praxis oder, im besten Carl-Schmitt-Sound: „Zwischen uns und dem Feind einen klaren Trennungsstrich ziehen!“

In den Dreißigern hatte Mao Zedong seine Anhänger durch Krieg und Bürgerkrieg auf einen „Langen Marsch“ geführt, der letztlich erst 1949 endete, als er die Volksrepublik China ausrufen konnte. Rudi Dutschke verwandelte die kriegerische Version in eine Friedensdividende und eröffnete ungeahnte Karrieremöglichkeiten, als er zum langen Marsch durch die Institutionen aufrief. Deshalb traten 1969, als sich das Ende der ersten großen Koalition abzeichnete, viele Studenten trotz der Mao-Bibel in die SPD ein und halfen damit nicht nur ihrem eigenen Fortkommen, sondern sorgten auch dafür, dass Willy Brandt Kanzler wurde.

Noch in Joschka Fischers Selbsterfahrungsschrift „Mein langer Lauf zu mir selbst“ (1999) klingt Maos legendärer „Langer Marsch“ nach. Für Fischer, der kein Maoist war, aber 1968 in Frankfurt mit einigen anderen die Johann-Wolfgang-Goethe-Universität gestürmt hatte, führte der lange Marsch zuletzt ins Außenministerium und in den Jugoslawienkrieg. Im Planungsstab beschäftigte er einen gewissen Joscha Schmierer, den ehemaligen Chef des Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW). 1976, als Mao starb, hatte Schmierer auf einer von 40 Gedenkveranstaltungen noch mal die „immer siegreichen Maotsetung-Ideen“ beschworen: „Die richtigen Ideen der Menschen können nur aus der gesellschaftlichen Praxis herrühren, nur aus dem Produktionskampf, dem Klassenkampf und dem wissenschaftlichen Experiment“ und so dröhndröhn weiter. Das Mao-Experiment war da längst gescheitert, selbst für Schmierer, der zuletzt den Schlächter Pol Pot verehrte. 2001 überschrieb Schmierer einen Rückblick auf sein politisches Leben mit einem update Maos: „Demokratie ist kein Deckchensticken.“

WILLI WINKLER, Süddeutsche Zeitung, Freitag, den 09. Dezember 2016, Seite 2

politik, china, chinesische weiseheit

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