Jul 05, 2016 11:37
So viel Plastik
Tag für Tag landen tonnenweise Kunststoffe in der Umwelt. Es gibt viele Ansätze, den Müll wieder loszuwerden - doch es fehlt der Masterplan
Von Andrea Hoferichter
Plastikmüll kann Anlass zur Freude sein. Zum Beispiel für ägyptische Müllsammler, die von Haustür zu Haustür gehen, um gegen Bezahlung Abfall mitzunehmen. Alte Plastiktüten, -flaschen und Folien sichern ihren Lebensunterhalt. „Kunststoffe machen in Entwicklungsländern zwischen sechs und zehn Prozent des Mülls aus und sind nach Metallen das zweitwichtigste Material für Müllsammler“, sagt Joachim Stretz von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), der in Ägypten ein Projekt zur kommunalen Abfallwirtschaft koordiniert.
Die Müllsammler sortieren die Kunststoffe zu Hause, per Hand oder mit kleinen Maschinen, zerschreddern sie und verkaufen sie dann als Recyclingmaterial. Die GIZ bringt sie mit Verwaltungen und Nichtregierungsorganisationen zusammen, um ihnen ein festes Einkommen und den Kommunen saubere Städte und Dörfer zu sichern. Gleichzeitig sei „das Sammeln die wichtigste Maßnahme, damit Plastik nicht in die Umwelt kommt“, betont Stretz.
Doch obwohl es mittlerweile viele solcher Projekte gibt, werden nur wenige Prozent der etwa 300 Millionen Tonnen Kunststoff, die jährlich weltweit produziert werden, wiederverwertet. Das jedenfalls ist das Ergebnis einer Studie der britischen Ellen MacArthur Stiftung. Plastik ist allgegenwärtig: in Flaschen, Folien, Fensterrahmen, in Kleidung und Kaffeemaschinen, Autos, Computern und Handys. Sogar im Profi-Fußballrasen verbergen sich oft Kunstfasern zwischen natürlich gewachsenen Halmen. Nicht zu vergessen die Plastikverpackungen: der Untersuchung zufolge werden nur fünfzehn Prozent davon gesammelt, lediglich fünf Prozent recycelt. Fast ein Drittel lande in der Natur und bleibt dort für zig oder gar Hunderte Jahre, schreiben die MacArthur-Forscher.
Dort führt der Plastikmüll zum Tod zahlreicher Tiere, die ihn mit Nahrung verwechseln oder sich darin verfangen. Abgesehen davon ist Plastik, das nicht wiederverwertet wird, auch ein wirtschaftlicher Verlustfaktor. Allein die Kunststoffverpackungen verursachen laut Studie einen Verlust zwischen 80 und 120 Milliarden Dollar pro Jahr. Die Autoren fordern eine „neue Plastikwirtschaft“, haben dazu eine internationale Initiative angeschoben und erstmals Ende Mai Vertreter von 40 Unternehmen und Städten an einen Tisch geholt. Ein Ziel ist, die Erdölprodukte möglichst lange im Stoffkreislauf zu halten.
Das will auch der Kanadier David Katz. Mit seinem Projekt Plastic Bank will er Altkunststoffe zu einer Währung machen, die Sammler gegen Geld, Kleidung, Nahrung oder Handyguthaben tauschen können. Oder gegen einen 3-D-Drucker, mit dem sie neue Dinge aus Recyclingplastik herstellen können. In der peruanischen Hauptstadt Lima läuft das Projekt bereits. Als nächstes hat Katz Haiti im Visier. Andere Start-ups recyceln ausgediente Fischnetze zu Skateboards oder bauen aus alten Plastikflaschen Lichtfallen für dunkle Slumhütten und sogar für ganze Häuser.
Henning Wilts vom Wuppertal Institut ist trotzdem skeptisch. „Von der Abfall- zur Kreislaufwirtschaft, das hört sich natürlich gut an, aber wie kommen wir dahin?“, fragt er. „Und wie können wir erkennen, dass wir auf dem richtigen Weg sind?“ Ein gewaltiges Problem sei die Vielfalt der Kunststoffe. „Zurzeit fließt eine Menge Geld in Projekte gegen Plastikmüll, aber es fehlt eine übergeordnete Koordination, eine Instanz für Kreislaufwirtschaft, die verbindliche Standards festlegt“, moniert er. Bisher gebe es so etwas nicht einmal auf nationaler Ebene.
Besonderes Kopfzerbrechen bereitet das sogenannte Mikroplastik. Gemeint sind Kunststoffkrümel, die kleiner als fünf Millimeter sind und sich eben nicht so einfach einsammeln lassen wie Flaschen oder Tüten. Sie entstehen, wenn größere Plastikteile spröde werden und zerbrechen, können aber auch direkt aus der Kunststoffindustrie oder als Abrieb von Autoreifen in die Umwelt gelangen. Andere lösen sich beim Waschen aus synthetischen T-Shirts, Hosen oder Fleecejacken. Und wegen ihrer Schmirgelwirkung stecken die Plastikteilchen auch in Zahnpasten, Duschgels und Peelings. Mit dem Abwasser strömen sie in Flüsse und Meere. Die meisten Kläranlagen können sie nicht aufhalten.
Mikroplastik wurde schon in Muscheln, Fischen, Honig, Bier und Mineralwasser nachgewiesen. Mitunter enthalten die Teilchen zusätzlich ökologisch bedenkliche Additive, zum Beispiel Weichmacher oder Flammschutzmittel. Zudem bleiben an ihnen wegen ihrer großen Oberfläche weitere Schadstoffe und auch Keime kleben. Ob das gesundheitliche Folgen hat, versucht zurzeit das Bundesinstitut für Risikobewertung herauszufinden. Eine Schwierigkeit dabei ist, dass es keine Analysemethoden gibt, mit denen sich feststellen lässt, wie stark bestimmte Produkte belastet sind.
„Es ist schwer zu erfassen, wie groß das Problem ist“, sagt Ulrike Braun von der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM). „Es gibt weder einheitliche Kriterien für die Probenentnahmen, noch für die Aufbereitung oder Analysen.“ Mikroplastik sei etwa in Bodenproben kaum von den chemisch sehr ähnlichen natürlichen Polymeren wie Holz oder Zellulose zu unterscheiden. Zudem würden „manche Stoffe wie der Reifenabrieb mit gängigen analytischen Methoden überhaupt nicht erfasst“, sagt die Chemikerin. Um Abhilfe zu schaffen, hat Brauns Team ein neues Analyseverfahren entwickelt: Dabei werden die Proben erhitzt; Menge sowie Art der enthaltenen Kunststoffe erkennen die Wissenschaftler dann an den Zersetzungsprodukten, die dabei entstehen. In einem aktuellen vom Bundesforschungsministerium geförderten Projekt soll die Methode zur Anwendungsreife gebracht und automatisiert werden.
Auch über die Additive - also die Zusatzstoffe, die Plastik oft enthält - ist bisher wenig bekannt. „Da muss man schauen, was überhaupt in welchen Produkten drin ist, und ob die Substanzen eine maßgebliche Rolle in der Umwelt spielen“, sagt Braun. Flammschutzmittel etwa stecken vor allem in Baumaterialien, die wahrscheinlich nicht in großen Mengen in der Natur landen. Angesichts der zurzeit dünnen Datenlage wünscht sich Braun mehr Ratio und weniger Drama.
Doch die Bilder von Plastikstrudeln im Meer, zugemüllten Stränden und verendeten Tieren sind beklemmend. „In manchen Wasserproben haben wir mehr Plastik als Plankton gefunden“, berichtet Thilo Maack von der Umweltschutzorganisation Greenpeace. Vor allem Wassersportler, die den Unrat häufig direkt vor Augen haben, initiieren zurzeit zahlreiche Vorhaben, um wenigstens einen Teil des Plastikmülls wieder aus den Ozeanen herauszufischen: von Schiffen aus oder mit netzbestücken Drohnen. In Häfen werden pumpenbetriebene Filter eingesetzt; dort, wo Wasser besonders kräftig strömt, an den großen Ozeanstrudeln und an Flussmündungen, versucht man den Müll mit textilen Barrieren zu beseitigen.
Maack setzt lieber auf Vorsorge. „Wenn eine Badewanne überläuft, dreht man ja auch erst den Hahn zu und fängt dann mit dem Aufwischen an“, sagt er. Mikroplastik in Kosmetika zum Beispiel müsse sofort verboten werden. Und wer achtlos Kunststoff in die Umwelt werfe, solle mit drakonischen Geldstrafen rechnen müssen. Plastiktüten und viele Verpackungen seien zudem schlicht überflüssig und könnten leicht eingespart werden. „Da ist auch jeder Einzelne gefragt, verantwortlich zu handeln“, betont der Meeresbiologe.
Doch auch das Plastikfasten ist gar nicht so einfach. Das hat eine Studie des Wuppertal Instituts im Auftrag des Naturschutzbundes Nabu ergeben. 24 Familien versuchten, zwei Wochen komplett auf Plastik zu verzichten. „Das ist bestenfalls was für Leute mit sehr viel Zeit“, sagt Projektleiter Wilts. Zudem schneiden vermeintliche Alternativen oft nicht besser ab. „Die Ökobilanz einer Papiertüte ist nicht unbedingt günstiger als die einer Plastiktüte“, betont er. Viele Lebensmittel würden ohne Folienhülle schneller verderben. Autos ohne Kunststoff sind schwerer, verbrauchen mehr Treibstoff und befeuern damit den Klimawandel. Auch bioabbaubare Kunststoffe lösen das Problem nur bedingt: Sie sind nicht für jede Anwendung geeignet und zersetzen sich oft nur bei höheren Temperaturen in Kompostieranlagen.
Die Nabu-Studie zeigt aber auch, was helfen könnte: der Einsatz von weniger und dünneren sowie von Mehrwegverpackungen; Gebühren für Plastiktüten oder gleich ein Verbot. Außerdem das Prinzip „Reparatur statt Neukauf“, etwa wenn es um kunststoffhaltige Elektrogeräte geht. Und es bleibt ein winziger Hoffnungsschimmer, dass die Natur sich selber hilft, und irgendwann lernt, Plastik abzubauen. Schließlich war auch Holz nicht von Anfang an biologisch abbaubar. Erst vor 300Millionen Jahren entwickelten sich Pilze, die Lignin zersetzen konnten. Tatsächlich haben Forscher schon Organismen gefunden, die stabile Kunststoffbindungen knacken können. Pilze, die Schaumstoff zerlegen, Mehlwürmer, die sich über Styropor hermachen und Bakterien, die das Flaschenmaterial Polyethylenterephtalat (PET) abbauen. Doch bisher sind das nur Einzelfunde. Und die Mikroben künstlich zu vermehren und in der Natur auszusetzen, wäre ein gewagtes Freilandexperiment mit unbekanntem Ausgang.
Trotz vielversprechender Ideen gibt es also kein Patentrezept für das Problem. „Wir fangen erst langsam an zu verstehen, wie groß die Herausforderung wirklich ist“, sagt Wilts.
Süddeutsche Zeitung, Montag, den 04. Juli 2016, Seite 16
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