Jul 22, 2014 11:51
Wunnikliches Paradis
Von Schulz, Matthias
Wann endete das Mittelalter? Eine Ausstellung am Bodensee wagt eine erstaunliche Umdatierung.
Über 700 "Hübschlerinnen" (vulgo: Prostituierte) reisten an. Es kam der Chef der Sorbonne, auch die Königin von Bosnien, 73 Bankiers sowie Bäcker aus Oberitalien mit mobilen Öfen, in denen eine Art Pizza garte. Papst Johannes erschien auf einem weißen Pferd. Den weitesten Weg hatte die äthiopische Delegation.
November 1414: Unter dem Ansturm von 33 Kardinälen, 275 Bischöfen, 1700 Akrobaten und Musikern sowie weiterem Volk verwandelte sich Konstanz in einen brodelnden Kessel. König Sigismund hatte zum Konzil gerufen.
Dreieinhalb Jahre dauerte das Gipfeltreffen, das alle Rekorde schlug. Bis zu 150 000 Gäste strömten herbei. Selbst Weinfässer dienten als Unterkunft.
Am Ende waren zwei Ketzer verbrannt, Millionen Bierkrüge geleert, und das Hauptziel der Zusammenkunft war erreicht: Die Kuttenträger Europas hatten alle drei zu jener Zeit regierenden Päpste entmachtet und gemeinsam einen vierten neu gewählt. Die Einheit der Kirche war wiederhergestellt.
Oder passierte 1414 bis 1418 noch weit mehr? Geht es nach Harvard-Professor Stephen Greenblatt, krachte damals eine ganze Epoche zusammen. Am Bodensee, schreibt er in seinem Buch "Die Wende", endete das Mittelalter. Nicht die Entdeckung Amerikas oder Luthers Thesenanschlag läutete demnach die Neuzeit ein, sondern - schon rund hundert Jahre früher - die opulente Tagung im Alpenvorland.
Diese Sicht macht sich nun auch eine Ausstellung zu eigen, die derzeit an der Urstätte des Geschehens läuft, im 1391 fertiggestellten Konzilgebäude von Konstanz. 350 Exponate bieten die Macher auf. Nowgorod lieferte ihnen Ikonen. Eine Polizeieskorte brachte den Stab eines Gegenpapstes aus Spanien.
"Unmassen des gerade erst erfundenen Papiers wurden auf dem Konzil beschrieben", erklärt Museumschef Harald Siebenmorgen, "die Leute verabredeten sich erstmals mittels mechanischer Uhren." Pulvergestützte Schusswaffen kamen auf. Und auf den Meeren begann die Zeit der großen Eroberungen.
"Der Horizont erweiterte sich", so Siebenmorgen, "der Mensch wurde sich selber zum Maß aller Dinge."
Kaum jemand verkörperte das neue Lebensgefühl besser als der Raufbold und Barde Oswald von Wolkenstein. Er weilte als Berater des deutschen Königs bei der Versammlung. Zwischendurch, 1415, nahm er an Bord eines portugiesischen Kaperschiffs an der Erstürmung Ceutas in Nordafrika teil. Zurück in Konstanz lobte er die vor Fremden berstende Stadt als "wunnikliches paradis".
Nur die Bordelle waren ihm zu teuer: "Denk ich an den Bodensee / tut mir gleich der Beutel weh."
Die Gottesdiener selbst fällten zukunftsträchtige und fast modern anmutende Entscheidungen. Erstmals stimmten sie nach "nationes" ab. Mit einem anderen Dekret schränkten sie die Allmacht des Papstes ein und setzten ihm ein Kontrollorgan vor - ein Schritt in Richtung Parlamentarismus.
An Fischbuden, die geräucherte Barsche verkauften, trafen Dänen auf spanische Gelehrte, orthodoxe Byzantiner liehen sich Geld bei "Wechslern aus florentz" (ein Chronist). Auch das gab neue Impulse. Messen und Hochfeste wurden gefeiert. Die einen bestreuten die Gassen mit Gras. Andere rollten Wandteppiche aus, trugen kiloschwere Kerzen, oder sie beteten unter bunten Baldachinen.
Musikalisch wirkte die Völkervielfalt ebenfalls befruchtend. Papst Johannes brachte sieben Spitzensänger aus dem Süden mit. Sigismund konterte mit quäkenden Schalmeien und "prusuner" (Zugtrompeten und Posaunen). Die Engländer überraschten mit nie gehörtem "süssem gesang". Ihr Vortrag war mehrstimmig - Tenor, Mittelstimme, Diskant. Am Ende verschmolzen die Klänge zu einem neuen "internationalen Stil", wie der Musikwissenschaftler Burkard Wehner meint.
Den größten Schub nach vorn aber gaben jene 1900 überwiegend italienischen Protokollanten, Schreiber und Doktoren, die während der Sitzungspausen in die heruntergekommenen deutschen Klosterbibliotheken ausschwärmten. Dabei entdeckten sie unbekannte Cicero-Reden. Vitruvs vergessene "Architectura" kam ans Licht und auch - größter Knaller - das Lehrbuch "De rerum natura" des Lukrez.
Es ist dieses eine Werk, das Greenblatt zufolge ein "explosionsartiges" Interesse am Altertum auslöste. Kuriere brachten das Pergament nach Florenz, wo sich umgehend Zirkel bildeten, die philosophierend das Diesseits genossen und durch Lustgärten wandelten.
Die Renaissance war geboren.
Selbst das Todesurteil gegen den Reformator Jan Hus passt noch ins Bild. Zwar wurde der Böhme am Bodensee zum Feuertod verurteilt. Seine verkohlten Knochen warf man zerstampft in den Rhein. Doch ganz so düster, wie es scheint, war die Tat nicht. Hus war ein Tugendfanatiker und Frauenfeind. Er plante einen Gottesstaat, in dem nur Menschen ohne Sünde Ämter erhalten sollten.
DER SPIEGEL 20/2014, 12.5.2014
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